Ulrike Michel geht mit trauernden Eltern viel in den Wald, damit sich Blockaden lösen können. Foto: © Melanie M. Klimmer

Die Hebamme und Sterbeamme Ulrike Michel begleitet Mütter und Väter wieder zurück ins Leben, deren Kind vor, während oder früh nach der Geburt gestorben ist. Wut, Verzweiflung und Selbstvorwürfe finden dabei ihren Raum und auch ihre Berechtigung.

Nach zwei Jahrzehnten klinischer und außerklinischer Erfahrung als Hebamme im Ruhrgebiet lebt die 49-jährige Uli Michel heute zusammen mit ihrem Mann in einem kleinen Fachwerkhaus mitten in Tecklenburg, einer Kleinstadt am Rande des Teutoburger Waldes. Hier empfängt sie mich, um von ihrer Arbeit zu erzählen. In ihrer Wahlheimat verdichtet sie ihre Angebote seit fünf Jahren im Grenzbereich von Hebammenarbeit, Trauma-Fachberatung und Palliative Care-Arbeit zu einer freiberuflichen Tätigkeit als Sterbeamme für früh verwaiste Eltern. »Wäre ich noch im System drin, könnte ich diese Art von Arbeit nicht so umsetzen«, erklärt sie.

Uli Michel begleitet Mütter und Väter, deren Leben durch den frühen Verlust ihres Kindes ins Wanken geraten ist. Mütter mit unstillbarem Weinen lernen im Beratungszimmer der Sterbeamme, die auch Hospizkoordinatorin und Trauma-Fachberaterin ist, oder bei Waldspaziergängen, ihre Tränen zu stoppen. Andere lernen an ihre Gefühle zu kommen und sie ins Fließen zu bringen. Manche Frauen können schon nach kurzer Zeit Frieden mit ihrer Leiderfahrung schließen, die Trauerphase anderer dauert sehr viel länger, bis sie wieder Vertrauen in den eigenen Körper und das Leben zurückgewinnen.

Nur ein kleiner Teil dieser Arbeit ist über die normale Kassenabrechnung refinanzierbar. Deshalb braucht es verschiedene Töpfe, um betroffene Eltern in dieser Situation zu begleiten. »Vor allen Dingen muss man Zeit mitbringen und eine bestimmte, auch unaufgeregte Haltung, um einem geschockten Paar einen geschützten Rahmen für seine Gefühle zu geben«, so die 49-Jährige. »Das funktioniert meist nicht in einem leistungsorientierten Krankenhaussystem.« Sie hat ihre ganz eigene Art zu beraten und zu begleiten gefunden. Durch ihre speziellen Ausbildungen – rund 1.000 Unterrichtsstunden – hat sie ein Alleinstellungsmerkmal entwickelt: Sie hat professionelle Erfahrung im Umgang damit, was in den Momenten und Phasen passiert, wenn Lebensanfang und Lebensende verdichtet zusammenkommen.

Foto: © Melanie M. Klimmer

Heilsame Sinneserfahrungen machen

Die Sterbeamme nimmt mich mit auf den Weg durch einen Hochwald, den sie mit früh verwaisten Müttern und Vätern oft bis zu einer kleinen abgelegenen Kapelle geht. Mit dabei ist ihr Berner Sennenhund Balou, der ihr nicht von der Seite weicht. Mit ihm geht sie auch vor und nach Beratungen nach draußen, damit sie ganz präsent sein oder auch wieder abschalten kann. Einige Rehe springen weiter vorne über den Waldweg. »Durch die äußere Bewegung können die Mütter und Väter zugleich in eine innere Bewegung kommen und wieder ein Gespür für sich selbst entwickeln«, erklärt sie. »Die Sinneserfahrungen, die sie hier machen können, sind sehr heilsam insofern, dass sich ein Zugang zu einem neuen Lebenssinn auftun kann«, sagt sie. »Die Werte verschieben sich stark in dieser Zeit und werden auf ihre Gültigkeit überprüft: ›Was waren für mich die Werte, die mich vorher geprägt haben? Was hat sich jetzt verändert? Was kann ich noch, was nicht mehr? Was will ich noch und kann es nicht mehr? Was kann ich noch und will es aber nicht mehr?‹«

»Der Prozess kann meist nur einen positiven Verlauf nehmen, wenn die Eltern und ihre Familien die richtige Unterstützung erfahren. Man darf Wut, Verzweiflung, Selbstvorwürfe nicht einfach nur wegmachen wollen, sondern sie haben ihre Berechtigung«, so Uli Michel. »Aus der anfänglichen Ohnmacht kann eine neue Haltung und ein anderer Umgang gegenüber der unabänderlichen Situation erlernt werden.« Mit ihrer Arbeit hat die zweifache Mutter eine Mission gefunden. Sie kämpft gegen ein hilfloses Hilfesystem an und gräbt dabei eine Tabuzone um. »Hier muss das Hilfesystem etwas möglich machen. Es muss zeigen, dass es funktioniert, und diesen Müttern und Vätern in ihrer Ohnmacht etwas zur Seite stellen, bis ihnen wieder eine neue Tür aufgeht. Man kann sie nicht einfach nur nach Hause schicken. Mit Unprofessionalität und Unsicherheit schafft man hier unnötiges, zusätzliches Leid«, so Michel.

Die Dimension an Leiderfahrungen, die diese Paare durchleben müssen, wenn sie mit einer schweren Diagnose des Kindes oder seinem plötzlichen Tod im Mutterleib, während der Geburt oder kurz danach konfrontiert werden, werde völlig unterschätzt. Darauf sei das Personal nicht ausreichend vorbereitet. Als Hebammenschülerin hatte sie erlebt, wie junge Mütter sediert wurden, anstatt dass man ihnen Gespräche angeboten hätte. Das hatte sie damals zutiefst schockiert und unglaublich wütend gemacht. Das wollte sie auf Dauer nicht so hinnehmen. Heute bildet sie Hebammen, ÄrztInnen und andere Berufsgruppen weiter, die mit verwaisten Eltern Kontakt haben.

Gefühle zulassen

Vor allem die Mütter sind nach so einer Erfahrung oft aus ihrem bisherigen Selbstbild gerissen und quälen sich durch ihre körperliche Verbundenheit mit dem Kind häufig mit Schuldgefühlen, wie Uli Michel beobachtet: »Sie sind oft richtig körperlich zerrissen und fühlen sich, als hätte man ihnen aus ihrem Selbst etwas herausgerissen.« Und das ist auch für die Väter eine sehr tiefgehende Erfahrung. »Sie leiden oft extrem darunter, ihre Frau dann so zerbrochen zu sehen. Manche können das fast gar nicht aushalten«, erklärt sie. »Ich erlebe viele Männer, die dann in die Beschützerrolle gehen und versuchen, alles zu stemmen, bis die Frau wieder Boden unter die Füße bekommt, und verdrängen so die wichtige, eigene Trauerarbeit.« Lebensqualität, Belastbarkeit, Tagesstruktur, Leistungsstärke – sie sind dahin.

»Wenn man da nicht Profis an der Seite hat, dann ist der Weg da hinaus noch viel schwerer. Man sieht die simpelsten Sachen einfach nicht mehr«, berichtet mir Patrick R., dessen Sohn Matteo eine Woche vor dem Geburtstermin noch im Mutterleib starb. Christina und Patrick R. berichten ihre Geschichte im Beratungszimmer von Uli Michel und zeigen Fotos von ihrem verstorbenen Sohn.

Uli Michel erklärt: »In der Akutphase geht es erst einmal um Grundsätzliches: Darum, schlafen zu können, morgens aufstehen zu können, essen zu können. Es geht erst einmal um die Ressourcen und darum, sich wieder in der Welt zurechtzufinden.« Diese kleinen Schritte mussten auch die Eltern des kleinen Matteo gehen: »Die kleinen Schritte zusammen mit Uli zurück ins Leben haben uns sehr geholfen«, erzählt Matteos Vater. Christina R. ergänzt: »Es ist so wichtig, dass da jemand ist, der anhört, was man fühlt, ohne es gleich zu bewerten – und einfach zu wissen, dass nichts falsch ist«.

»Die Schwangerschaft war für meine Frau und mich eine sehr schöne Zeit. Diese Gedanken daran bleiben uns für immer und machen uns immer wieder auch ‚elternstolz‘«, berichtet Patrick R. Die Sterbeamme Uli Michel hat dem jungen Paar Denkanstöße gegeben, wie sie dem toten Kind einen Platz in ihrem Leben geben, die Beziehung zu ihm aktiv gestalten, Weihnachten einmal anders verbringen und in Austausch mit anderen betroffenen Eltern kommen können. »Jeden Tag leuchtet eine Kerze für ihn in unserem Wohnzimmer – ein Ritual, das uns sehr wichtig geworden ist und uns Trost spendet«, so Matteos Eltern weiter. Zusätzlich ist der Friedhof für sie eine wichtige Anlaufstelle geworden.

Nicht weglaufen

Schon sehr früh in ihrer Biografie musste Uli Michel selbst eine sehr schwere Verlusterfahrung durchleben. »Da habe ich nur versucht, zu überleben«, ihre Sätze werden sehr kurz, wenn sie daran zurückdenkt. »Es war schlimmer als Sterben; aber diese Erfahrung gemacht zu haben ist heute, glaube ich, etwas Wesentliches, warum ich die Menschen begleiten und ihnen neue Türchen öffnen kann.«

Es hat sich schließlich eine Mission in ihr entwickelt: Nicht wegzulaufen, wenn jemand eine wirklich schwere Lebenskrise durchzustehen hat; Eltern von Kindern mit infauster Prognose vor, während und nach der Geburt stabilisieren und ihre individuellen Trauerprozesse begleiten; die Begleitung trauernder Eltern und von Eltern eines nicht lebensfähigen Kindes verbessern; Personal schulen und in Vorträgen darüber berichten; Konzepte für Gruppenangebote und Einzelberatungen entwickeln, die an den eigenen Selbstheilungskräften und Ressourcen der Mütter und Väter ansetzen und deren Bedürfnisse aufgreifen.

Genau hinsehen

In der Theaterschule in Hamburg wollte sie Anfang der 1990 Jahre zunächst Clownin werden. Dort hat sie vieles gelernt, was für sie auch als spätere Hebamme sehr gut war: Atemübungen, Authentizität und Echtheit, wie sie auch unter der Geburt im Vordergrund stehen, besonders aber die sehr genaue Beobachtung. »Wir sollten uns damals ein Gebäude aussuchen und es zu ganz unterschiedlichen Tages- und Jahreszeiten wahrnehmen: Was sind da für Menschen unterwegs? Was passiert da? Was ist jeden Tag gleich, was ist anders?« Das hat sie sehr geprägt. Durch dieses genaue Hinschauen kann sie heute erkennen, an welchem Punkt die Menschen stehen, die ihre Beratung aufsuchen.

Es mache einen Riesenunterschied, an welchem Punkt Mütter und Väter in die Beratung kommen und ob sie in der Akutphase schon gut aufgefangen wurden, erklärt Uli Michel. Die Verarbeitungsprozesse hingen auch vom Zeitpunkt ab, an dem das Kind stirbt. Bei Sternenkindern sei es noch einmal anders als bei Kindern, die einige Zeit gelebt hatten. »Und es ist noch einmal anders, ob ein nicht lebensfähiges Kind palliativ oder unter Zuhilfenahme einer Kalium-Spritze ins Herz tot entbunden wurde«, so Michel. »Da stehen auch im Vorfeld extreme Entscheidungen im Raum, die können wir uns gar nicht vorstellen.«

Ihr selbst liegt ein möglichst natürlicher Umgang mit Geborenwerden und Sterben nahe, ohne medizinische Interventionen. »Meine Erfahrung ist, dass die eigene Liebesfähigkeit ausgelebt werden kann, wenn das Kind palliativ zur Welt kommt. Aber der Weg muss für die Eltern immer gangbar bleiben und deshalb versuche ich, alle Eltern in ihrer Entscheidung – egal wie sie ausfällt – zu bestärken«, so Michel.

»Es ist letztlich eine Haltung, die hinter dieser Arbeit steht. Und um diese Haltung zu erlernen, braucht es viel Persönlichkeitstraining, viel eigene Erfahrung auch mit diesen Themen. Da reicht keine kurze Fortbildung oder nur ein Interesse am Helfen-Wollen aus.« Mit Blick auf die Zukunft wünscht sich Uli Michel ein Haus für Eltern von Sternenkindern. »Es braucht ein breites Spektrum und verschiedene Formate für früh verwaiste Eltern«, erklärt sie.

Zitiervorlage
Klimmer MM: Sterbeamme Ulrike Michel: Menschen begleiten, Übergänge gestalten. DEUTSCHE HEBAMMEN ZEITSCHRIFT 2019. 71 (5): 104–108
Literatur
Michel U: Wenn Geburt und Tod aufeinandertreffen – Momente des Abschiednehmens als Begleiterin. In: Ensel A, Möst MA, Strack H: Momente der Ergriffenheit – Begleitung werdender Eltern zwischen Medizintechnik und Selbstbestimmtheit. Vandenhoeck & Ruprecht. 2019. 180–186
https://staudeverlag.de/wp-content/themes/dhz/assets/img/no-photo.png