
Internationale Standards für hebammengeleitete Begleitung und Einrichtungen bieten einen weiten Rahmen, um sich der Grundsätze klar zu werden und diese nach Möglichkeit bereits direkt im Gründungsprozess oder auch im Nachhinein zu verankern. Das Midwifery Unit Network (MUNet) in Großbritannien hat dafür grundlegende Standards erarbeitet. Sie bieten wichtige Evidenzen und setzen Schwerpunkte für eine gelingende kontinuierliche Betreuung, die auch die Arbeitsbedingungen des Teams mit in den Blick nimmt.
Die American Association of Birth Centres (AABC) hat 1985 ihre ersten Standards für Geburtshäuser verabschiedet. In Großbritannien veröffentlichte das Royal College of Midwives (RCM) 2009 »Standards for midwife-led birth centres«. Das Midwifery Unit Network (MUNet) in Großbritannien hat 2018 auf dieser Grundlage und der Grundlage der aktuellen Forschung sowie der international gebündelten Erfahrung die zurzeit aktuellsten Standards herausgearbeitet (Rayment et al., 2020).
» Kontinuität, Vertrautheit und ein einheitliches bio-psycho-soziales Betreuungsmodell, das die Physiologie bewusste fördert, sind die wichtigsten Schlüsselelemente für eine gelingende Eins-zu-eins-Betreuung. «
Wesentliche der 29 durch das Netzwerk zusammengetragenen und ausgearbeiteten Standards sollen hier beispielhaft besprochen werden, da sie die grundlegenden Säulen, die die guten Outcomes von hebammengeleiteten kontinuierlichen Betreuungsmodellen stützen, sehr gut darlegen und illustrieren.
Gemeinsame Philosophie und Werte
Der erstgenannte grundlegende Standard sieht vor, dass die hebammengeleitete Einrichtung über »eine schriftliche Vereinbarung zur Betreuungsphilosophie, auf die sich alle Beteiligten einigen müssen, verfügen sollte« (MUNet, 2018:10). Erklärtes Ziel solle die »Förderung physiologischer Verläufe sein und dass Interventionen in Bezug auf die besten klinischen Erkenntnisse erwogen und gerechtfertigt werden sollen. […] Die hebammengeleitete Einrichtung soll ein Umfeld bieten, das ein bio-psycho-soziales Betreuungsmodell und den Aufbau von Beziehungen […] sowie eine entspannte Atmosphäre, Privatsphäre und Würde schützt und fördert […] und die Autonomie der Frau grundlegend anerkennt.« Ziel ist »die Bereitstellung eines ganzheitlichen, frauen- und familienorientierten Betreuungsangebots, das auf die Lebenswirklichkeit der Menschen eingeht und gleichen Zugang, Gleichberechtigung, kulturelle Vielfalt und Integration fördert« (MUNet, 2018:10).
Forschungsergebnisse deuten darauf hin, dass die Erfahrungen von Familien und ihren Hebammen positiver sind, wenn die Betreuung gut koordiniert ist und das Team eine gemeinsame Philosophie und gemeinsame Werte hat (Rocca-Ihenacho et al., 2017; Allen et al., 2016; Boyle et al., 2016; Sandall et al., 2016; McAra-Couper et al., 2014)
Andere MUNet-Standards sehen weitere schriftliche Vereinbarungen vor, die Maßnahmen zur Förderung der Autonomie und Eigenverantwortung des Personals der hebammengeleiteten Einrichtung und der Förderung einer offenen, positiven, partizipativen Kommunikation innerhalb des Teams und mit allen multidisziplinären Kooperationspartner:innen festlegt und stärkt (MUNet, 2018:11–12).
Frühere Forschungen zu Midwifery Units (MU) deuten darauf hin, dass sie gut funktionieren, wenn es vertrauensvolle Beziehungen im Team, eine Philosophie des Austauschs bewährter Verfahren, sprich des Voneinander-Lernens sowie der partizipativen Mitgestaltung aller Prozesse und Entscheidungen gibt, die die Zusammenarbeit betreffen (Rocca-Ihenacho et al., 2017; Rayment et al., 2015; McCourt et al., 2011/2014).
Autonomie, Empowerment und Zufriedenheit
Hebammen, die bereits in hebammengeleiteten kontinuierlichen Betreuungsmodellen arbeiten, zeigen in Erhebungen aus Neuseeland, Australien und Dänemark signifikant niedrigere Werte auf den Bournout- und Depressionsskalen und gleichzeitig signifikant höhere Werte für ihr Erleben von Autonomie, Empowerment und Zufriedenheit mit ihrer Rolle als Hebamme im Vergleich zu Kolleg:innen, die in Parallelbetreuungsmodellen arbeiten (Fenwick et al., 2018; Jepsen et al., 2017; Dixon et al., 2017; Newton et al., 2014). Dies verdeutlicht, wie wesentlich das Erleben und die Förderung der Autonomie in der Rolle als Hebamme für die Arbeitszufriedenheit, aber auch für die Sicherung besserer Outcomes ist (Fenwick et al., 2018; Sandall et al., 2016).
Daher sehen die Standards des Midwifery Unit Network konkrete Protokolle vor, die die Autonomie der Hebammenarbeit auch und im besonderen in Kooperationen mit Kliniken absichern und es eben nicht zu einer Art »Scheinselbstständigkeit« kommt, wie es in manchen Beleghebammen-Team-Konzepten in deutschen Kliniken bereits vorgekommen ist. Dort tragen die Kolleg:innen am Ende zwar den organisatorischen Aufwand und die Verantwortung der Selbstständigkeit, haben aber bezüglich der klinikinternen geburtshilflichen Leitlinien und Protokolle nur ein eingeschränktes Mitspracherecht.
Die federführende Mitgestaltung der klinikinternen Leitlinien ist für hebammengeleitete Kreißsäle eine ganz wesentliche Grundlage. In Geburtshäusern ist die gemeinsame Erarbeitung der internen Leitlinien bereits gelebte Realität, die sich sehr positiv auf das Selbstverständnis und die berufliche Zufriedenheit der Hebammen (Fenwick et al., 2018; Jepsen et al., 2017; Dixon et al., 2017; Newton et al., 2014), aber eben auch auf die Outcomes der betreuten Familien (Walsh et al., 2018; Hollowell et al., 2017; MMPO, 2016) auswirkt.
Erforderliche Hebammen-Skills definieren
»Da die meisten Hebammen nach wie vor hauptsächlich in Kliniken ausgebildet werden, ist es wichtig, dass alle Hebammen bei der Entwicklung der Philosophie, des Wissens und der Fähigkeiten unterstützt werden, die für die Betreuung von Frauen in hebammengeleiteten Geburtsstationen erforderlich sind (Rocca-Ihenacho et al., 2017; Walker et al., 2018).« (MUNet, 2018:15). Daher sollte es gut ausgearbeitete Standards zum Einarbeitungskonzept und für die Ausbildung werdender Hebammen sowie die regelmäßige Durchführung von beruflichen Team-Fortbildungen geben. Ein weiterer wichtiger Standard legt fest, dass es eine schriftlich vereinbarte Liste von Kenntnissen und Fähigkeiten gibt, die Hebammen für die Arbeit in hebammengeleiteten Einrichtungen benötigen. Als sehr grundlegend wird ein umfassendes, wissenschaftlich fundiertes, aktuelles Verständnis vor allem der Physiologie, aber auch der Pathophysiologie beschrieben, und damit auch die Fähigkeit, eine respektvolle, ressourcenorientierte Betreuung zu gewährleisten. Dies beinhaltet unter anderem die Beherrschung von Kommunikations- und anderen unterstützenden Techniken für die Begleitung von aktiven Geburten, unter anderem zur Förderung der Entscheidungs- und Bewegungsfreiheit und das Angebot von nicht-medikamentösen Schmerztherapien etwa durch den geschulten Einsatz der Gebärwanne (MUNet, 2018:15).
Weitere Kompetenzen, über die die Hebammen verfügen sollten, sind »reflektierende und reflexive Fähigkeiten und Verständnis dafür, wie man Evidenzen und Leitlinien als Leitfaden und nicht als Regeln für einzelne Gebärende nutzen kann« (MUNet, 2018:15). Es werden auch klassische Hebammenkompetenzen wie Fähigkeiten zur Beurteilung des fetalen Wohlbefindens einschließlich der Beherrschung der leicht zu erlernenden intermittierenden Auskultation, das Management von geburtshilflichen, nicht operativen Notfällen, das Legen von intravenösen Zugängen, die Verabreichung von Medikamenten, das Nähen von Geburtsverletzungen und die Erstuntersuchung des Neugeborenen vorausgesetzt.
Reihe
Gesundheitsförderung durch Eins-zu-eins-Betreuung
Die Hebamme Nele Krüger hat den Wechsel vom regulären Parallelbetreuungssystem im Kreißsaal zur Eins-zu-eins-Betreuung erlebt und vielschichtig reflektiert (siehe auch DHZ 12/2023 und DHZ 2, 3, 4, 8, 9 und 10/2024). Das hat ihr Forschungsinteresse für theoretische Konzepte und empirische Untersuchungen geweckt: Warum hat die kontinuierliche Eins-zu-eins-Betreuung ein so gutes Outcome und so viele gesundheitsfördernde Effekte – nicht allein für die betreuten Familien, sondern auch für die Hebammen?
- Teil 1: Gemeinsam stark
- Teil 2: Zurückhaltung braucht Zeit
- Teil 3: Auf Augenhöhe
- Teil 4: Cool-out verhindern
- Teil 5: Eine andere Geburtshilfe ist möglich
- Teil 6: Evidenzen endlich ernst nehmen!
- Teil 7: Kontinuität nachhaltig fördern
- Teil 8: Implementierung wissenschaftlich begleiten
Interne Leitlinien, Strategien und Verfahren
Weitere Standards des MUNets legen fest, dass die hebammengeleitete Abteilung neben einer schriftliche Vereinbarung zur Betreuungsphilosophie, auf die sich alle Beteiligten einigen müssen, über interne evidenzbasierte Leitlinien, Strategien und Verfahren verfügen sollen, die regelmäßig evaluiert werden. Diese sollten unter anderem Kriterien zur Eignung von Schwangeren für eine hebammengeleitete Betreuung (z.B. NICE, 2014; RQIA/GAIN, 2015; Healy & Gillen, 2017) und klare evidenzbasierte Richtwerte zur Betreuung von Geburten, aber auch Verfahrenswege für Notfälle und Verlegungen sowie für Zusammenarbeit, je nach Art der hebammengeleiteten Einrichtung interinstitutionell oder in kooperierenden Kliniken beinhalten (MUNet, 2018:22).
Um die multidisziplinäre Zusammenarbeit zu fördern, sollen auch spezifische Überweisungspfade angelegt sein, beispielsweise für die Kooperation mit der lokalen Gesundheits- und Sozialfürsorge; für die Überweisungen an die Primärversorgung an Allgemeinmediziner:innen, aber auch an Fachärzt:innen wie Gynäkolog:innen und Kinderärzt:innen, Psychiolog:innen und andere unterstützende Netzwerke (MUNet, 2018:13).
Die notwendige Personalausstattung einer hebammengeleiteten Einrichtung soll ein Kernteam von Mitarbeiter:innen und eine spürbare und beständige und den Transformationsprozess fördernde Hebammenleitung oder ein Hebammen-Leitungsteam vor Ort umfassen. Dabei soll die Anzahl der Hebammen ausreichen, um einen 24-Stunden-Dienst abzudecken beziehungsweise um eine dementsprechende Rufbereitschaft zu gewährleisten, die je nach Einrichtung auch von zu Hause aus gewährleistet werden kann. Ganz klar festgelegt ist das oberste Gebot die Sicherstellung der Eins-zu-eins-Betreuung während des Geburtsprozesses und der Kontinuität in allen anderen Betreuungsbereichen (MUNet, 2018:14).
Ein weiterer Standard basiert auf den positiven Erfahrungen mit den staatlich geförderten britischen Midwifery Units aus den letzten Jahrzehnten und beschreibt die hebammengeleitete Einrichtung als einen »in die örtliche Gemeinschaft integrierten Knotenpunkt […], der allen Schwangeren aus der Umgebung für eine persönliche und individuelle Beratung und Betreuung zugänglich sein soll, unabhängig davon, wo sie gebären wollen. […] Die Hebammenabteilung verfolgt die Philosophie, so früh wie möglich zu informieren und Entscheidungen offen zu halten« (MUNet, 2018:13).
In Bezug auf die hebammengeleiteten Geburtshilfestation »könnte die Integration in der Gemeinde darin bestehen, dass Hebammen aus der Gemeinde Schichten in der Geburtshilfestation übernehmen und/oder dass Beleghebammen die Frauen bei den Wehen in die hebammengeleitete Station begleiten.« (MUNet, 2018:14). Alle Familien, »die die hebammengeleitete Einrichtung nutzen, haben Zugang zu unterstützenden pränatalen und postnatalen Diensten, einschließlich proaktiver Unterstützung bei körperlichen oder emotionalen Veränderungen, bei der Säuglingsernährung sowie beispielsweise beim Hörscreening, der Neugeborenenuntersuchung oder ärztlichen Untersuchung. Dabei »gibt es einen individuellen Betreuungsplan und eine benannte Fachkraft, die für die Betreuung der Frau und des Babys verantwortlich ist« (MUNet, 2018:13).
Diesen Betreuungsumfang können die britischen Midwifery Units unter anderem durch die staatliche Unterstützung abdecken. In Deutschland sind wir leider noch weit davon entfernt, dass hebammengeleitete Einrichtungen Anlaufstellen für alle Schwangeren einer Region sein könnten. Aber am britischen und neuseeländischen Modell können wir sehen, dass es möglich ist.
Der 27. und abschließende Standard des Midwifery Units Networks ermuntert hebammengeleitete Einrichtungen, beständiges Engagement für eine kontinuierliche Verbesserung zu zeigen.
Kontinuität ab der Schwangerschaft
In den Studien zur nachhaltigen Arbeit in hebammengeleiteten Einheiten und in der Eins-zu-eins-Betreuung werden immer wieder ähnlich Aspekte aufgezeigt. Ein wesentlicher Aspekt ist, dass die Eins-zu-eins-Betreuung nur gelingen kann, wenn es eine tatsächliche Kontinuität gibt (Perriman et al., 2018; Jepsen et al., 2017; Sandall et al., 2016). Das heißt, dass sich die Familien und die Hebammen, die sie dann bei der Geburt begleiten, tatsächlich bereits aus der Schwangerenvorsorge kennen (Flade, 2020; Mortensen et al., 2019; Perriman et al., 2018; Jepsen et al., 2017; Boyle et al., 2015; Jenkins et al., 2015) beziehungsweise die Schwangerenbegleitung wenigstens federführend durch Hebammen geleitet wird (Sandall et al., 2016). In der Studie von Jane Sandall und ihren Kolleg:innen konnte beispielsweise gezeigt werden, dass bei der hebammengeleiteten kontinuierlichen Betreuung die Frühgeburtenrate um 24 % niedriger lag als in der Vergleichsgruppe mit fragmentierter Betreuung aus einer Stichprobe von 17.400 Frauen und Kindern (Sandall et al., 2016). Die Kontinuität scheint also ein sehr wesentlicher Punkt zu sein.
Wenn jetzt einfach aufgrund der Studienlage zur gesundheitsförderlichen Wirkung der Eins-zu-eins-Betreuung diese in den Kliniken implementiert werden soll, wie es von hochrangigen Leitlinien empfohlen wird, so kann dies nur gelingen, wenn gleichzeitig auch in kleinen hebammengeleiteten Teams gearbeitet wird, damit eine Vertrautheit mit den Familien entstehen kann, die den gesamten Betreuungsbogen von Schwangerenvorsorge, Geburt bis ins Wochenbett begleiten. Wenn eine größere Gruppe von Familien betreut werden soll, empfiehlt es sich, dass mehrere kleine Teams parallel arbeiten, damit diese Vertrautheit entstehen kann (MUNet, 2018:14).
Denn wir wissen beispielsweise aus England und Australien, wo es bereits häufig eine gesicherte Eins-zu-eins-Betreuung in den Kreißsälen gibt, sogar in Megakliniken mit mehr als 10.000 Geburten pro Jahr und Hebammenteams mit über 50 Mitarbeiter:innen, dass dies nicht zwangsläufig heißt, dass auch die PDA-, Sectio- und die allgemeinen Interventionsraten sinken (Tracy et al., 2013).
Bio-psycho-soziale Betreuungsmodelle
Die höchste Rate an vaginalen und interventionsarmen Geburten finden sich nach wie vor in Freestandig Midwifery Units (FMU) (Walsh et al., 2018; Hollowell et al., 2017; MMPO, 2016). Die guten Ergebnisse der Eins-zu-eins-Betreuung lassen sich nicht einfach über einen besseren Betreuungsschlüssel oder über die Risikoselektion erklären, denn »eine erfolgreiche Eins-zu-eins-Betreuung ist mehr als ein reines Zahlenverhältnis« (Keller, 2023:21). Es geht um einen ganzheitlichen Ansatz (Walsh & Newburn, 2002) und um Kontinuität (Walsh et al., 2018; Sandall et al., 2016). Forschende konnten aufzeigen, dass hebammengeleitete Einrichtungen sehr häufig ein holistisches, bio-psycho-soziales Betreuungsmodell übernehmen und fördern, das auf körperliche, psychologische und soziale Bedürfnisse eingeht (Macfarlane et al., 2014a, 2014b; McCourt et al., 2014/2012; Walsh & Newburn, 2002). Dieses Modell fördert, wie die Forschung zeigt, nachhaltig die Gleichberechtigung zwischen den Familien und den Hebammen, die körperliche Autonomie und die informierte Entscheidungsfindung der Frauen (Macfarlane et al., 2014a, 2014b; McCourt et al., 2014/2012; Overgaard, 2012a/b).
» In Deutschland sind wir leider noch weit davon entfernt, dass hebammengeleitete Einrichtungen Anlaufstellen für alle Schwangeren einer Region sein könnten. «
Positive partizipative Arbeitskultur
Kontinuität, Vertrautheit und ein einheitliches bio-psycho-soziales Betreuungsmodell, das die Physiologie bewusste fördert, sind die wichtigsten Schlüsselelemente für eine gelingende Eins-zu-ein-Betreuung (Flade, 2020; Mortensen et al., 2019; Perriman et al. 2018; Walsh et al. 2018; Keller, 2018; Jepsen et al., 2017; Sandall et al., 2024/2016; Boyle et al., 2015; Jenkins et al., 2015).
Um solch eine perinatale Betreuung anbieten zu können, ist es wichtig, ein förderliches stärkendes Arbeitsumfeld für Hebammen zu schaffen, um sicherzustellen, dass das Team eine positive, partizipative Arbeitskultur pflegen kann und eine gute und vor allem nachhaltige Basis für eine kontinuierliche hebammengeleitete Betreuung bietet (McCourt et al., 2011, 2014; Rocca-Ihenacho et al., 2017) und damit zu ähnlich guten Ergebnissen führen kann, wie sie in der internationalen Studienlage zur kontinuierlichen Hebammenbetreuung abgebildet ist (Fikre et al., 2023; Oosthuizen et al. 2019; Jing et al., 2018; Sandall et al., 2014/2016; McLachlan et al., 2015; Wong et al., 2015; Hodnett et al., 2013; Tracy et al., 2014) .
Hindernisse bei der Implementierung
Die promovierte Hebammenwissenschaftlerin Florence Darling und ihre Kolleg:innen von der City Universität London untersuchten im Rahmen ihrer Forschungsarbeit Faktoren, die die Umsetzung evidenzbasierter Praktiken zur Unterstützung physiologischer Geburten in geburtshilflichen Einrichtungen fördern oder behindern. Dazu setzten sie sich mit 32 Originalstudien auseinander, die sich mit dieser Fragestellung befassen. Ihre Reviews (Darling, F. et al., 2019/2021a) zeigen auf, dass die weit verbreitete Risikowahrnehmung von Geburten immer wieder eines der wesentlichen Hindernisse darstellt.
Gravierend sei, dass im Gegensatz zu den Leitlinien, die aufgrund der Studienlage immer deutlicher einen physiologieorientierten Ansatz empfehlen, in den meisten geburtshilflichen Abteilungen weiterhin ein risikobasierter Ansatz angewandt wird (Darling, F. et al., 2021a). »Dies führte zu einer Vorgehensweise, die auf Risikoüberwachung und aktiver Geburtsleitung basiert. Geburtshelfer:innen, die eine starke Risikowahrnehmung bei der Geburt haben, üben Kontrolle über andere Fachkräfte aus, um einen risikobasierten Ansatz anzuwenden. Ein wichtiges Hindernis ist ihre Abneigung, diese Macht abzugeben.« (Darling, F. et al., 2019:9)
Dabei werden inzwischen viele gängige Maßnahmen und der auf bloße Risikoberechnung basierende Betreuungsansatz der aktiven Geburtsleitung – das sogenannte »Active Management« – aufgrund der Studienlage als nicht oder ungenügend evidenzbasiert eingestuft (Hofmeyr, 2023; Gaudernack et al., 2018; Dalbye et al., 2019; Cohain, 2013). Viele Forschungsarbeiten belegen inzwischen deutlich die mit der aktiven Geburtsleitung beispielsweise über Syntocinon-Gaben und Amniotomien verbundenen Risiken und signifikant schlechteren Outcomes für Mütter und Kinder (Gaudernack et al., 2018; Dalbye et al., 2019.; Bernitz et al., 2014; Cohain, 2013; Belghiti et al., 2011; Bugg et al., 2011; Selin et al., 2009; Verspyck & Sentilhes, 2008; Simpson & James, 2008; Oscarsson et al., 2006).
Betreuungsansätze, die auf der evidenzbasierten Praxis und Leitlinien zur Unterstützung physiologischen Geburten basieren, werden hingegen in vielen Kliniken nur zögerlich umgesetzt (Walsh et al. 2020; Darling et al., 2019a). Daher ist es so wichtig, diese evidenzbasierten Herangehensweisen schriftlich in den internen Leitlinien zu fixieren, gerade wenn es um Hebammenkreißsäle geht und wie in den MUNet-Standards vorgesehen (MUNet, 2018).
Des Weiteren formulieren Florence Darling und ihr Forschungsteam als Schlussfolgerungen für die Praxis, dass das Machtungleichgewicht zwischen Hebammen und Gynäkolog:innen auf offizieller Ebene thematisiert und gezielt angegangen werden muss, wobei auf Erfahrungen von Abteilungen zurückgegriffen werden sollte, in denen die Zusammenarbeit und die Gleichberechtigung der Hebammen bereits erfolgreich gefördert werden konnte (Darling, F. et al., 2019/2021). Zu den unterstützenden Faktoren für die Umsetzung evidenzbasierter Praktiken zur Stärkung der Physiologie gehörten also die Zusammenarbeit von Hebammen und Gynäkolg:innen bei der Umsetzung dieser Praktiken, die Beteiligung von Hebammen an Entscheidungsprozessen und organisatorische Bemühungen zur Stärkung der Gleichberechtigung von Hebammen (Darling, F. et al., 2019).
Ebenfalls wesentlich für die Argumentation zur Umsetzung evidenzbasierter Praktiken zur Förderung physiologischer Geburten sei es auch, die inzwischen umfassende Studienlage zu Erfahrungen von Familien in geburtshilflichen Einrichtungen sowohl im Parallelbetreuungssystem als auch in der hebammengeleiteten Betreuung weiter zu differenzieren und zu nutzen, denn die Ergebnisse sprechen sehr eindeutig für die hebammengeleitete Betreuung (Darling, F. et al., 2019).
Ergänzend hierzu setzen sich der Hebammenwissenschaftler Denis Walsh und seine Kolleg:innen gezielt mit den Hindernissen für die Akzeptanz von hebammengeleiteten Einrichtungen in Großbritannien auseinander. Obwohl ihre Anzahl seit 2011 fast verdreifacht werden konnte und in der Erhebung von 2020 15 % aller Geburten dort stattfinden, reiche das Angebot aus Sicht der Wissenschaftler:innen nicht aus, um der Evidenzlage zu den signifikant besseren Outcomes der hebammengeleiteten kontinuierlichen Betreuung konsequent zu folgen (Walsh et al., 2020).
Das Forschungsteam kommt zu dem Schluss, dass vor dem Hintergrund einer historisch gewachsenen geburts- und intensivmedizinisch ausgerichteten Versorgung und der mangelnden Sensibilisierung der Entscheidungsträger:innen für die mittlerweile international gefestigte Studienlage zum klinischen Outcome und der Wirtschaftlichkeit der hebammengeleiteten Betreuung die meisten Klinik-Manager:innen, leitenden Kreißsaalhebammen und -ärzt:innen die klinische Relevanz der hebammengeleiteten Einrichtungen an ihren Häusern unterschätzen und diese unzureichend fördern. Hierbei spielen laut der Analyse von Denis Walsh und seinen Kolleg:innen genau wie in den Ergebnissen von Florence Darling und ihrem Team unter anderem auch die weit verbreitete unzureichend evidenzbasierte Medikalisierung der Geburtshilfe und institutionelle Normen, die den Status quo schützen, eine entscheidende Rolle und müssen von der Klinikleitung und Politik gezielt adressiert werden (Darling et al., 2019; Walsh et al., 2020).
Walsh und sein Team appellieren hier an die Wissenschaftlichkeit und die Wirtschaftlichkeit: »Es muss an optimalen Ansätzen gearbeitet werden, um das Verständnis und die Nutzung klinischer und wirtschaftlicher Evidenzen bei der Gestaltung von Dienstleistungen durch Entscheidungsträger zu verbessern.« (Walsh et al., 2020:1).
» Wenn eine größere Gruppe von Familien betreut werden soll, empfiehlt es sich, dass mehrere kleine Teams parallel arbeiten, damit Vertrautheit entstehen kann. «
Zugang für alle
Ebenso wichtig sei es deswegen auch, weiter daran zu arbeiten, dass Familien über die Studienlage zum sicheren Geburtsort neutral aufgeklärt werden. Denn sowohl Denis Walsh und Elizabeth Darling und ihr Forschungsteams als auch die britische Hebammenwissenschaftlerin Kirstie Coxon und ihre Kolleg:innen, die 20 Studien zur Wahl des Geburtsortes zusammengefasst haben, kommen zu dem Schluss, dass Familien immer noch unzureichende Informationen über die Evidenz zu und die verfügbaren Optionen und das Recht auf die freie Wahl eines Geburtsortes erhielten (Walsh et al, 2020; Darling, E., et al., 2019; Coxon et al., 2017).
»Um den Zugang von Frauen zu Informationen über hebammengeleitete Betreuung zu verbessern, sind weitere Studien zum Verständnis und zur Kommunikation von Evidenzen durch Fachkräfte erforderlich« (Walsh et al., 2020:1). Dies sei auch wichtig um gesamtgesellschaftlich besser aufzuklären und den Familien tatsächlich Wahlfreiheit zu ermöglichen, die auf evidenzbasierten Informationen beruhen und nicht auf Vorurteilen (Coxon et al., 2017).
Best Practices des Veränderungsmanagements
In der Studie: »Lessons learned from the implementation of Canada‘s first alongside midwifery unit (AMU)« setzen sich die kannadische Hebammenprofessorin Elizabeth Darling und ihre Kolleginnen damit auseinander, was wir von der Einführung von Kanadas erster hebammengeleiteter Einrichtung mit Klinikanbindung lernen können.
Sie fanden verschiedene Faktoren, die relevant waren und großen Einfluss hatten – unter anderem die Systemvoraussetzungen für die Veränderung und die Bereitschaft des Systems für die Innovation, Kommunikation und Kooperation und die umfassende Unterstützung in der Planungs- und Implementierungsphase.
Faktoren, die für nachfolgende ähnliche Projekte übernommen werden könnten, sind gezielte Investitionen in die Entwicklung von Hebammen-Führungskompetenzen und die bewusste Anwendung der Theorie und Best Practices des Veränderungsmanagements und der Systemtransformation bei Bedarf mit Unterstützung durch externen Beratung und Begleitung beispielsweise durch das MUNet, die sich hierauf spezialisiert haben. Als sehr förderlich erwiesen sich auch die breite Einbeziehung von Interessenvertreter:innen – in Deutschland wäre das beispielsweise Mother Hood e.V. – in den Planungs- und Umsetzungsprozess sowie eine häufige, offene Kommunikation, um die laut Evidenzlage dringend angezeigte Implementierung von AMUs und FMUs erfolgreich voranzutreiben (Darling, E. et al., 2021).