Blutung wegen Uterusatonie?
Hirschmüller resümiert: »Sowohl nach Aufnahme der Patientin im Krankenhaus als auch nach manueller Plazentalösung gab es keine verstärkte Blutung.« Er richtet sich weiter an die Gynäkologin, die in ihrem Gutachten als Ursache für den Tod der Frau eine Blutung aufgrund einer Uterusatonie nach der Geburt angenommen hatte: »Stützen die klinischen Unterlagen Ihre Vermutung oder stehen sie dagegen?« Der Strafverteidiger weist darauf hin, erstmals seien Blutungen hier dokumentiert worden: »Um 10.45 Uhr telefonische Info über eine starke vaginale Blutung«. Hirschmüller formuliert bedächtig seine Frage: »Können Sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ausschließen: Wenn Sie die Unterlagen anschauen, sprechen sie für eine andere Ursache?«
Er zitiert weiter aus dem OP-Bericht der Klinik, nachdem das Abdomen-CT durchgeführt worden war: »Bei Palpation des Abdomens Auslaufen eines Blutschwalls von vaginal.« Nübel stellt fest, dass ein DR 1° in der Regel nicht stark blute und dass die Patientin keine weiteren Geburtsverletzungen hatte. »Daraus schließen Sie, dass es nur eine Uterusatonie gewesen sein kann?«, fasst der Strafverteidiger zusammen. Nübel schätzt, dass die Mutter mindestens 2,2 l Blut verloren haben müsse. Hirschmüller fragt die Gutachterin nach dem aktuellen wissenschaftlichen Stand, mit welcher Methode das Blutvolumen berechnet wird. Die Frauenärztin geht bei ihrer Berechnung gegen Ende der Schwangerschaft von 65 ml pro Kilogramm Körpergewicht + 50 % aus. Hirschmüller hakt nach: »Ist auszuschließen, dass ein lebensbedrohlicher Zustand erst nach Einlieferung in die Klinik eintrat?« Nübel entgegnet, schon zu Hause sei der Zustand der Mutter lebensbedrohlich, sie sei reanimationspflichtig gewesen.
»War die Menge von Jonosteril lege artis? Welche Auswirkungen hat sie auf die Gerinnung?«, fragt der Verteidiger weiter. Nübel erläutert, bei einem Schock müsse man abwägen. Die Patientin habe zu Hause 1.000 ml Jonosteril erhalten, im Rettungswagen 1.500 ml und später in der Klinik noch mehr. Hirschmüller fragt nach der Behandlung in der Klinik: »Können Sie ausschließen, dass es zu Insuffizienzen kam?« Nübel erwidert: »Ich kann es nicht ausschließen.« Er fragt weiter, ob sie nach dem Gesamteindruck der Unterlagen den Eindruck habe, die Situation sei richtig eingeschätzt worden? Die Gutachterin antwortet, die Patientin sei zeitnah gynäkologisch behandelt worden, »sie war instabil« und habe stabilisiert werden sollen, beispielsweise durch die Gebärmutterentfernung.
Hirschmüller fragt, was bei einer Klinikgeburt anders gemacht worden wäre. Nübel führt an, dass die Plazentarperiode prophylaktisch aktiv mit Oxytocingabe geleitet worden wäre. Der Verteidiger fragt weiter, ob es fehlerhaft sei, kein Oxytocin einzusetzen, ob es den wissenschaftlichen Standard der Geburtshilfe unterschreite. Nübel erläutert, 3 IE Oxytocin post partum sei der beste Weg. Ob es in der Hausgeburtshilfe dazu Vorschriften gebe, fragt er weiter. Sie sei bislang nie hausgeburtlich tätig gewesen, bekennt Nübel.
Fragen von der Angeklagten
Nun fragt die angeklagte Hebamme die Gutachterin zum Mutterpass und den Problemen bei der ersten Geburt: »Gehen Sie von Komplikationen aus, wenn sie nirgendwo im Mutterpass dokumentiert sind?« Diese würden die behandelnden niedergelassenen Frauenärzt:innen dort eintragen, erläutert die Sachverständige. »Von der letzten Geburt ist dort kein pathologischer Befund dokumentiert«, hakt die Angeklagte nach. Der Vorsitzende Richter unterbricht die Angeklagte, weil diese Frage sinngemäß schon ihr Verteidiger gestellt hatte und die letzte Bemerkung nicht als Frage formuliert ist. Als die Hebamme ihren angefangenen Satz nicht sofort abbricht, wird Große Feldhaus laut: »Wenn ich rede, rede nur ich!« Eine weitere Frage der Angeklagten zur angenommenen Makrosomie des in der 42. Schwangerschaftswoche mit 4.220 g gesund geborenen kleinen Jungen beanstandet der Vorsitzende ebenfalls, obwohl die Fragen des Verteidigers dazu anders gelagert waren.
Die Hebamme fragt die Gutachterin: »Können Sie den Unterschied zwischen Übertragung und Terminüberschreitung definieren?« Da sei kein Unterschied, entgegnet die Gynäkologin, die bei der Erläuterung ihres Gutachtens immer von Übertragung gesprochen hatte, wenn sie Terminüberschreitung meinte.
»Wie wird die Diagnose Fruchtwasserembolie gestellt?«, fragt die Hebamme. »Als Ausschlussdiagnose«, erklärt Nübel. »Auch wenn der Nachweis von Fruchtwasser fehlt?« Wieder geht der Vorsitzende dazwischen. Hirschmüller stellt auch noch eine Frage: »Sie erwähnten, der Notruf hätte frühzeitiger erfolgen sollen. Zu welchem Zeitpunkt wäre er unabdingbar gewesen?« »7.10 Uhr allerspätestens«, entgegnet Nübel. Hirschmüller fährt fort: »Spätestens bei Einsetzen der Reanimationsmaßnahmen ist der Zeitpunkt nicht mehr zu diskutieren.« »Ja«, stimmt Nübel zu. Welchen Unterschied es gemacht hätte, »wenn der Notruf 22 Minuten früher abgesetzt worden wäre?«, möchte er wissen. Nübel betont: »22 Minuten können entscheidend sein. Für eine schockige Patientin ist das eine lange Zeit.« »22 Minuten früher hätten den Exitus verhindert?«, fragt der Strafverteidiger nach. Nübel schätzt, beim Eintreffen im Krankenhaus habe sich die Patientin »in einem relativ infausten Zustand« befunden. »Wie hoch war die Wahrscheinlichkeit, dass sie nicht überlebt?«, fragt er weiter. »Ich kann das nicht sagen, ich bin keine Hellseherin«, antwortet die Gutachterin. Gegen 16.20 Uhr geht der intensive Sitzungstag zu Ende.
Nach Terminüberschreitung in die Klinik
Am 28. August, dem vierten Verhandlungstag, hat sich um 9 Uhr im Landgericht als Zeugin die Hebamme eingefunden, die die verstorbene Mutter bei ihrer ersten Schwangerschaft betreut hatte. Der Vorsitzende Richter möchte sie von der Schweigepflicht entbinden. Die Witwe der verstorbenen Mutter nickt zustimmend, ebenso Staatsanwalt Jens Zieslak.
Richter Große Feldhaus eröffnet die Vernehmung: »Hat sich die verstorbene Mutter einmal an Sie als Hebamme gewandt?« Als sie mit ihrem ersten Kind schwanger gewesen sei, seien sie sich 2017 bei einem Geburtsvorbereitungskurs in ihrer Hebammenpraxis zum ersten Mal begegnet. Im Anschluss habe die Schwangere den Wunsch geäußert, ob sie sie bei ihrer Geburt zu Hause betreue. Bei einem persönlichen Termin hätten sie die Anamnese erhoben und ein Aufklärungsgespräch zur Begleitung der Erstgeburt zu Hause geführt. Der erwartete Geburtstermin sei dann aber überschritten gewesen. Sie habe die Schwangere drei Tage danach zur regelmäßigen Kontrolle an eine Fachärztin übergeleitet. Am neunten Tag nach ET sei das CTG auffällig gewesen, ohne geburtsreifen Befund. Sie habe die Schwangere dann an das St. Anna Hospital nach Herne verwiesen. »Wir trennten uns mit meiner Überweisung in die Klinik«, erinnert sich die Hebamme. »War das dann zu Ende mit der Betreuung – keine Nachsorge?«, erkundigt sich der Vorsitzende. Die Wochenbettbetreuung habe eine Kollegin übernommen. Sie selbst habe die Wöchnerin noch zweimal zu Hause getroffen, um sich zu verabschieden.
Wie es in der zweiten Schwangerschaft gewesen sei, fragt Große Feldhaus. »Sie rief im Januar 2020 an und bat um einen Termin in der Hebammenpraxis mit dem Wunsch nach einer Hausgeburt.« Die vorherige Geburt sei der Hebamme noch präsent gewesen: »Aus meiner Erfahrung heraus wollte ich sie nicht begleiten. Ich teilte ihr klar mit, dass sie innerhalb unseres Hebammenteams nicht betreut wird.« Wie die Schwangere reagiert habe, fragt der Vorsitzende. »Das führte zur Enttäuschung, im ersten Moment war sie nicht einsichtig«, schildert die Hebamme. »Die Ehefrau hat ihrer Frau dann zugesprochen: ›Lass uns in die Klinik gehen.‹« Und weiter: »Ich habe ihr klar gemacht, dass ich den Weg der Hausgeburt nicht mitgehe. In der Regel begleiten wir die Hausgeburten im Zweier-Team.«
Der Vorsitzende fragt: »Fällt Ihnen noch etwas ein, wo Sie sagen, das wäre Ihnen wichtig?« Die Angesprochene verneint. Die beisitzende Richterin möchte wissen, warum sie die Schwangere nicht zur Hausgeburt angenommen habe. »Wir haben absolute oder relative Ausschlusskriterien. Die nehme ich mir dazu und dann wird geschaut, ob es möglich ist oder nicht.« Sie erläutert: »Wir hatten die vorangegangene Endometriose als relatives Risiko und die atonische Blutung ebenfalls als relatives Risiko. Beides zusammengezählt hat zur Ablehnung geführt.« Die Beisitzerin stellt fest: »Sie haben für sich entschieden, die Geburt nicht zu betreuen, wegen der zusammengenommenen Risiken.«
Der Vorsitzende wendet sich an die Angeklagte: »Haben Sie Fragen?« Sie bejaht und tauscht sich leise mit ihrem Strafverteidiger aus, bevor sie ihre Kollegin zu fragen beginnt: »Mich interessiert, ob dir damals im Nachgespräch über die Komplikationen der ersten Geburt berichtet wurde. War dir bekannt, dass die Plazenta bei der Geburt des ersten Kindes unvollständig war?« Die Kollegin verneint. Die Angeklagte fragt weiter: »War dir bekannt, dass es sich um eine Placenta accreta gehandelt haben soll?« Auch hier verneint die Befragte. »War dir bekannt, dass es eine atonische Nachblutung mit einem hohen Blutverlust gegeben haben soll?« »Nein«, lautet auch hier die Antwort. Schließlich fragt die Angeklagte, ob der Kollegin bekannt gewesen sei, dass es nach der Geburt eine manuelle Nachtastung und auch eine Kürettage in Intubationsnarkose gegeben habe. »Nein«, erwidert die Hebamme: »So detailliert wurde mir von der Geburt nicht berichtet.«
Beharrliche Fragen
Nach der 30-minütigen Vernehmung wird die Zeugin entlassen. Strafverteidiger Armin Octavian Hirschmüller stellt den Antrag, eine neue geburtshilflich-gynäkologische Begutachtung durch eine:n andere:n Sachverständige:n anzuordnen. In der Hauptverhandlung habe sich am 14. August gezeigt, dass das erstattete Gutachten von Dr. Christiane Nübel ungenügend sei. Ihr fehle die nötige Sachkunde für das außerklinische Geburtsgeschehen. »Die Gutachtenerstattung geht im Zusammenhang mit dem schriftlichen Vorgutachten von unzutreffenden Voraussetzungen aus, weist Widersprüche auf und steht nicht im Einklang mit dem aktuellen Stand der Wissenschaft.« Sowohl das schriftliche Vorgutachten vom 15. August 2022 als auch das mündliche Gutachten der Sachverständigen vom 14. August 2023 seien deshalb durch den Sachverständigen Dr. Wolf Lütje, Facharzt für Gynäkologie und Geburtshilfe und ehemaliger Chefarzt der Frauenklinik des Evangelischen Amalie Sieveking Krankenhauses, Hamburg, sowie Leitlinienbeauftragter der DGGG und OEGGG gutachterlich geprüft worden. Ihm hätten dafür alle relevanten Unterlagen zu dem Fall vorgelegen.
Hirschmüller trägt 45 Minuten lang das ausführliche Gutachten von Dr. Wolf Lütje vor, der einen entgegensetzten Standpunkt beim Blick auf die Geburt und das anschließende tragische Geschehen einnimmt als die Gutachterin Dr. Christiane Nübel. Er betrachtet die Situation deutlich offener und auf die Frau hin orientiert, sieht kritische Punkte in der Geburtshilfe bei der Erstgeburt und den Auswirkungen der Interventionen auf das weitere Geschehen. Weder habe es ein Nachgespräch noch eine unmittelbare Therapie der Traumatisierung der Mutter gegeben. Das Trauma durch die erste Geburt betrachtet er differenziert und erkennt darin die Ursache für den unbedingten Wunsch der Schwangeren an, bei der nächsten Geburt auf jeden Fall zu Hause zu gebären und die Klinik zu meiden.
Das Handeln der Hebamme beurteilt er weniger kritisch als Nübel, erkennt ihre Beweggründe und entlastet sie. Sein Augenmerk fällt auch auf die Verantwortung der beiden bei der Geburt »privat« anwesenden Notärztinnen.
Lütje entnimmt dem Gedächtnisprotokoll der Hebamme, dass die Traumatisierung durch die erste Geburt die Vorsorge thematisch durchzogen habe. Die Hebamme habe versucht, die Schwangere »traumatherapeutisch anzubinden«. All dies habe bei ihr keinen Einstellungswandel zum Geburtsort erwirken können, dem Grad der Traumatisierung entsprechend. So habe es nur die Möglichkeit gegeben, »schweren Herzens dem Wunsch nach einer Hausgeburt zu entsprechen oder die Schwangere einer Alleingeburt zu überlassen«. Selbstbestimmung und Fürsorgeverpflichtung seien kollidiert – in diesem Fall vor allem im Hinblick auf die gefährdete Mutter.
Ärztinnen waren vor Ort
Für die Hebamme habe »unterlassene Hilfeleistung« im Raum gestanden, falls sie die Betreuung der Hausgeburt abgelehnt hätte. Sie habe die Frau »sowohl in der Selbstinszenierung als auch im Rahmen einer erzwungenen Klinikgeburt in vielfältiger Weise in Gefahr« gesehen. Sie »habe ihr nach sorgfältiger Güterabwägung entgegenkommen« und einen möglicherweise sichereren Geburtsrahmen verschaffen wollen. »Wichtig ist festzuhalten, dass die Ehefrau der Verstorbenen sowie die ebenfalls bei der Geburt anwesende Freundin Ärztinnen mit Anästhesiehintergrund sind.« Auch ohne gezielte Absprache habe die Hebamme bei der Überlegung zur geplanten Hausgeburt davon ausgehen können, dass bei Komplikationen bei der Mutter ausgewiesenes ärztliches Personal zur Erstversorgung vor Ort sei. Man habe sich ärztlicherseits mit Kanülen, Infusionen, Ambubeutel ausgerüstet, sich also auf mögliche Komplikationen eingerichtet. Dass Absprachen im Vorfeld nicht verschriftlicht abgestimmt wurden, liege letztlich in der Verantwortung aller Beteiligten, insbesondere der Ärztinnen.
Die postpartale Entgleisung der Mutter sei geburtshilflich nicht klar zuzuordnen gewesen. Primär habe es ein Problem mit den Vitalparametern bei der Mutter gegeben. »Somit war völlig klar, dass die anwesenden Fachärztinnen für Anästhesie trotz Befangenheit – so wie bei einem plötzlichen Notfall auf der Straße – für die Behandlung zuständig und dazu auch verpflichtet sind.« Dies sehe auch das rechtzeitige Hinzuziehen eines Notarztes vor. Auf diese selbstverständliche Vorgehensweise habe sich die Hebamme verlassen dürfen und in dieser Situation keine weitere Hinzuziehungsverpflichtung gehabt. Ärztinnen für die vermutete Störung waren bereits vor Ort. »Möglicherweise konnte sie sich gerade deswegen nach Abwägung der Risiken für die Begleitung der Hausgeburt entscheiden, da sie mit der kompetenten medizinischen Unterstützung rechnen durfte.«