Nachgefragt
Katja Baumgarten: Was bedeutet der Mündlichkeitsgrundsatz bei einem Strafprozess?
Matthias Diefenbacher: Der Strafprozess ist – im Gegensatz zum Zivilprozess – ein im vollen Umfang unmittelbarer und mündlicher Prozess, das heißt alle Umstände, die ermittelt wurden, müssen mündlich im Gerichtssaal nochmals erläutert werden. Deshalb muss zum Beispiel auch jeder Zeuge „neu” aussagen und kann nicht lediglich auf seine polizeiliche Vernehmung Bezug nehmen. Nur selten, in sehr umfangreichen Verfahren können Schriftstücke in einem sogenannten Selbstleseverfahren – zum Beispiel Bände mit Telefonüberwachungsprotokollen – außerhalb der Hauptverhandlung durch die Richter und die Schöffen und alle anderen Prozessbeteiligten „für sich” gelesen werden. Der Zivilprozess wird zwar auch mündlich geführt, in der Verhandlung wird aber im Wesentlichen auf die gewechselten Schriftsätze Bezug genommen. Der Zivilprozess wird daher schriftlich vorbereitet und im Gerichtstermin werden nur noch die vorbereiteten Anträge gestellt.
Arbeitet das Gericht mit der Staatsanwaltschaft zusammen oder komplett unabhängig?
Das Gericht ist von der Staatsanwaltschaft unabhängig. Es nutzt die bisherigen Ermittlungsergebnisse der Staatsanwaltschaft, ist darauf aber nicht beschränkt, sondern muss alles ermitteln, was für die Entscheidung von Bedeutung ist. Wenn das Gericht etwas übersieht, bedarf es unter Umständen eines Beweisantrags der Verteidigung. Und auch die Staatsanwaltschaft kann Beweisanträge stellen, wenn während der Verhandlung neue Gesichtspunkte offenbar werden.
Welche Rolle spielen Befangenheitsanträge? Gegen wen können sie gestellt werden?
Gegen das Gericht und in seltenen Fällen auch gegen Sachverständige oder Dolmetscher, wenn Misstrauen gegen die Unparteilichkeit besteht, so §§ 24 ff. Strafprozessordnung (StPO).
Welche Rolle spielen Gutachter?
Sie sind eines der möglichen und zulässigen Beweismittel. Ihre Auswahl trifft das Gericht nach eigener Erfahrung und dem Fachgebiet eines Sachverständigen. Die Verteidigung kann auch eigene Gutachter einbringen. Alle Gutachter sind dann gleichberechtigt.
Welches Gewicht haben die Zeugenaussagen?
Sie sind auch „nur” ein Beweismittel, wahrscheinlich das schlechteste, das wir haben. Es ist eben nun mal so, dass sich Zeugen oftmals nur sehr schlecht und gerade nicht mehr an die im konkreten Fall erforderlichen Details erinnern.
Wie wird juristisch eine über Jahre zurückliegende Erinnerung bewertet, die ja auch durch die Forschung als häufig wenig „belastbar” eingestuft wird?
Im Rahmen der Beweiswürdigung muss das Gericht darauf Rücksicht nehmen. Ein solcher Zeuge ist dann „nicht so viel wert”.
Können ZeugInnen nachträglich ihre Aussage noch schriftlich ergänzen, wenn sie nach wichtigen Details nicht gefragt wurden und sie deshalb nicht äußern konnten?
Nein, wegen des oben erwähnten Mündlichkeits- und Unmittelbarkeitsgrundsatzes müssen Zeugen selbst mündlich vernommen werden. Es müsste ein neuer Beweisantrag auf ergänzende Vernehmung gestellt werden. Für die Seite der Geschädigten können die Staatsanwaltschaft und die Nebenkläger ebenfalls Beweisanträge stellen.
Können Personen, die (noch) nicht in den Prozess einbezogen sind, zur Ermittlung beitragen, indem sie sich selbst an das Gericht wenden?
Das ist möglich. Sie würden vernommen werden, wenn das Gericht der Auffassung wäre, sie im Rahmen der allgemeinen Aufklärungspflicht zu benötigen (§ 244 Abs. 2 StPO). Sonst müsste auch diesbezüglich ein Beweisantrag auf Vernehmung durch die Verteidigung gestellt werden.
Wann wird ein Eid abgenommen?
In der Praxis so gut wie nie. Es müsste ein Antrag durch einen Beteiligten gestellt werden, worauf jedoch meistens verzichtet wird. Meist möchte ein Verteidiger nicht, dass eine (Belastungs-)Zeugenaussage als besonders wertvoll, weil beeidet, dargestellt wird. Und eine günstige Zeugenaussage wird in der Regel nicht alleine deshalb wertvoller, nur weil sie beeidet wurde.
Werden einem Beschuldigten bei einem Freispruch die eigenen Aufwendungen wie Anwaltskosten, Kosten für selbst in Auftrag gegebene Gutachten oder Untersuchungen, Fahrtkosten, Kosten der Recherche etc. erstattet?
Ja (§ 467 StPO).
Was passiert bei einer Verurteilung? Muss der oder die Verurteilte die Strafe sofort antreten?
Er oder sie wird nach Rechtskraft des Urteils zeitnah, etwa binnen eines Monats, durch die Staatsanwaltschaft (die auch Vollstreckungsbehörde ist) bei Geldstrafe eine Zahlungsaufforderung, bei Freiheitsstrafe eine Ladung zum Strafantritt in einer Justizvollzugsanstalt erhalten.
Wie viele Fälle sind Ihnen in Deutschland bekannt, wo ein Urteil wegen Totschlags gegen Geburtshelfer – eine Hebamme oder einen Arzt/eine Ärztin ausgesprochen wurde?
In einem Fall hat zum Beispiel das Amtsgericht Augsburg entschieden, dass eine Hebamme wegen fahrlässiger Tötung eines Säuglings verurteilt wurde, weil sie eine Steißlage nicht als solche erkannt hat und nach Erkennen der Steißlage versäumt hat, rechtzeitig einen Notarzt hinzuzuziehen (Urteil vom 21.04.2008, Az.: 9 Cs 400 Js 130015/06). Der Säugling war aufgrund der Steißlage während der Geburt längere Zeit von der Sauerstoffversorgung abgeschnitten und erstickt. In ähnlichen Situationen drohen vergleichbare Ermittlungsverfahren.
Vielen Dank, Herr Diefenbacher!