Dr. Oliver Tolmein ist Rechtsanwalt und Mitbegründer der Hamburger Kanzlei „Menschen und Rechte“: „Die Beratungspflicht – das dokumentieren die Zahlen – hat nicht erreicht, was sie sollte, nämlich späte Abbrüche zu verhindern.“ Foto: © privat
Wer sich heute im Internet informieren will über späte Abbrüche und Fetozid, also die gezielte Tötung eines Feten im Mutterleib, gewinnt den Eindruck, dass es sich dabei um ein historisches Thema handelt. Ob auf den Seiten des Deutschen Bundestages oder denen der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG), selbst bei der konservativen Organisation „Aktion Lebensschutz für Alle“ (ALfA) finden sich keine aktuellen Texte. Dabei war die Auseinandersetzung um die Schwangerschaftsabbrüche, die teilweise in einer Phase vorgenommen werden, in der die Feten günstigstenfalls als sehr kleine Frühgeborene lebensfähig sein könnten, lange Jahre einer der heikelsten bioethischen Streitpunkte. Bis in einer bemerkenswerten parlamentarischen Kraftanstrengung 2009 auf Basis eines fraktionsübergreifenden Antrages eine wichtige Ergänzung des Schwangerschaftskonfliktgesetzes (SchKG) vorgenommen wurde. Damals war mit § 2a eine Aufklärungs- und Beratungspflicht aufgenommen worden: „Sprechen nach den Ergebnissen von pränataldiagnostischen Maßnahmen dringende Gründe für die Annahme, dass die körperliche oder geistige Gesundheit des Kindes geschädigt ist, so hat die Ärztin oder der Arzt, die oder der der Schwangeren die Diagnose mitteilt, über die medizinischen und psychosozialen Aspekte, die sich aus dem Befund ergeben, unter Hinzuziehung von Ärztinnen oder Ärzten, die mit dieser Gesundheitsschädigung bei geborenen Kindern Erfahrung haben, zu beraten. Die Beratung erfolgt in allgemein verständlicher Form und ergebnisoffen.“
Nun könnte man angesichts des verbreiteten Schweigens auf der gesellschaftspolitischen Ebene meinen, dass dieser Ansatz erfolgreich war und die vor allem ethisch bedenkliche Situation beseitigt hätte, dass in einer nennenswerten Anzahl von Fällen bei Schwangerschaften wegen einer diagnostizierten Behinderung des Fetus selbst nach der 22. Woche ein Abbruch vorgenommen wird.
Wer die Internetseiten zur „Gesundheitsberichterstattung des Bundes“ aufruft, auf denen mittlerweile vergleichsweise detailliert über die Zahl der Spätabbrüche und die verwandten Methoden berichtet wird, dürfte allerdings Schwierigkeiten haben, das Verschwinden des Themas aus dem Blick der Öffentlichkeit nachzuvollziehen (siehe Link). Die Zahl der gemeldeten Abbrüche ab der vollendeten 22. Schwangerschaftswoche sind von 462 im Jahr 2010 kontinuierlich bis auf 584 im Jahr 2014 gestiegen – während im gleichen Zeitraum die Gesamtzahl der Schwangerschaftsabbrüche von 110.431 auf 99.715 zurückgegangen ist. Auch die meisten der in der Statistik aufgeführten 555 Fetozide dürften bei dieser wachsenden Untergruppe vollzogen worden sein.
Die Beratungspflicht – das dokumentieren diese Zahlen – hat nicht erreicht, was sie sollte: die Zahl der späten Schwangerschaftsabbrüche zu verringern, die aufgrund der sogenannten medizinisch-sozialen Indikation durchgeführt werden, die in § 218a Absatz 2 Strafgesetzbuch geregelt ist. Das erscheint deswegen prekär, weil der medizinisch-sozialen Indikation in vielen Fällen nichts anderes zugrunde liegt als eine Behinderung des Kindes: Das Augenmerk richtet sich nicht wirklich auf die bedrohte Gesundheit der Schwangeren, sondern auf die Behinderung des Kindes und die damit einhergehenden Belastungen der Familie im Falle einer Geburt. Die eugenische Indikation, die genau diesen Fall regelte, war aber abgeschafft worden mit der großen Reform des § 218, die zeitlich mit der Einführung des Benachteiligungsverbotes für Menschen mit Behinderungen ins Grundgesetz zusammenfiel. Schwangerschaftsabbrüche wegen Schädigungen des Fetus erscheinen nicht mehr akzeptabel – in einer Zeit, die durch das zunehmend gewichtiger werdende Antidiskriminierungsrecht, die Verabschiedung der UN-Behindertenrechtskonvention und die allgemeine Anerkennung von Diversity geprägt ist.
Gleichzeitig sind sie aber auf engste verknüpft mit der Entwicklung immer neuer, immer früher und für immer größere Zielgruppen eingesetzter Diagnosemethoden. Diese sollen Abweichungen vom Mindeststandard an Physis, Psyche und intellektueller Ausstattung, die die Gesellschaft heute bei ihren Mitgliedern erwartet, entdecken.
Der äußerste Gegensatz zum späten Schwangerschaftsabbruch ist insofern die Präimplantationsdiagnostik (PID). Beide Formen der Selektion sind ethisch bedenklich: Die PID ermöglicht die freie Wahl der Selektionskriterien und damit auch eine positive Selektion, eine Eugenik im eigentlichen Sinn. Es werden nicht die Träger „schlechter“ Eigenschaften ausgesondert, es können auch die Träger gewünschter Eigenschaften bevorzugt werden. Die Verbindung zur Frau, die die Schwangerschaft austragen soll, ist dagegen noch lose, die Einheit von Körper der Schwangeren und Körper des Fetus, die die Schwangerschaft selbst auszeichnet, ist hier gerade nicht gegeben. Der Spätabbruch erlaubt dagegen einen Abbruch bei einem besonders weit entwickelten, oftmals lebensfähigen Fetus, dessen spätere Eigenschaften daher auch besonders gut erfasst werden können. Die Verbindung zur Schwangeren ist einerseits aufgrund der Dauer der Schwangerschaft besonders eng, andererseits angesichts der wachsenden grundsätzlichen Lebensfähigkeit außerhalb des Mutterleibs auch zunehmend lose. Gerade das macht ein besonderes ethisches Dilemma dieser Abbrüche aus: Sie erscheinen uns als besonders schwerer Eingriff. Der späte Schwangerschaftsabbruch und der Fetozid in der 23. Schwangerschaftswoche haben mit der Früheuthanasie mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede. Das lässt sich besonders dramatisch an der Geschichte von „Tim“ nachvollziehen. Der heute 18-Jährige überlebte 1997 nicht nur den Schwangerschaftsabbruch (nach Diagnose einer Trisomie 21), sondern auch neun Stunden, die er schwer durchlitt, weil die Ärzte hofften, er werde doch noch sterben (und sie würden damit der Gefahr der Haftung für ein nicht gewolltes Leben entgehen). Tim war 32 Zentimeter groß und 690 Gramm schwer.
Heute kommt es darauf an, das Scheitern der Gesetzesänderung von 2009 zu konstatieren. Das ist deswegen nicht einfach, weil eine Alternative dazu nicht leicht zu benennen oder zu entwickeln ist. Das Strafrecht ist in Sachen Schwangerschaftsabbruch nicht nur ein stumpfes, sondern auch ein besonders untaugliches Instrument. Frauen mit Strafe zu bedrohen, weil sie sich und ihren Familien nicht zutrauen, ein Kind mit einer Behinderung groß zu ziehen, ist ethisch nicht akzeptabel. Das gilt vor allem, weil in unserer Gesellschaft die Inklusion das vom Recht formulierte, eher selten und nur punktuell eingelöste Versprechen ist. Dagegen prägen Exklusion, Barrieren und sozialrechtliche Einschränkungen aber als allgegenwärtige gesellschaftliche Praxis das Leben der Betroffenen und ihrer Familien.
Mithin bleibt zuerst einmal, das Problem überhaupt wieder sichtbar zu machen und darüber zu reden. Damit wenigstens die vom Gesetzgeber verordnete statistische Erfassung ihren Zweck erfüllen kann: eine Basis dafür zu legen, dass man wissen kann, worum es geht und welches Ausmaß die beschriebenen Probleme haben. Dabei geht es nicht allein um die Zahl, sondern vor allem um die Qualität der Vorgehensweise. Der späte Schwangerschaftsabbruch und der Fetozid machen in besonderem Maße deutlich, wie weit unsere Gesellschaft bereit ist, ethische Bedenken zugunsten einer reinen Zielorientierung beiseite zu schieben, um die Geburt von Menschen mit Behinderung zu verhindern.