Wo finden Angehörige der LGBTQ-Gemeinschaft Rückhalt und Zusammenschluss, wenn das Szeneleben wegen Corona pausiert? Foto: © Müller-Stauffenberg/imago-images

Die Kontaktsperren im Zuge der Covid-19-Pandemie schränken die sexuelle Freiheit ein und erschweren sexualpädagogische Aufklärung. Eine Umfrage an der Technischen Universität Ilmenau erfasst die aktuelle Lage der Sexuellen Bildung.

Die Covid-19-Pandemie und die mit ihr einhergehenden Infektionsschutzmaßnahmen haben seit März 2020 das Alltagsleben in Deutschland und weltweit nachhaltig verändert. Das geht mit vielen – und teilweise auch existenziellen – Belastungen einher. Etwa wenn Arbeitsplatz beziehungsweise Einkommen wegbrechen. Oder wenn Angehörige sich infizieren, vielleicht sogar schwer an Covid-19 erkranken oder sterben. Vor all dem ist niemand gefeit.

Existenziell wird es auch, wenn die gesundheitliche Versorgung wegen der Pandemie plötzlich deutlich eingeschränkt ist. Wenn Operationen verschoben werden müssen, Besuche in Pflegeheimen untersagt sind, Geburtsvorbereitungskurse entfallen oder keine Begleitperson mit in den Kreißsaal genommen werden darf. Das alles erleben wir momentan während des zweiten Lockdowns noch verschärft.

Fragen der Sexuellen Bildung: kein »Luxusproblem«

Deutlich getroffen von der Pandemie ist auch der Bereich der Sexuellen Bildung. Schulische sowie außerschulische sexualpädagogische Maßnahmen, Projekte, Tagungen und Workshops entfallen seit Beginn der massiven Ausbreitung des Corona-Virus größtenteils. Um den Status quo der Sexuellen Bildung in Zeiten von Corona aus Sicht der Fachkräfte zu erfassen, wurde bereits im Mai 2020 in einer Kooperation zwischen dem Fachgebiet Medienpsychologie und Medienkonzeption der TU Ilmenau und dem Institut für Sexualpädagogik (isp) eine Online-Umfrage durchgeführt. Dabei beschrieben 453 Fachkräfte zwischen 22 und 70 Jahren, wie sie die Lage erlebten. Davon waren 71 % weiblich, 27 % männlich und 1 % divers.

Wichtig ist hier zunächst die Feststellung, dass 82 % der Fachkräfte ihre Tätigkeit als ganz oder zumindest teilweise »systemrelevant« einstuften – also essenziell für das staatliche Gemeinwesen. Tatsächlich sind Fragen der Sexuellen Bildung kein »Luxusproblem«. Denn sexualpädagogisch vermittelte Kenntnisse, Einstellungen und Fähigkeiten sind ausschlaggebend dafür, dass junge wie alte Menschen ihre sexuelle Gesundheit und ihre sexuellen Rechte – auch unter Pandemie-Bedingungen – erhalten und schützen können: Wie lassen sich unter Bedingungen von Kontaktsperren die bestehenden Liebesbeziehungen pflegen oder neue Flirts und Sexkontakte Corona-sicher erleben? Wo finden Angehörige sexueller Minoritäten Rückhalt und Gemeinschaft, wenn das Szeneleben überall pausiert? Wem können sich Gewaltbetroffene offenbaren, wenn sie zu Hause isoliert sind? Und wie sollen diejenigen hochbetagten oder schwerbehinderten Menschen die Corona-Zeit überstehen, deren einziger Zugang zu sinnlichem Körperkontakt professionelle Massagen oder Dienstleistungen waren, die im Lockdown verboten sind?

Online-Angebote stoßen an ihre Grenzen

Die sexualpädagogischen Fachkräfte würden ihren Zielgruppen gerade in dieser schwierigen Zeit gern besser zur Seite stehen. Doch das ist kaum möglich, wie die Befragung gezeigt hat. Wenn sexualpädagogische Fachkräfte nicht – oder nur eingeschränkt – in Schulen, Jugendtreffs, Einrichtungen der Behinderten- oder Altenhilfe vor Ort sein können, verlieren sie rasch den Draht zu ihren Zielgruppen und bekommen viel weniger von deren aktuellen Sorgen und Anliegen mit. Offline-Treffen durch Online-Angebote zu ersetzen, stößt an Grenzen. Hier fehlt es teilweise an der notwendigen technischen Ausstattung und an der Erfahrung mit Online-Formaten. Und es gibt auch das Problem, dass gerade die sexualpädagogische Arbeit davon lebt, dass man sich persönlich begegnet, Vertrauen aufbaut, Aufklärungsmaterialien zur Hand nimmt, Kommunikations- und Bewegungsübungen gemeinsam in der Gruppe erlebt. All das ist besonders schwer in den virtuellen Raum zu übertragen.

Hinzu kommt, dass bislang noch gar nicht klar ist, welche Botschaften zum Schutz und Erhalt von sexueller Gesundheit und sexuellem Wohlbefinden beispielsweise Jugendlichen mit auf den Weg zu geben sind. In der Öffentlichkeit wurde in den letzten Monaten eine Fülle von Ideen verbreitet. Teilweise empfehlen mittlerweile sogar Gesundheitsbehörden offiziell, mehr Selbstbefriedigung und Cybersex zu betreiben, um die Corona-Kontaktsperren besser einhalten zu können. Derartige Tipps müssen noch sortiert, reflektiert und für die Sexuelle Bildungsarbeit zielgruppen- und altersgerecht aufbereitet werden.

Die Hälfte der befragten Fachkräfte hat trotz aller Unsicherheiten und Belastungen die Corona-Krise auch als Chance eingestuft, gewohnte Abläufe zu hinterfragen und mehr über Online-Formate zu lernen.

Zitiervorlage
Döring, N. (2021). Sexuelle Bildung ist »systemrelevant«. Deutsche Hebammen Zeitschrift, 73 (2), 50–51.
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