Hanna Judith Pretzell: „Als Therapeutin bin ich das seelische Gefäß für Eltern und Kind und ,entgifte‘ diese schwierigen Seins-Momente mit ihnen.“ Foto: © Juliane Pretzell

Säuglinge und Kleinkinder mit Schlaf-, Schrei-, Ess- und Entwicklungsstörungen sind nicht in der Lage, ihre inneren Bedürfnisse zu äußern oder sich selbst zu beruhigen und zu regulieren. Sie brauchen einen verstehenden Erwachsenen, der sie hält, was wir Containing nennen. Die Säuglings-Kleinkind-Eltern-Psychotherapie (SKEPT) unterstützt junge Familien dabei. 

Angelica Ensel: Frau Pretzell, Sie begleiten als analytische Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeutin junge Eltern, die oft völlig verzweifelt sind, weil sie mit ihrem Baby nicht zurechtkommen. Seit wann ist eigentlich der „kompetente Säugling” in den Mittelpunkt der Psychotherapie und Bindungsforschung gerückt?

Hanna Judith Pretzell: Die Säuglingsforschung hat Mitte der 1990er Jahre einen Quantensprung gemacht. Besonders wichtig war hier der Soziologe und Psychoanalytiker Martin Dornes mit seinem Buch „Der kompetente Säugling” aus dem Jahr 1993. Er hat insbesondere die feine Beziehungs-Interaktion in den Blick genommen und festgestellt, dass der Säugling sehr viel kompetenter ist, als es bis dahin angenommen wurde. Wir haben dieses Wissen also schon recht lange. Für uns PsychotherapeutInnen gab es aus meiner Sicht aber einen Stillstand, denn erst seit 2002 ist die Säuglings-Kleinkind-Eltern-Psychotherapie – kurz: SKEPT – eine Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung. Davor hat die Kassenärztliche Vereinigung den Standpunkt vertreten, dass ein Säugling nicht zu behandeln sei. Erst eine Klage am Sozialgericht gegen die Kassenärztliche Vereinigung in Baden-Württemberg hat damals den Durchbruch gebracht. Seither ist SKEPT offizielle Kassenleistung.

Seit jeher sind frühe Bindungsstörungen ein großes Thema bei den Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeuten, aber ganz wenige führen Säuglings- oder Kleinkind-Eltern-Psychotherapie durch.

Warum sind es nur so wenige?

Ich denke, dass die Psychotherapie schon immer einen Schwerpunkt auf dem Sprachlichen hat und dass das Vorsprachliche und das Pränatale auch Furcht auslösen kann. Hauptsächlich die Mütter müssen dabei auch eine innerseelische Regression auf ihre eigene, sehr frühe Entwicklungsebene durchschreiten und auf eine sehr frühe Fühlebene zugehen. Das macht sie einerseits sehr empfänglich und offen für neue Entwicklungen und andererseits störanfällig. Diesen inneren Weg muss eine Psychotherapeutin mitgehen. Auch sie selbst muss sich auf diese präverbale Ebene, diese frühe Entwicklungsstufe begeben, also diese Regression innerseelisch mit berühren und mit der Mutter durchschreiten. Ich vermute, dass das bei uns Therapeuten auch Angst auslösen kann.

Dorothea Ensel: Normalerweise ist eine Therapie ein Eins-zu-eins-Setting, wenn es keine Paartherapie ist. Hier kommen nun zwei oder drei Menschen zur Therapie, also ein ganzes System. Das ist sicher auch eine Herausforderung?

Ja, es ist eine sehr viel aktivere Technik, als wir es gewohnt sind. Wir sind normalerweise eher zurückhaltend. Bei der Säuglings-Kleinkind-Eltern-Psychotherapie geht es sehr stark um das Affektive, um das Reagieren auf den Säugling und die Reaktion der Eltern. Es geht darum, dies aufzunehmen, einen innerseelischen Raum dafür bereitzustellen und die unterschiedlichen Ebenen dieses szenischen Geschehens wahrzunehmen, in dem sich die Problematik im Hier und Jetzt der Therapiesitzung zeigt.

Angelica Ensel: Worauf basiert dieser Therapieansatz?

Hanna Judith Pretzell: Bereits 1998 hat der Psychoanalytiker Daniel Stern in seinem Buch „Mutterschaftskonstellationen” eine ver­gleichende Darstellung der Säuglingspsychotherapien geschrieben. Als Mutterschaftskonstellation bezeichnet er die spezielle Lebensphase, die eine Frau im ersten Lebensjahr ihres Kindes ausbildet. Stern verglich weltweit die verschiedenen Säuglingstherapien miteinander, auch die verhaltenstherapeutisch orientierten. Er fand heraus, dass unabhängig von der jeweils eingesetzten Methode, die Wirksamkeit in dieser Lebensphase sehr groß ist, wenn der Konflikt, den die Eltern mit ihrem Säugling haben, einen inneren Raum in einem geschulten Gegenüber bekommt. Dabei wird den Eltern die Möglichkeit gegeben, auch schwere und unliebsame Gedanken und Fantasien gegenüber ihrem Säugling im therapeutischen Raum vertrauensvoll auszusprechen. Als Therapeutin bin ich dann das seelische Gefäß für Eltern und Kind und „entgifte” diese schwierigen Seins-Momente mit. Ich gebe diese existenziellen Momente in seelisch verdauter Form an die Eltern zurück. Hierdurch können sie Projektionen zurücknehmen, was dem Säugling und der Familie einen neuen Entwicklungsraum ermöglicht. So kann es zu raschen Veränderungen kommen.

Es ist also sehr effektiv und nachhaltig.

Laut dem Forschungsbeauftragen des Verbandes für analytische Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapie Eberhard Windaus liegen einschlägige Wirksamkeitsstudien zur analytischen Säuglings-Kleinkind-Eltern-Psychotherapie vor.

Was zeichnet SKEPT als analytische Säuglingspsychotherapie aus?

Bei dieser Methode ist das Containing-Konzept ganz wichtig. Ich sage immer zu den Eltern: „Containing ist die größte unsichtbare Arbeit, die Sie als Eltern seelisch leisten.” Es bedeutet, die unverdaulichen Gefühle des Säuglings aufzunehmen, in sich zu spüren und diese Affekte und Regungen, diese rohen Seinszustände aus dem präverbalen Raum, in einer seelisch „verdauten” Weise an den Säugling zurück zu spiegeln. Jede Mutter kennt das: Der Säugling weint und sie sagt: „Scht, scht, scht, du bist ganz müde.” Und der Säugling spürt mit dieser Regung: Ich bin ganz müde – und dabei geht es nicht um die lexikalische Sprache, sondern um das, was in der Stimme für ihn dechiffriert wird, das spürt er beim tausendfachen Wiederholen: So fühlt sich Müdigkeit an. Mama gibt mir das Gefühl, ich kann es schaffen. Das ist Containing. Wenn das stetig wiederholt wird und die Mutter es wirklich in sich aufnimmt, gibt sie es seelisch verdaut an den Säugling zurück. Genau diese Containing-Funktion wird durch den innerseelischen Raum der Therapie verstärkt. Um diese Containing-Funktion der Eltern kommt also noch ein weiteres, therapeutisches Gefäß, was auch „verdaut”.

Dorothea Ensel: Kann man sagen, dass Sie den Eltern dieses Containing bieten, damit sie es dem Kind geben können?

Ja, ich arbeite aber auch direkt mit dem Kind. Der schwedische Psychoanalytiker Johan Norman geht davon aus, dass der Therapeut auch eine direkte Beziehung mit dem Säugling aufbaut und er im Einfühlen in den Säugling den Eltern Dinge aufzeigen kann, die sie vielleicht unterschätzen oder nicht sehen. Von daher ist es auch eine direkte Arbeit am Säugling. Dazu ein Beispiel: Letzte Woche kam ein Vater zu mir, er ist promovierter Jurist. Er hat sein Mädchen im Alter von einem Jahr in der Straßenbahn auf seinem Arm durch plötzlichen Kindstod verloren. Die Kleine hat gequengelt, dann schlief sie ein und er dachte, mit dem Muskeltonus stimmt etwas nicht. Es ist fürchterlich. Er sagt, er war so innig mit ihr. Sie sei wie sein dritter Arm gewesen, er hatte sie immer bei sich. Jetzt kommt er hier herein mit seinem sechs Wochen alten Baby, einem Jungen. „Er hat das falsche Geschlecht!”, das hat er mir offen gesagt. Er kommt rein, und sofort inszeniert sich der innerseelische Konflikt des Vaters im sogenannten szenischen Geschehen: Der Vater sieht die Armbrust hier bei den Spielsachen und fragt: „Was ist das denn?” Ich sage: „Die Jungs spielen hier mit der Armbrust.” – „Jungs spielen so was?” – „Ja, die lieben das. Sie lieben es auch, wenn sie danach jemanden wieder zum Leben erwecken können und dabei ihre Selbstwirksamkeit spüren”, fahre ich fort. – „Oh Gott”, sagt er, „da sind wir schon beim Thema! Ich habe solche Angst, dass mein Junge später Fußball spielen will, und ich weiß einfach nicht, wie man mit Jungs umgeht.” So war im szenischen Geschehen bereits das ganze Thema angelegt. Natürlich kamen noch viele andere Themen dazu. Dass er sehr mit seiner Mutter verbunden war, keinen Vater hatte und jetzt soll er Vater sein von einem Jungen? Und dann war sein Anliegen: „Bringen Sie doch mal meinem Strahlekind bei, dass ich ihn so nicht lieben kann, wenn er am Abend seine Schreiattacken hat, ich schaffe das nicht.”

Ich habe dann, so wie Norman es beschreibt, stellvertretend die Stimme des Säuglings übernommen und gesagt: „Papa, siehst du nicht, dass ich in Not bin?” und: „Papa, du hast auch Schattenseiten und jetzt sieh das als meine Schattenseite. Stoß mich nicht ab, wenn ich weine. Sieh das als meine Not.” Der Vater meinte: „Ah”, als würde er etwas begreifen, nach dem Motto: „Hättest du mir das nicht früher sagen können?” – „Sieh meine Not, stoß mich nicht aus, ich komme noch mehr in Not.” So habe ich dem Säugling eine Stimme verliehen. Und in dem Moment – und jetzt sind wir beim szenischen Geschehen – strahlt der Säugling seinen Papa an, als hätte er alles verstanden.

Sie hatten also gar nicht weiter mit dem Vater gesprochen und das Kind hat so intensiv reagiert?

Ganz intensiv, es war unglaublich. Manchmal habe ich fast ein Nicken gesehen, genau in diesem Moment. Die Eltern waren fast zwei Stunden da. Danach sagte der Vater: „Komisch, er hat nicht einmal geweint. Jetzt könnte er doch wenigstens der Frau Pretzell zeigen, wie er wirklich ist.” Dann habe ich dem Vater widergespiegelt, dass diese unverdaulichen Gefühle des Kindes jetzt einen innerseelischen Raum hatten und dadurch das Schreien weniger wird. Wenn sie keinen Raum haben und Ausstoßungsgefühle da sind, geht das ins Leere, was der Säugling sucht in den Eltern – nämlich eine Co-Regulation. Und dann kommt es zu dieser Spirale, dass sich die Eltern unbewusst immer mehr abwenden und das Kind immer mehr schreit. Der Vater war sehr berührt und er hat dann über seine Schattenseiten nachgedacht. Es ist ein Einfühlen: Was würde der Säugling, hätte er denn Worte, sagen in seiner Not? Bei der Containing-Funktion geht es um die inneren Bilder der Eltern über den Säugling, die schon ganz früh entstehen. Diese Projektionen und auch Fantasien in den Eltern wirken oft mehr als die Realität. Damit es eine positive Veränderung in der Eltern-Kind-Interaktion geben kann, müssen sie bewusst reflektiert und teilweise zurückgenommen und modifiziert werden.

Angelica Ensel: Gibt es auch vorgeburtliche Projektionen und Zuschreibungen?

Ja. Man weiß, dass die Eltern bis zum siebten Schwangerschaftsmonat besonders viele Fantasien über das Kind haben. Dann nehmen sie sie ein wenig zurück, wie eine Art Schutzmechanismus, weil dann ja das reale Kind bald kommt. Wenn im siebten Monat plötzlich eine Trennung geschieht, zum Beispiel durch eine Notsectio, sind die Eltern in einer Phase mit höchstem Fantasiegehalt über das ungeborene Kind. Dann ist die Kluft zwischen dem realen Kind und dem Fantasiekind oft besonders groß und tief.

Das heißt, die Eltern sind dann von ihrem eigenen seelischen Prozess her innerlich noch gar nicht an dem Punkt angekommen, dass das Kind kommen kann?

Richtig. Diese Zurücknahme der Fantasien, die die Natur gewollt hat – diese Phase wird praktisch übersprungen. Dazu noch ein Beispiel: Der Vater von diesem sechs Wochen alten Säugling sagte: „Und was, wenn der mal Amokläufer wird?” Jetzt können Sie sich vorstellen, was so eine Fantasie mit der Liebe zu dem Kind macht. Unser Konzept des Fantasmatischen besagt: Wenn diese Fantasie nicht ausgesprochen wird, dann führt sie ein Eigenleben. Dann ist es ein böses Kind, wenn es schreit, ein Amokläufer, im Fantasmatischen des Vaters. Vom Unbewussten des Vaters wirkt das zum Unbewussten des Kindes hin und belastet die Beziehung.

Dorothea Ensel: Wie reagieren Sie in einem solchen Fall auf die Fantasien der Eltern?

Ich war kurz geschockt. Dann habe ich gesagt: „Das ist aber schon heftig.” Dann sagte die Mutter: „Warum? Sie haben gesagt, das Fantasmatische ist wichtig.” – „Ja, das ist sehr wichtig”, habe ich gesagt. Und zum Kind: „Du wirst kein Amokläufer. Du willst nur, dass der Papa deine Not versteht. Nur weil man weint, weil man nicht schlafen kann, wird man kein Amokläufer. Du willst, dass der Papa deine Not versteht und wenn er die verstanden hat, wird es besser mit dem Weinen.” So habe ich es dann aufgegriffen.

In der Therapie geben Sie dem Säugling eine Sprache. Das heißt, Sie übersetzen das, was das Kind sagen will, für die Eltern. Wie lange dauert so ein Prozess?

Die Säuglingspsychotherapien sind sehr häufig Kurzzeittherapien. Das heißt 25 Therapiesitzungen, die als Doppelstunden laufen, also 12 bis 13 Sitzungen. Ich habe bei 30 Säuglingen nur zweimal auf eine Langzeittherapie verlängert. Studien aus den skandinavischen Ländern, aus Kanada und den USA bestätigen das. Dazu gibt es ein schönes Zitat von Norman. Er sagt: „Solange das Ich des Säuglings schwach ist, besitzen der Säugling und die Mutter eine einzigartige Flexibilität, Störungen in ihrer Beziehung zu heilen, wenn die Containing-Contained-Beziehung wieder hergestellt ist.”

Es geht also darum, die Projektionen der Eltern auf das Kind samt dem Fantasmatischen zu entzerren, es dem Bewusstsein und der bewussten Regulation zuzuführen und somit das Kind von Negativprojektionen zu entlasten. So wird eine seelische Entlastung für die Eltern und für den Säugling ermöglicht. Damit werden auch die Projektionen wieder zurückgenommen – also welches Bild habe ich von meinem Säugling, wenn er weint? Was sehe ich dann, die Not oder den Amokläufer?

Angelica Ensel: Es ist beeindruckend, wie schnell das geht im Vergleich zu Therapien bei Erwachsenen, die oft sehr lange dauern können.

Bei einem weiteren Elternpaar mit einem in der 28. Woche frühgeborenen Mädchen waren es 20 Doppelstunden, um ihr Trauma aufzuarbeiten. Das funktionierte, weil die Eltern sehr viel Zugang zum Trauma der Frühgeburtlichkeit hatten. Ich habe sie gebeten, aufzuschreiben, wenn ihre Flashbacks aus der Neonatologie kommen. In der Nacht, wenn ihr Kind geweint hat, haben sie es wie ein rohes Ei angefasst. Sie waren gesteuert durch das Trauma. Sie dachten, sie dürften es nicht aus seinem Bettchen herausnehmen und trösten, weil das Kind dann an die Apparaturen erinnert würde. Und hier sind wir wieder beim Fantasmatischen und den Flashbacks. Die Eltern haben dann ihre im Alltag spontan sich aufdrängenden Erinnerungen tagebuchartig niederschrieben, die sogenannten Flashbacks. Das sollten sie überall machen, zum Beispiel im öffentlichen Nahverkehr, wenn da ein Geräusch oder ein Rütteln ist, wie damals beim Beatmen des Kindes. Ich sage immer: „Ein Trauma ist so wie in einer Waschmaschine im Schleudergang. Es geht dabei völlig unkoordiniert und unsortiert in der Seele zu. Es gibt dabei für die Seele keinen Ort und keinen Zeitpunkt. Das Trauma zu entknäueln heißt, die Erinnerungen aus der Schleuder zu holen und wie in einem Regal zu sortieren und dann zu wissen: Hier steht es, hier gehört es hin. Es tut immer noch weh, aber ich weiß, das ist es, da hat es seinen Platz.” Es ist also ein Sortieren. Und das haben wir in diesem Fall sehr intensiv gemacht, auch in Stunden ohne den Säugling.

Eine Frühgeburt ist ja immer ein Schock für die Eltern.

Ja, und das war für die Mutter schon die zweite Schwangerschaft, in der sie so etwas erlebt hat. Ihr Problem war eine Durchlässigkeit für Keime in die Plazenta. Sie bekam eine Dauerantibiose und musste schon ab der fünften Woche liegen. Trotzdem ist das Kind zwölf Wochen zu früh gekommen und seine Lungen waren nicht funktionstüchtig. Die Eltern haben schon eine intensivmedizinische Behandlung ihres ersten Kindes erlebt. Und was sie dann beim zweiten Kind erlebten, war noch schlimmer.

Dorothea Ensel: Wie arbeiten Sie mit den Tagebuchaufzeichnungen der Eltern?

Bei dieser Behandlungstechnik achten sowohl die Eltern als auch ich auf das Trauma und wir schauen, wo und in welchen Situationen es auftaucht. Es steigt inselhaft aus dem Unbewussten auf, zeigt sich nur kurz und geht wieder. Wir haben das dann sehr fein aufgespürt und miteinander bearbeitet. Die Eltern haben tagebuchartig aufgeschrieben. Die Mutter hatte auch noch ein Tagebuch aus der Klinik. Sie sagte, sie wollte es nie wieder lesen, weil sie Angst hatte vor den Affekten, die dann hochkommen würden. Sie hat es dann mit mir angeschaut und darin gelesen, im geschützten Raum der Therapie. Ich war als erweitertes Gefäß da, konnte das Schwere mittragen. Und sie hat das Tagebuch über viele Monate bei mir gelassen. Sie hat gesagt, es tut ihr gut, wenn es jetzt hier ist. Sie hat es nur hier vorgelesen. Ich habe darauf geachtet, dass sie die Gefühle nicht abspaltet, so als würde sie von einem Film berichten, der schon lange her ist, und sie gar nicht mehr weiß, dass sie selbst diesen Schmerz und diese Trauer empfunden hat. Vielmehr konnte und durfte sie alles im Hier und Jetzt wirklich noch einmal durchleben und die dazu gehörenden Emotionen in dosierter Form zulassen.

Angelica Ensel: Kommen auch Frauen mit Wochenbettdepressionen zu Ihnen?

Hanna Judith Pretzell: Ja, zum Beispiel kurz vor Weihnachten rief eine Hebamme an und sagte, die Mama, die gerade bei ihr sitze, würde weinen, weil sie abstillen musste, weil sie es einfach nicht geschafft hat zu stillen. Sie habe fürchterliche Schuldgefühle und ihre Depression sei noch schlimmer geworden. Diese Frau kam dann zu mir und hat einfach nur erzählt. Da kam die ganze Not aus ihrer Vergangenheit hoch. Ihre Eltern hätten sich nie geliebt. Ihr Vater sei ein fürchterlicher Mann und sie hatte Angst, dass sie auch so werden würde. Ich wusste zuerst nicht, ob ich sie nicht zum Psychiater schicken muss. Mittlerweile war sie das fünfte oder sechste Mal da und sie ist so innig mit ihrem Säugling. Sie sagt, sie kann es kaum glauben, dass diese Wandlung geschehen ist. Sie durfte hier alles einfach loswerden.

Die Interviewte

Hanna Judith Pretzell ist analytische Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeutin mit Zusatzausbildung in Säuglings-Kleinkind-Eltern-Psychotherapie in eigener Praxis. Außerdem arbeitet sie als Dozentin und Supervisorin in der Fort- und Weiterbildung für PsychotherapeutInnen und ÄrztInnen am C.G. Jung-Institut Stuttgart. Kontakt: pretzell@online.de

Vorgestellt

Die Säuglings-Kleinkind-Eltern-Psychotherapie (SKEPT) ist ein psychoanalytisches Angebot, das in Form von Krisenintervention fachliche Hilfe und unterstützende Begleitung anbietet, um frühe Belastungen und Störungen rechtzeitig aufzufangen. Das Konzept, das die Erkenntnisse der aktuellen Säuglingsforschung berücksichtigt, ist speziell geeignet für Säuglinge und Kleinkinder bis drei Jahren. Es wird gemeinsam mit den Müttern und Vätern durchgeführt und hat immer auch einen präventiven Charakter. Indikationen für eine SKEPT sind unter anderem Trink- und Schlafstörungen, häufiges Weinen und Schreien des Babys, das die Familie belastet, Schwierigkeiten der Eltern, eine emotionale Beziehung zu ihrem Baby zu finden, oder Sorgen in Bezug auf die Entwicklung des Kindes. Die Therapie wird in der Regel von den gesetzlichen Krankenkassen übernommen.

Weitere Informationen: http://www.vakjp.de/dateien/skept.html

Zitiervorlage
Ensel A, Ensel D: Interview mit Hanna Judith Pretzell, Teil 1: Unsichtbare seelische Arbeit. DEUTSCHE HEBAMMEN ZEITSCHRIFT 2017. 69 (7): 58–61
Literatur

Cierpka M, Windaus E (Hrsg.): Psychoanalytische Säuglings-Kleinkind-Eltern-Psychotherapie. Konzepte-Leitlinien-Manual. Frankfurt 2007

Dornes M: Der kompetente Säugling. Die präverbale Entwicklung des Menschen. Frankfurt a.M. 1993

Eliacheff C: Das Kind, das eine Katze sein wollte. Psychoanalytische Arbeit mit Säuglingen und Kleinkindern. München 1997

Norman J: Der Psychoanalytiker und der Säugling. Eine neue Sicht der Arbeit mit Babys. In: Analytische Kinder-und Jugendlichen-Psychotherapie, Zeitschrift für Theorie und Praxis der Kinder- und Jugendlichen-Psychoanalyse. Thema: Säuglings-Kleinkind-Eltern-Psychotherapie. Teil 2. Heft 122. 2/2004. Brandes & Apsel. Frankfurt 2004

Stern D: Die Mutterschaftskonstellationen. Eine vergleichende Darstellung verschiedener Formen der Mutter-Kind-Psychotherapie. Stuttgart. Klett-Cotta 1992

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