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Noch liegt die Spermiendichte bei Männern in »westlichen« Ländern nicht unter der von der WHO als bedenklich eingestuften Dichte an Spermien im Ejakulat. Doch sie ist insgesamt in den vergangenen Jahren gesunken. Woran liegt das?

Medial werden gerne bedrohliche und drastische Schlagworte benutzt, um kritische Entwicklungen zu beschreiben. So gibt es Regierungskrisen, Finanzkrisen und neuerdings liest man auch von der »Spermakrise«. »Steckt Europa in der Spermakrise?« titelte Pro Sieben (siehe Links). Was verbirgt sich dahinter? Zum besseren Verständnis des Themas müssen zunächst einige Begriffe erläutert werden.

Die Menge des Spermas oder Ejakulats wird in ml angegeben; normal sind mindestens 1,5 ml (WHO 2010). Das Ejakulat besteht nur zu einem geringen Teil aus Spermien und überwiegend aus Sekreten der sogenannten akzessorischen Drüsen wie Prostata, Bläschendrüsen und Cowpersche Drüsen. Aufschluss über Quantität und Qualität der Spermien gibt eine Ejakulat-Analyse, die in der Erstellung eines Spermiogramms resultiert. Dies ist ein unerlässlicher Schritt, wenn beispielsweise bei einem nicht erfüllten Kinderwunsch die Ursachenforschung betrieben und die Rolle des Mannes beurteilt werden soll. Die wichtigsten in einem Spermiogramm beurteilten Parameter sind:

  1.  Die Dichte = Konzentration in Mio pro ml (106/ml)
  2. Die Motilität = Beweglichkeit, eingeteilt in drei Klassen (vorwärts beweglich, ortsbeweglich, unbeweglich)
  3. Die Morphologie = Form.

Oft wird auch die Gesamtspermienzahl angegeben, sie ist das Produkt aus Volumen und Dichte. Bei einer Konzentration von 40 mal 106/ml und einem Volumen von 3 ml wären das 120 Millionen Spermien.

Die Spermiendichte sinkt

Damit zurück zur eingangs erwähnten »Spermakrise«: Sie bezieht sich auf einen deutlichen Abwärtstrend bei der Spermienkonzentration innerhalb der vergangenen Jahrzehnte. Der Ausdruck »Spermienkrise« erscheint somit wohl eher angebracht. Auslöser der Diskussion war die Übersichtsarbeit von Dr. Hagai Levine und seinen KollegInnen aus dem Jahr 2017, für die 7.518 Zusammenfassungen gesichtet, 2.510 vollständige Artikel begutachtet und letztlich 185 Studien analysiert wurden. Die geringe Zahl an verwendbaren Studien ist auf die zugrunde gelegten strengen Auswahlkriterien zurückzuführen. So fanden unter anderem Untersuchungen keine Berücksichtigung, wenn sie ausschließlich an infertilen oder rauchenden Männern durchgeführt wurden oder eine möglicherweise fertilitätsschädigende Exposition am Arbeitsplatz bekannt war. Nicht standardisierte Methoden der Ejakulat-Gewinnung und der Spermienzählung waren weitere Ausschlusskriterien. Letztlich verblieben die Daten von 42.935 Männern, für die in den Jahren zwischen 1973 und 2011 ein Spermiogramm erstellt worden war. Diese Männer wurden zunächst nach dem Fertilitätsstatus gegliedert. In der als sicher fertil gewerteten Gruppe war eine Vaterschaft oder die Erzielung einer noch laufenden Schwangerschaft bekannt. Alle weiteren Männer fielen in die Gruppe mit unklarer Fertilität. Diese beiden Gruppen wurden nochmals geografisch nach den Ländern der Datenerhebung unterteilt: solche mit »westlichem« Lebensstil (zum Beispiel Europa, Nordamerika, Australien und Neuseeland) und »andere« Länder (beispielsweise Asien, Afrika und Südamerika). Die Kernaussagen der anschließenden Datenanalyse lauteten:

  • Bei Männern aus »westlichen« Ländern mit unklarer Fertilität ging die Spermiendichte im Mittel um 1,4 % pro Jahr zurück. Dies entspricht einer Verringerung um 52,4 % zwischen 1973 und 2011. Für die Gesamtspermienzahl ergibt sich ein jährlicher Rückgang um 1,6 %, beziehungsweise eine Verringerung um 59,3 % zwischen 1973 und 2011.
  • Für die als sicher fertil gewerteten Männer aus »westlichen« Ländern war der Trend ebenfalls signifikant, aber nicht so ausgeprägt. Der Rückgang betrug 0,81 % pro Jahr bei der Spermiendichte und 0,76 % pro Jahr bei der Gesamtspermienzahl.
  • In den »anderen« Ländern war kein derartiger signifikanter Trend erkennbar, allerdings lagen hier auch weniger Daten vor.

Sind die Ergebnisse von Levine und Forschungsgruppe eine völlig überraschende Neuigkeit? Nein, denn bereits vor mehr als 25 Jahren veröffentlichten Elisabeth Carlsen und KollegInnen eine Metaanalyse, die einen Rückgang der mittleren Spermiendichte um etwa 50 % andeutete (Carlsen et al. 1992). Diese Arbeit wurde in der Fachwelt intensiv diskutiert und kritisiert. Die Vorwürfe reichten von nicht kontrollierten Labormethoden, einer nicht nachprüfbaren Karenzzeit vor der Probenabgabe bis zur inadäquaten Anwendung statistischer Tests (Brinkworth & Handelsman 1996). In der Tat unterliegen das Ejakulat-Volumen und die Spermiendichte erheblichen individuellen Schwankungen. Des Weiteren scheinen sich Faktoren wie Hitze, Stress, Alkohol und Nikotin zumindest temporär auf die Spermiendichte auswirken zu können. Letztlich ist die Konzentration der Spermien nur ein wichtiger Parameter – für die Fruchtbarkeit sind auch die eingangs erwähnten Faktoren Motilität und Morphologie oder die intakte Struktur des im Spermienkopf enthaltenen genetischen Materials ausschlaggebend. Zudem mögen KritikerInnen einwenden, dass bei Männern aus »westlichen« Ländern mit unklarer Fertilität die mittlere Spermiendichte am Ende des untersuchten Zeitraums noch bei 47 mal 106/ml lag (Levine et al. 2017). Das ist deutlich über dem empfohlenen Normwert von 15 mal 106/ml (WHO 2010).

Kein Grund zur Entwarnung

Geben derartige Überlegungen dann sogar Anlass zur Entwarnung? Besteht keine Gefahr für die Fortpflanzungsfähigkeit? In welcher Hinsicht sind die Ergebnisse überhaupt relevant? Zur Beantwortung dieser Fragen ist anzuführen, dass die Analyse von Levine und Team aus dem Jahr 2017 von statistischer Seite wohl nicht zu bemängeln ist und somit durchaus einen negativen Trend in der Spermiendichte bestätigt. Zudem muss die neue Studie im Zusammenhang mit anderen beunruhigenden Erkenntnissen gesehen werden. So traten bei Männern mit einer Spermiendichte unter 15 mal 106/ml vermehrt Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes oder Hodenkrebs auf im Vergleich zu Männern, die eine Spermiendichte über 40 x 106/ml aufwiesen (Latif et al. 2017). Damit nicht genug: auch für die Sterblichkeit ergab sich ein 2,2-fach erhöhtes Risiko, wenn die Spermienkonzentration unter 15 mal 106/ml lag, verglichen mit Männern mit normaler Spermiendichte (Eisenberg et al. 2014). Hieraus zu folgern, dass Infertilität die Ursache für andere Erkrankungen oder sogar für eine erhöhte Sterblichkeit wäre, ist jedoch ein gefährlicher Trugschluss. Vielmehr ist die Ejakulat-Qualität als ein wesentlicher Biomarker für die allgemeine Gesundheit anzusehen (Latif et al. 2017). Mit anderen Worten: Einschränkungen der in einem Spermiogramm erhobenen Parameter nebst Hodenhochstand, Hodenkrebs, aber auch Diabetes oder Herz-Kreislaufprobleme sind nach heutigem Erkenntnisstand Ausdruck eines negativen Einflusses äußerer Faktoren auf die menschliche Entwicklung. Um welche Faktoren könnte es sich hierbei handeln? Neben genetischer Disposition und dem individuellen Lebensstil (Rauchen, Alkohol, einseitige Ernährung, zu wenig Bewegung) sind auch hormonell wirksame Substanzen, sogenannte endokrine Disruptoren, in Verdacht geraten (Rosenbusch 2019, siehe DHZ 3/2019, Seite 76ff.).

Aktuelle Übersichtsartikel deuten darauf hin, dass Substanzen wie Bisphenol A, Triclosan, Parabene oder Phthalate die Spermienqualität beeinflussen (Zamkowska et al. 2018). Die hierfür in Frage kommenden Wirkmechanismen können je nach Substanz differieren und beinhalten beispielsweise Beeinträchtigungen der Testosteronsynthese oder der Proliferation der Sertoli-Zellen, die das Epithel der Samenkanälchen bilden (Rehman et al. 2018). Zusätzlich zu diesen Effekten mehren sich die Hinweise, dass endokrine Disruptoren auch bei der Entstehung chronischer Stoffwechselerkrankungen wie Typ 2 Diabetes oder Adipositas eine Rolle spielen.

Erst langsam beginnt man zu verstehen, auf welche Art und Weise dies erfolgt – diskutiert werden epigenetische Veränderungen in Zellen und Geweben. Hierzu existiert die Hypothese, dass Gesundheit und Krankheit ihren Ursprung in sehr frühen Stadien der Entwicklung haben. Schädigende Einflüsse innerhalb bestimmter kritischer Zeitfenster würden dann zu Veränderungen in der Genexpression oder der Organisation von Geweben führen, was sich unter Umständen erst später im Leben in Fehlfunktionen äußert (Heindel et al. 2017). Wenn also Störungen des Stoffwechsels und der Fortpflanzungsorgane in der frühen Embryonal- oder Fetalentwicklung entstehen, war das heute existierende Verbot von Bisphenol A in Babyflaschen zwar ein guter, aber nicht ausreichender Schritt. Der Schutz muss so früh wie möglich ansetzen, da Kinder wesentlich empfindlicher als Erwachsene auf geringste Schadstoffkonzentrationen reagieren. Zudem sind Schutzmechanismen wie ein kompetentes Immunsystem, Enzyme mit Entgiftungsfunktion oder die Blut-Hirn-Schranke im Fetus und Neugeborenen noch nicht voll funktionsfähig (Heindel et al. 2017).

Resümee

Die beschriebene »Spermienkrise« besagt nicht, dass Fortpflanzung auf natürlichem Weg bald unmöglich ist. Zusammen mit anderen Erkenntnissen deuten Studien zur Spermiendichte aber an, dass es einen bedenklichen Trend zur Verschlechterung der männlichen Fortpflanzungsfähigkeit sowie des allgemeinen Gesundheitszustands gibt. Dies und die mögliche Beteiligung von Umweltfaktoren sollte Anlass sein, dass insbesondere werdende Eltern dem Thema vermehrte Aufmerksamkeit schenken.

Zitiervorlage
Rosenbusch B: Spermakrise? DEUTSCHE HEBAMMEN ZEITSCHRIFT 2019. 71 (9): 64–67
Literatur

Brinkworth MH, Handelsman DJ: Umwelt- und arbeitsplatzbedingte Einflüsse auf die männliche Fertilität. In: Andrologie. Grundlagen und Klinik der reproduktiven Gesundheit des Mannes. E. Nieschlag, H. M. Behre. Springer Verlag 1996. 251–265

Carlsen E, Giwercman A, Keiding N, Skakkebaek NE: Evidence for decreasing quality of semen during past 50 years. BMJ 1992. 305 (6854): 609–613

Eisenberg ML, Li S, Behr B, Cullen MR, Galusha D, Lamb DJ, Lipshultz LI: Semen quality, infertility and mortality in the USA. Hum Reprod 2014. 29 (7): 1567–1574

Heindel JJ, Blumberg B, Cave M, Machtinger R, Mantovani A, Mendez MA, Nadal A, Palanza P, Panzica G, Sargis R, Vandenberg LN, vom Saal F: Metabolism disrupting chemicals and metabolic disorders. Reprod Toxicol 2017. 68: 3–33

Latif T, Kold Jensen T, Mehlsen J, Holmboe SA, Brinth L, Pors K, Skouby SO, Jørgensen N, Lindahl-Jacobsen R: Semen quality as a predictor of subsequent morbidity: a Danish cohort study of 4,712 men with long-term follow-up. Am J Epidemiol 2017. 186 (8): 910–917

Levine H, Jørgensen N, Martino-Andrade A, Mendiola J, Weksler-Derri D, Mindlis I, Pinotti R, Swan SH: Temporal trends in sperm count: a systematic review and meta-regression analysis. Hum Reprod Update 2017. 23 (6): 646–659

Rehman S, Usman Z, Rehman S, AlDraihem M, Rehman N, Rehman I, Ahmad G: Endocrine disrupting chemicals and impact on male reproductive health. Transl Androl Urol 2018. 7 (3): 490-503

Rosenbusch B: Hormonell wirksame Substanzen: Gefahr unterschätzt. DHZ 2019. 71 (3): 76–80

World Health Organization, Department of Reproductive Health and Research. WHO laboratory manual for the examination and processing of human semen. Fifth edition. 2010

Zamkowska D, Karwacka A, Jurewicz J, Radwan M: Environmental exposure to non-persistent endocrine disrupting chemicals and semen quality: An overview of the current epidemiological evidence. Int J Occup Med Environ Health 2018. 31 (4): 377–414

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