Vor einem kleinen Amtsgericht (Bild wurde frei gewählt) wurde ein Strafprozess gegen zwei Hebammen geführt – dieser nahm eine unerwartete Wendung. Foto: © imago/Sascha Ditscher

Ein gerichtlicher Sachverständiger erzählt den Verlauf eines Strafverfahrens gegen zwei freiberufliche Hebammen nach, um einige wichtige Schlussfolgerungen für seine Arbeit darzustellen. Aus diesem Fall und aus den zwei Verhandlungstagen können Hebammen Lehren ziehen.

Vor einem kleinen Amtsgericht in einer ländlichen Gegend wurde vor einiger Zeit ein Strafprozess gegen zwei freiberufliche Hebammen geführt. Die Staatsanwaltschaft warf den Beklagten die fahrlässige Tötung eines Kindes unmittelbar nach seiner Geburt vor. Die Anklage erfolgte auf der Grundlage einer Strafanzeige der Eltern des verstorbenen Kindes, die diese erst mehrere Jahre nach dem tragischen Ereignis abgegeben haben.

Merke: Fahrlässige Tötung und fahrlässige Körperverletzung verjähren nach fünf Jahren, unterlassene Hilfeleistung nach drei Jahren (§ 78 in Verbindung mit §§ 222, 229, 323c Strafgesetzbuch [StGB]). Sobald die Staatsanwaltschaft oder das Gericht die erste Vernehmung der Beschuldigten anordnet, wird der Verjährungsvorgang „unterbrochen” (§ 78c StGB). Das bedeutet: Eltern können noch bis knapp fünf Jahre nach einer Geburt Strafanzeige stellen.

Es handelte sich im besagten Fall um eine außerklinische Geburt einer Erstgebärenden ohne besondere Geburtsrisiken. Der Geburtsverlauf war regelrecht. Insbesondere wurde zu keiner Zeit grünes Fruchtwasser nachgewiesen. Die Überwachung des Kindes erfolgte nach den Regeln der außerklinischen Geburtshilfe und zeigte keinerlei Hinweiszeichen auf eine Gefährdung des Kindes. Nach der Geburt ging es dem Kind gut. Auffällig war nur eine eingeschränkte, aber keinesfalls alarmierende Atemexkursion des Kindes. Der Vater hatte in den Stunden nach der Geburt immer wieder mit einer Videokamera gefilmt, was sich für die beklagten Hebammen als großer Glücksfall erwies: So konnte jeder im Gerichtssaal sehen, dass die Vitalzeichen des Kindes ansonsten unauffällig waren. Zwar konnte man in der Rückschau im Wissen um den fatalen Verlauf Hinweise für ein ernstes pulmonales Problem wie Trinkunlust und livide Fingerkuppen finden. Aber bei streng prospektiver Betrachtung wäre eine Verlegung des Kindes zunächst definitiv unangemessen gewesen. Insgesamt war der Zustand nicht ungewöhnlich für die erste postnatale Stunde.

Der Wert der Dokumentation

Dennoch gab es seitens der Hebammen einen gravierenden Dokumentationsmangel, der ihre Position vor Gericht deutlich geschwächt hat: Sie bewerteten die Atmung des Kindes im Zehn-Minuten-APGAR-Score mit zwei Punkten, was im krassen Gegensatz zu den Videoaufnahmen stand. Der Erstgutachter leitete daraus erhebliche Zweifel an der Kompetenz der Hebammen ab und übertrug dies auf das gesamte geburtshilfliche Management.

Merke: Eine korrekte und umfassende Dokumentation ist die wichtigste Grundlage jeder Verteidigungsstrategie vor Gericht. Auch bei offensichtlich unkompliziert verlaufenden Geburten darf es keine Lücken oder gar Fehlbeurteilungen geben. Gerichtsverfahren leben nicht nur von Fakten, sondern auch sehr stark von Stimmungen. Kompetenzzweifel sind Gift in jeder gerichtlichen Auseinandersetzung!

Im Kern haben sich die Hebammen völlig korrekt verhalten: Als sich die Atmung des Kindes auch nach etwa zwei Stunden nicht stabilisierte, rieten sie den Eltern eine neonatologische Vorstellung des Kindes an.

Hier gab es vor Gericht einige Wahrnehmungsdifferenzen. Es ist zu vermuten, dass die beklagten Hebammen ihre Sorgen möglichst diplomatisch ausgedrückt haben, um die Eltern nicht zu beunruhigen. Diese haben jedoch die wohlgemeinte Zurückhaltung nicht als definitiven Rat, sondern als mögliche, aber nicht notwendige Option missverstanden – und später vor Gericht die Verlegung quasi als ihre eigene Initiative dargestellt. Glücklicherweise war hier die Dokumentation eindeutig, was die Hebammen entlastete.

Merke: Vor Gericht gilt der Grundsatz: Was dokumentiert ist, ist geschehen. Was nicht dokumentiert ist, ist nicht geschehen. Im Streitfall folgt das Gericht in der Regel der Darstellung der Fachleute – aber nur dann, wenn insgesamt die Dokumentation professionell und vollständig ist. Man kann den Wert einer umfassenden und genauen Dokumentation nicht oft genug betonen!

Mekonium-Aspirations-Syndrom

Die Verlegung erfolgte im Privatwagen der Eltern. Da der Zustand des Kindes bis auf die leicht eingeschränkte Atmung stabil war und in der ländlichen Gegend ein Transport mit dem Rettungsdienst unter annähernd gleichen Bedingungen stattgefunden hätte, erscheint dieses Vorgehen bei streng prospektiver Betrachtung nachvollziehbar. Auch der Rettungswagen hätte das Kind in der Babyschale transportiert. So zogen die Eltern – gefilmt vom Vater – das Kind an und setzten es in den Babysitz. Die Hebammen kündigten die Verlegung in der Kinderklinik an und fuhren im eigenen Auto hinter den Eltern her.

Das Kind schlief während der Fahrt ein, die Mutter saß neben dem Kind im Fond des Autos. Die Fahrt zum nächsten Krankenhaus dauerte etwa 20 Minuten. In der Aufnahme mussten Eltern und Hebammen etwas warten, bis eine Kinderkrankenschwester kam. Diese nahm dann das scheinbar schlafende Kind aus der Babyschale heraus und stutzte angesichts des fehlenden Tonus. Von jetzt an ging alles rasend schnell: Notruf, Reanimation – leider erfolglos. Das vermeintlich schlafende Kind war auf dem Transport verstorben.

Die Obduktion ergab ein schweres Mekonium-Aspirations-Syndrom. Die Lunge des Kindes war fast vollständig von Mekonium ausgefüllt. Die Belüftung betrug nur zehn Prozent. Das Gewicht des Mekoniums war so groß, dass die Schwimmprobe (also die Frage, ob die herauspräparierte Lunge dank der Beatmung im Wasserbad schwimmt) sogar negativ ausfiel – als wenn das Kind bereits tot geboren worden wäre. Der Pathologe bescheinigte in Unkenntnis der Videoaufnahmen des Vaters ein definitiv nicht lebensfähiges Kind, das an einem schweren Mekonium-Aspirations-Syndrom verstorben sei.

Merke: Dass Fruchtwasser einen unglaublichen Umsatz hat und sich in kürzester Zeit zu regenerieren vermag, ist lange bekannt. Hier haben wir einen wirklich unglaublichen Fall vorliegen, denn niemand hat grünes Fruchtwasser bemerkt: weder die Eltern beim Blasensprung daheim im Bett – das Laken war von einer wasserklaren Flüssigkeit durchtränkt, noch die Hebammen oder die Neonatologen bei der Intubation und Absaugung. Offenbar hat das Kind Stunden vor der Geburt Mekonium abgesetzt und aspiriert. Während sich das grüne Fruchtwasser in der Fruchthöhle vollständig regeneriert und „gekeltert” hat, blieb das wasserunlösliche Mekonium in den Alveolen und behinderte die Atmung des Kindes massiv. Klares Fruchtwasser schließt somit eine Mekonium-Aspiration nicht aus!

Transport im Privatwagen

In Kenntnis des Obduktionsbefundes ergibt sich ein ganz neues Bild des Geschehens. Da bis zur Entfaltung der Lunge die Vitalität des Kindes in keiner Weise gestört war, erklärt sich der insgesamt stabile Zustand des Kindes. Es begnügte sich mit den verbleibenden zehn Prozent Lungenalveolen und atmete entsprechend flach. Tatsächlich sieht man im Wissen um den Lungenbefund die vom Vater angefertigten Videobilder anders: Das vitale Kind „knorkst” nicht, hat keine Einziehungen – aber es atmet und schreit auch nicht durch. Die ganze Zeit ist es ein eher wimmerndes Weinen. Aber ohne die Kenntnis des Befundes war die Dramatik der Situation nicht erkennbar. Und vielleicht hätte das Kind auch überlebt, wenn es an Ort und Stelle versorgt worden wäre. Das jedoch konnte angesichts des insgesamt stabilen Zustands des Kindes niemand ahnen.

Die Krise des Kindes trat offenbar durch seine ungünstige Lagerung in der Babyschale ein. In den Kindersitzen ist der Körper sehr stark gebeugt – ein Missstand, den viele Eltern durch ein zusätzliches Polster auszugleichen versuchen. Bei normaler Lungenfunktion beeinträchtigt die ungünstige Sitzposition das Kind normalerweise nicht. Aber ein Neugeborenes mit zehnprozentiger Lungenbelüftung verkraftet keinerlei zusätzliche Einschränkung der Atemexkursion.

Tragischerweise hat niemand den Verfall des Kindes bemerkt. Die Mutter meinte, das Kind sei eingeschlafen. Die Hebammen fuhren im eigenen Auto hinterher. Niemand ahnte, dass das Kind in eine tödliche Krise geriet. Ein Herausnehmen aus der Babyschale und eine Sauerstoff-Vorlage hätten das Kind vielleicht so weit stabilisiert, dass es bis zur Intubation am Leben geblieben wäre.

Merke: Instabile Kinder sollten möglichst immer mit dem Rettungsdienst transportiert werden – idealerweise mit dem kinderärztlichen Notdienst. Das Kind sollte beim Transport liegen. Hierfür gibt es Babytransportwiegen, die vom TÜV zugelassen sind. Obligat sollte die Hebamme beim Kind bleiben und Sauerstoff mit sich führen, um auf einen möglichen Verfall des Kindes sofort reagieren zu können. Dass vermeintlich stabile Kinder während des Transports in der Babyschale verfallen, haben wir Hebammen und Ärzte im Geburtshaus Bühlau wiederholt erlebt!

Nach den tragischen Ereignissen gab es anfänglich noch guten Kontakt zwischen den Hebammen und den Eltern. Die Frage des Verhaltens der Hebammen in der Zeit nach dem Tod des Kindes spielte vor Gericht eine zentrale Rolle. Der zunehmende Rückzug der Hebammen wurde von den Eltern als Schuldeingeständnis interpretiert.

Merke: Nach Komplikationen mit tragischem Ausgang muss den Hebammen die schwierige Balance zwischen dem absolut legitimen Selbstbetreuungs- und Selbstschutzinteressen und dem empathischen Umgang mit den Eltern gelingen. Es ist dabei wichtig, dass die Hebammen jeden Kontakt, jede Bemühung und jeden ihrer Kommunikationsversuche sowie die Reaktion der Eltern sorgfältigst dokumentieren. Es kommt in diesen Situationen seitens der betroffenen Eltern überproportional häufig zu falschen Interpretationen des Verhaltens der Hebammen, was immer wieder auch vom Gericht als Flucht und somit quasi als Schuldeingeständnis bewertet wird.

Unsachlicher Sachverständiger

Nach Eingang der Strafanzeige gab die Staatsanwaltschaft ein Sachverständigengutachten beim Chefarzt einer größeren Geburtsklinik in Auftrag. Der Gutachter nahm den Obduktionsbefund als Maß aller Dinge. Für ihn war klar: Die Hebammen haben ein schweres Mekonium-Aspirations-Syndrom übersehen und den dramatischen Zustand des im Prinzip nicht lebensfähigen Kindes völlig falsch interpretiert. Durch das Unterlassen der zwingend und sofort notwendigen intensivmedizinisch-neonatologischen Betreuung ist das Kind zu Tode gekommen.

Die Tatsache, dass zu keiner Zeit – weder beim Blasensprung von den Eltern, noch im Geburtsverlauf von den Hebammen, noch im Rahmen der Absaugung und Intubation durch die Neonatologen – grünes Fruchtwasser nachgewiesen wurde, ignorierte der Gutachter vollständig. Die Videoaufnahmen eines insgesamt stabilen Kindes mit eingeschränkter Atmung deutete er auf seine Weise: Für ihn war das Kind röchelnd im Todeskampf.

Den größten Kompetenzmangel offenbarte der Sachverständige jedoch in einem schweren Verstoß gegen die wichtigste Regel der medizinischen Gutachtertätigkeit: Neutralität und Unbefangenheit. Das Gutachten war eine wahre Sammlung persönlicher Wertungen des Gutachters – und der hatte offensichtlich eine heftige Abneigung gegen Hebammen im Allgemeinen und die hebammengeleitete außerklinische Geburtshilfe im Besonderen. Insbesondere die Unsachlichkeit, mit der er die Videoaufnahmen umdeutete, und die radikale Abwertung der Kompetenz beider Hebammen zeigten eine fast hasserfüllte Befangenheit.

Genau dieser Umstand stößt bei den meisten Gerichten auf größte Verärgerung. Der vorsitzende Richter gab umgehend ein weiteres Gutachten in Auftrag, das ausdrücklich auch zur Frage der Wertungen im Erstgutachten Stellung nehmen sollte.

Merke: Gutachter sind auch nur Menschen und Gutachten sind keine biblische Wahrheit. Betroffene Hebammen sollten gegen sie gerichtete Gutachten insbesondere hinsichtlich einer möglichen Befangenheit des Sachverständigen studieren. Sie sollten einen Befangenheitsantrag erwägen und ein Zweitgutachten beantragen, wenn

  • persönliche Wertungen das Gutachten dominieren
  • die Besonderheiten der außerklinischen Situation ignoriert werden
  • das Handlungsregime der eigenen Klinik als einzig gültiger Maßstab dargestellt wird
  • medizinische Leitlinien fehlinterpretiert oder ignoriert werden
  • persönliche Ansichten in den Raum gestellt werden (Beispiele: keine Hausgeburt bei Zustand nach Sectio, keine außerklinische Geburt ab 41+0 Schwangerschaftswochen, Dopton als Verstoß gegen die CTG-Leitlinie).

Wendung im Prozess

Der Strafprozess begann mit einem großen Schreck: Eine der beklagten Hebammen war völlig unvorbereitet und glaubte, das Gericht kenne doch den Sachverhalt und sie müsse das alles nicht noch einmal wiederholen. So kam auf die Fragen des Richters nach Ausbildung, Berufserfahrung, Weiterbildung im Notfallmanagement und Sicht auf die Dinge nur ein tränenersticktes Stammeln.

Merke: Im Strafprozess gilt nur das im Gerichtssaal gesprochene Wort. Auch wenn natürlich die polizeilichen oder staatsanwaltlichen Ermittlungen und Sachverständigengutachten im Raume stehen, ist das Verfahren zunächst „ein weißes Blatt”, das im Laufe des Prozesses von den Aussagen der Anklage, der Verteidigung, der Zeugen und der Sachverständigen nach und nach beschrieben wird. Darin liegt für die Beklagten eine große Chance: Sie können – natürlich nur im Rahmen der Wahrheit – die eigene Kompetenz, ihre Berufserfahrung und ihr Wissen effektvoll herausstellen. Beklagte sollten sich detailliert auf das Verfahren vorbereiten, die Strafakte genau kennen, gegen alle erhobenen Vorwürfe sicher, kompetent, offensiv und evidenzbasiert ankämpfen und die Überzeugung der eigenen Schuldlosigkeit ausstrahlen.

Nach dem unglücklichen Start dieses Prozesses gab es eine Pause, in der sich die Beklagten sammeln konnten – und von da an lief es deutlich besser. Vor allem aber kam den beklagten Hebammen das unangemessene Verhalten des Erstgutachters zu Gute, der seine tendenziösen Äußerungen im Gerichtssaal fortsetzte und beleidigt, trotzig und heftig widersprechend auf die Gegenargumente anderer Sachverständiger reagierte.

Der eindrucksvollste Moment der Verhandlung war die Vorführung der Videoaufnahmen in Anwesenheit des Pathologen, der das Kind obduziert hatte. Dieser betrachtete fassungslos die Bilder und konnte gar nicht glauben, dass es sich hier um dasselbe Kind handelte. Als auch jetzt der Erstgutachter störrisch widersprach, wurde er vom vorsitzenden Richter abgemahnt und später entlassen. Die Klarheit, Sachlichkeit und Besonnenheit des Gerichts war ein großer Gewinn, der sich auf den Verlauf des Verfahrens äußerst positiv auswirkte.

Und so folgten das Gericht und sogar die Staatsanwaltschaft uneingeschränkt der Version einer Dekompensation des Kindes auf dem Transport, die von den Hebammen nicht voraussehbar war. Die Staatsanwaltschaft zog die Klage zurück. Die Hebammen wurden freigesprochen.

Zitiervorlage
Hildebrandt S: Strafprozess gegen zwei Hebammen: Erkenntnisse in der Rückschau. DEUTSCHE HEBAMMEN ZEITSCHRIFT 2014. 66 (5): 19–21 
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