Neurotransmitter im Neuronennetzwerk
Serotonin ist im Gehirn lebensnotwendig, denn es ist ein wichtiger Neurotransmitter im ausgedehnten Neuronennetzwerk (Formatio reticularis). Dieses Netzwerk zieht sich maschenartig von in der Medulla oblongata, dem Ort des Atemzentrums, bis zum Zwischenhirn, mitunter verdichtet es sich zu Kernen. Manche der Nervenzellen (Neurone) steuern die Einatmung, andere die Ausatmung. Das Serotonin fungiert dabei einerseits als Neurotransmitter in den synaptischen Spalten. Andererseits wird es aber auch diffus über freie Nervenendungen ausgeschüttet und wirkt als Neuromodulator.
Es befindet sich beispielsweise in den Neuronen der verschiedenen Raphe-Kerne auf beiden Seiten der Medianlinie an der sogenannten Naht der beiden Hirnstammhälften, daher der Name (griechisch rhaphé: Naht). Deren Axone – die Fortsätze einer Nervenzelle – strahlen in alle Teile des Gehirns aus und beeinflussen mittels Serotonin unmittelbar oder mittelbar fast alle Gehirnfunktionen: Sie haben Auswirkungen auf die Anzahl der lebensrettenden Weckreaktionen des Gehirns, wenn es im Schlaf zu Atempausen (Arousals) kommt, auf die Wärmeregulation, die Herzfunktion und weitere lebenswichtige Funktionen wie Sensorik und Schmerzempfinden.
Bestätigen lassen sich diese Überlegungen durch Versuche der Forscherin Enrica Audero 2008 mit transgenen Mäusen im European Molecular Biology Laboratory in Italien: Wurde ein bestimmter Serotonin-Rezeptor (5-HT1A) reversibel vermehrt ausgebildet, zeigten sich häufiger sporadische Bradykardien und Hypothermie.
Serotonin in Thrombozyten?
In diesem Jahr konnte die Arbeitsgruppe um Dr. Hannah Kinney und Dr. Robin Haynes, Leiterin der Pathologieabteilung des Boston Children’s Hospital and Harvard Medical School nun zusätzlich zeigen, dass ein Drittel der an SIDS verstorbenen Kinder (19 von 61 Fällen) außerdem erhöhte Serotonin-Konzentrationen im Blut hatten. Die Konzentrationen waren mehr als zwei Standardabweichungen höher als in einer Kontrollgruppe von Kindern, die im gleichen Alter aus anderen bekannten Gründen gestorben waren.
Während Serotonin, das viele als Glückshormon kennen, im Zentralnervensystem als Neurotransmitter fungiert, wirkt es im Blut, wo es sich zu 95 Prozent in den Thrombozyten befindet, als Hormon: Wird ein Blutgefäß verletzt, werden die Thrombozyten aktiviert und setzen Serotonin frei. Diese Serotonylierung setzt in ihren Speicherkörperchen über eine Signalkaskade den von-Willebrand-Faktor frei, der zur Blutstillung eine Brücke zwischen dem beschädigten Blutgefäß und dem Thrombozyt baut.
Die Herkunft des Serotonin-Überschusses in den Thrombozyten bei den betroffenen Kindern ist unklar. Das Ärzteblatt fasste im Sommer zusammen, dass Haynes und Kinney es für möglich hielten, dass es aus dem Gehirn stamme. Die Thrombozyten könnten den im Gehirn gebildeten Neurotransmitter aufgesaugt haben, heißt es weiter. Solche falschen Zusammenfassungen sind verwirrend. Serotonin kann die Blut-Hirn-Schranke nicht überwinden. Im Gehirn muss es daher immer vor Ort gebildet werden (Descarries 1990). Gleichzeitig kann Serotonin dann nicht vom Gehirn in das Gefäßsystem gelangen und in den Thrombozyten nicht zu einer Häufung führen.
Die ForscherInnen in Boston schrieben stattdessen, dass das Serotonin aus dem Darm oder der Lunge stammen könnte (Haynes 2017). Mehr als 90 Prozent des peripheren Serotonins werden in den Endothelzellen des Darms produziert. Serotonin oder seine Vorstufen werden auch oral aufgenommen und gelangen über die Blutgefäße des Darms in den Blutkreislauf und werden später nach Verstoffwechselung über den Urin ausgeschieden. Es sei bekannt, so Haynes, dass die Zellen im Darm unter bestimmten Umständen, einschließlich Hypoxie und Infektionen, die Sekretion von Serotonin verstärkten können. Es müsste demnach geklärt werden, wie es zu dem Zuviel am Entstehungsort kommen kann.
Zusammenhänge zwischen dem hohen Serumgehalts und dem Stillverhalten konnten zumindest nicht nachgewiesen werden. Das Serotonin in der Muttermilch hat demnach keine Auswirkung auf die Mengen im Blutserum. Haynes betont, dass es noch einiger Überlegungen und Forschungen bedürfe, und gibt auch zu bedenken, dass die zugrunde liegende Datenmenge nicht sehr groß sei (Haynes 2017).
Es gibt noch viele offene Fragen: Kann es zu dem Zuviel Serotonin im Darm kommen, weil es zu wenig Serotonin im Gehirn gibt und die Produktion im Darm deshalb angekurbelt wird? Der Serotoninmangel im Gehirn lässt sich derzeit erst postmortal nachweisen und ist keine verlässliche zu benennende Ursache für einen Säuglingstod. Und ob ein Bluttest das Zuviel in den Thrombozyten markieren könnte, müsste erst geprüft werden. Auch ob dies tatsächlich ein verlässliches Frühwarnsystem sein könnte. Weitere Studien sind nötig. Haynes meint, dass der hohe Serotoninspiegel im Blutserum immerhin ein Biomarker für Autopsien bei serotinergen Defekten sein könnte.
SIDS-Ätiologie
Die Ergebnisse würden sich laut der ForscherInnen in Boston auf jeden Fall in das sogenannte Dreifach-Risiko-Modell zur SIDS-Ätiologie einfügen. Danach müssen drei Dinge zusammenkommen, die dazu führen, dass ein Kind im ersten Lebensjahr über Nacht aus unerklärlichen Ursachen stirbt, nachdem äußere Gewalt oder Ersticken aufgrund unsicherer Schlafumgebung ausgeschlossen wurden. Demnach kämen zu der Vulnerabilität durch den Serotoninmangel im Gehirn eine kritische Periode in der Entwicklung (nämlich das erste Lebensjahr) und ein externer Stressor (Bauchlage des Kindes, Rauchen der Eltern) hinzu. Einer dieser Stressoren lag bei 88 Prozent aller Kinder vor, deren Präparate die Pathologin untersuchte.
Dr. Karen Waters, ein Schlafärztin und Forscherin an der University of Sydney, bezeichnet die Ergebnisse als großen Durchbruch. Wie einige andere auch, wünscht sie sich für die Zukunft ein Screening auf diesen Grundlagen. Sie gibt an, dass in Australien jedes Jahr 130 bis 150 Kinder an SIDS sterben, der häufigsten Todesursache für Kinder unter einem Jahr. Durch einen Test wären die Eltern der Kinder vor staatsanwaltlicher Verfolgung geschützt, wenn fälschlicherweise eine Kindstötung vermutet wird.
In den 1980er Jahren fanden ForscherInnen heraus, dass die Bauchlage während des Schlafes ein hoher Risikofaktor für SIDS ist. Daraufhin begannen ernsthafte Forschungen nach den Ursachen. Waters betont, dass nun weitere Forschung unbedingt nötig sei, auch wenn die SIDS-Rate seitdem reduziert werden konnte. Dies sei auch der starke Wunsch von betroffenen Eltern.
Aus der Sicht eines SIDS-Experten
Der Hamburger Rechtsmediziner und Arzt Prof. Dr. Jan Sperhake bewertet die Arbeiten der Gruppe um Kinney und Haynes als wissenschaftlich anspruchsvolle Grundlagenforschung. Aber es gebe grundsätzliche Interpretationsschwierigkeiten mit derartigen Fall-Kontroll-Studien. Das fange schon mit der Kontrollgruppe an, denn gesunde Kinder könne man nicht in gleicher Weise untersuchen. »Wir wissen also streng genommen nicht, was normal ist. Auch die Interpretation ist schwierig. Es kann sein, dass die Veränderungen eher Reaktionen auf wiederholte Sauerstoffmangelzustände und nicht deren Ursache sind.«
Sperhake weist darauf hin, dass WissenschaftlerInnen in Kinneys Umfeld andere Neurotransmitter untersuchten, wie beispielsweise die Substanz P, die ebenfalls als Neurotransmitter fungiert: »Auch da werden Auffälligkeiten gefunden. Die Sache ist sehr komplex. Aus den bisher vorgelegten Studien Forderungen für ein Screening abzuleiten, halte ich für verfrüht und auch für zu optimistisch. Vielleicht steigt der Serotoninspiegel ja auch erst während eines verlängerten Sterbevorganges an und ist sonst weitgehend normal.« Und so folgert er: »Jedenfalls glaube ich nicht, dass es mit einer einmaligen Serotoninmessung im Blut getan sein würde. Und was wäre die Konsequenz? Dauerüberwachung in Reanimationsbereitschaft? Der Weg ist lang und ich fürchte, dass es vielleicht gar keinen entscheidenden Durchbruch geben wird. Die Motivation für das Thema sinkt leider mit den sinkenden Fallzahlen.«
Die Forschung zu Epidemiologie und Prävention sei nach wie vor der Ansatz, der bisher den größten Erfolg hatte und potenziell auch weiter haben werde.