Björn Westermann, ehrenamtlicher Seenotretter auf Juist, lässt seine Alltagsarbeit als Banker sofort fallen, wenn ein Notruf reinkommt. Fotos: © DGzRS

Schwangere von den Inseln und Halligen zum Festland zu bringen, gehört zum Alltag der Seenotretter. Wenn keine Fähre mehr fährt und Hubschrauber nicht fliegen können, ein Kind aber nicht warten will und die Mutter medizinische Hilfe benötigt, bilden sie eine schwimmende Brücke zum nächsten Krankenhaus. Sehr selten wird ein Kind auch an Bord geboren.

Die Seenotretter der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger (DGzRS) übernehmen auch dringende Schwangerentransporte ans Festland. Zuweilen jedoch hat es das Kind eiliger, als der schnellste Seenotrettungskreuzer fahren kann, und kommt an Bord zur Welt – so wie Gideon Raphael am 28. Oktober 2011:

Auf der VORMANN LEISS im Amrumer Seezeichenhafen ist eine ruhige Herbstnacht angebrochen. Die See ist nahezu glatt. Die vier Seenotretter schlafen in ihren Kammern im Vorschiff. Hin und wieder knacken die Funkempfänger, die Notfrequenzen laufen immer mit.

Gegen 2 Uhr ist die Nacht an Bord zu Ende. Der Landrettungsdienst hat eine Hochschwangere angekündigt. Der Seenotrettungskreuzer soll sie nach Föhr bringen. Dort gibt es ein Krankenhaus. Um 2.17 Uhr verlässt die VORMANN LEISS mit der 36-jährigen Patientin Dr. Nicole Adolph, dem werdenden Vater Dr. Gernot Adolph, Hebamme Antje Hinrichsen und den vier Seenotrettern an Bord die Insel Amrum. Die Überfahrt verläuft zunächst ohne besondere Vorkommnisse – bis zur Ansteuerung von Wyk auf der Insel Föhr. „Beeil dich, es geht los!“, ruft Rettungsmann Lars-Peter Jensen seinem Vormann Jens Petersen zu, der den Seenotrettungskreuzer sicher durch Wattenmeer und Nacht steuert. Nach Untersuchung der Herztöne des Kindes hatte die Hebamme der Mutter ankündigt: „Du wirst dein Kind jetzt bekommen.“ Nicole Adolph erinnert sich: „Der Gedanke, das Kind an Bord zu bekommen, hat mich vorher ein wenig abgeschreckt. Doch ich war sehr positiv überrascht, wie zurückhaltend und professionell sich die Seenotretter um mich gekümmert haben.“

Nun geht alles ganz schnell: Antje Hinrichsen bereitet alles für die Geburt vor, assistiert vom werdenden Vater, einem Kinderarzt. „Die sanften Bewegungen des Seenotrettungskreuzers, die Maschinengeräusche und die angenehme Wärme im Bordhospital haben sich gut angefühlt“, berichtet Nicole Adolph. Gegen 2.50 Uhr macht die VORMANN LEISS in Wyk auf Föhr fest. Die Zeiger der Borduhr sind auf 3 Uhr vorgerückt, als der 3.555 Gramm schwere und 51 Zentimeter große Gideon Raphael seinen ersten Schrei tut.
Die Mutter und ihr inzwischen viertes Kind sind wohlauf. Der Landrettungsdienst bringt die Familie zur weiteren Versorgung ins Föhrer Krankenhaus. „Als ich mit Gideon auf dem Bauch von Bord getragen wurde, standen die Seenotretter Spalier und waren selbst ganz sprachlos“, ist die Mutter gerührt. Noch am gleichen Vormittag tritt Gideon mit der Fähre die Rückreise nach Amrum an.

Kurz vor Weihnachten besucht die komplette Familie mit den anderen drei Kindern Immanuel (6), Elija (4) und Salome (3) und mit Hebamme Antje Hinrichsen die Seenotretter. „Der persönliche Dank war uns sehr wichtig, weil diese Männer sich so toll um mich gekümmert haben“, sagt Nicole Adolph. Gideon Raphael ist übrigens nicht nur für sie selbst das vierte Kind: Auch für Vormann Jens Petersen war es bereits die vierte Geburt an Bord.

Geburtsort: auf See

Mit den verbesserten Möglichkeiten der medizinischen Versorgung Kranker und Verletzter an Bord der Seenotrettungseinheiten der DGzRS hat nach dem Zweiten Weltkrieg auch die Zahl dringender Schwangerentransporte von Inseln und Halligen ans Festland beziehungsweise zum nächsten Krankenhaus zugenommen. Heute sind die DGzRS-Einheiten jährlich rund 20 Mal mit Schwangeren an Bord unterwegs, besonders häufig vor den nordfriesischen Inseln und Halligen.

Nicht immer warten die neuen Erdenbürger bis zum Krankenhaus: In den vergangenen gut 60 Jahren sind insgesamt zwölf Kinder an Bord von Seenotrettungskreuzern und -booten der DGzRS zur Welt gekommen. Nicht wenige von ihnen haben als Geburtsort den Namen der Rettungseinheit oder Längen- und Breitengrad im Personalausweis stehen (siehe Protokoll).

Protokoll

In der Regel haben diese Kinder auf einem Seenotrettungskreuzer das Licht der Welt erblickt. Diese größeren, rund um die Uhr mit fest angestellten Crews besetzten Rettungseinheiten mit Tochterboot machen ein Drittel der rund 60 Schiffe starken DGzRS-Flotte aus. Zwei Drittel hingegen, rund 40 Einheiten, sind Seenotrettungsboote, die von Freiwilligen-Besatzungen gefahren werden. Sie bilden das Rückgrat der Rettungsflotte und werden ähnlich alarmiert wie freiwillige Feuerwehren an Land. Im Gegensatz zu den größeren Seenotrettungskreuzern sind die medizinische Ausrüstung, vor allem aber der zur Verfügung stehende Platz auf diesen Booten begrenzt.

Umso bemerkenswerter ist die Geburt des kleinen Benjamins im Januar 2002 auf dem nur 8,5 Meter langen Seenotrettungsboot JUIST. Damals wurde der freiwillige Seenotretter Björn Westermann zum Geburtshelfer im Wattenmeer zwischen der ostfriesischen Insel Juist und dem Festland.

Die JUIST lief um 19.55 Uhr bei dichtem Nebel mit nur 100 Metern Sichtweite aus. Zunächst verlief die Überfahrt bei mäßigem Seegang ohne Zwischenfälle. Um 20.30 Uhr platzte jedoch etwa auf halber Strecke bei der Schwangeren die Fruchtblase. Während der Vormann das Boot mit Höchstgeschwindigkeit Richtung Norddeich steuerte, bereitete Björn Westermann an Bord alles für die Geburt vor.  Wenige Meter vor dem Anleger im Hafen von Norden-Norddeich brachte die junge Frau um 20.48 Uhr einen gesunden Jungen zur Welt. Eine Bekannte der Familie hatte zwischenzeitlich eine pensionierte Hebamme informiert, die das Boot bereits am Ponton erwartete. Sie übernahm das Abnabeln und versorgte Mutter und Kind.

Bei jedem Wetter, rund um die Uhr

Der 43-jährige Björn Westermann ist in der Welt der Seegatten und Sandbänke, der engen Priele und kleinen Häfen der südlichen Nordsee groß geworden. Wen es wie ihn rauszieht auf See, den zieht er aus dem Wasser, wenn es hart auf hart kommt: Für Fischer, Fährleute und Freizeitskipper ist der freiwillige Seenotretter im Einsatz – bei jedem Wetter, rund um die Uhr.

In die Juister Freiwilligen-Mannschaft führten Björn Westermann seine medizinischen Fähigkeiten. Der ausgebildete Rettungssanitäter arbeitete sich schon mit Mitte 20 in die Besonderheiten der Seenotmedizin ein. Doch: „Auf eine Geburt in der Enge an Bord und bei Seegang kann man sich kaum vorbereiten. Man macht alles ganz intuitiv“, sagt Westermann. Trotz der schwierigen Umstände half er dem kleinen Benjamin mit Unterstützung des Vormanns und des begleitenden Vaters gesund auf die Welt. Der Kontakt hält bis heute.

Die Belastung bei diesem ungewöhnlichen Einsatz war hoch. „Dabei trainieren wir eigentlich für ganz andere Extreme“, sagt Westermann. Auch die hat er schon erlebt: Suchen und Retten bei extrem schlechtem Wetter, Dunkelheit, schwerem Sturm, Regen, Kälte und hohem Seegang. Die Suche nach im Wasser treibenden Schiffbrüchigen gleicht oftmals der Suche nach der sprichwörtlichen Nadel im Heuhaufen. Die Rettung aus dem Wasser unter solchen extremen Bedingungen gehört zu den schwierigsten Aufgaben der Seenotretter. „Dann erkennen auch wir Seenotretter unsere Grenzen. Aber das ist gut so, denn wir sind schließlich keine Helden.“ Sondern Profis.

Vorgestellt
Die Seenotretter
Die Deutsche Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger (DGzRS) ist zuständig für den maritimen Such- und Rettungsdienst in den deutschen Gebieten von Nord- und Ostsee. Dafür hält sie rund 60 Seenotrettungskreuzer und -boote auf 54 Stationen zwischen Borkum im Westen und Usedom im Osten einsatzbereit – rund um die Uhr, bei jedem Wetter. Jahr für Jahr fahren die Seenotretter mehr als 2.000 Einsätze, koordiniert von der Seenotleitung in Bremen. Die gesamte unabhängige und eigenverantwortliche Arbeit der Seenotretter wird ausschließlich durch freiwillige Zuwendungen finanziert, ohne Steuergelder. Seit Gründung der DGzRS 1865 haben ihre Besatzungen mehr als 84.000 Menschen aus Seenot gerettet oder von drohenden Gefahren befreit. Schirmherr der Seenotretter ist der Bundespräsident.

Spendenkonto IBAN: DE36 2905 0101 0001 0720 16,
BIC: SBREDE22, Sparkasse Bremen
Mehr Informationen: www.seenotretter.de,
E-Mail: info@seenotretter.de

Nachgefragt

Peggy Seehafer: Wann würden die Seenotretter Schwangere nicht mehr transportieren und die Luftrettung engagieren? Und wer entscheidet das?

Christian Stipeldey: Für uns stellt sich die Frage genau umgekehrt: Unsere Aufgabe ist die Suche und Rettung von Menschen in Seenot. Dringende Schwangerentransporte gehören nicht zu den satzungsgemäßen Aufgaben der DGzRS. Wir übernehmen sie aber, wenn keine anderen Transportmöglichkeiten zur Verfügung stehen, also wenn keine Fähre mehr fährt und Hubschrauber nicht fliegen können, zum Beispiel aufgrund der Wetterlage. Wie bei jedem Einsatz der Seenotretter trifft die Entscheidung darüber, ob er gefahren werden kann, der Vormann des Seenotrettungskreuzers oder -bootes. Ungefähr 20-mal im Jahr haben wir Schwangere an Bord.

Wie abhängig sind Sie von der Tide?

Die größeren Inseln vor unseren Küsten sind tidenunabhängig zu erreichen. Das gilt erst recht für unsere Rettungseinheiten, die relativ wenig Tiefgang haben. Bei kleineren Inseln oder Festlandshäfen kann es vorkommen, dass wir bestimmte Liegeplätze in den Häfen bei extremem Niedrigwasser nicht mehr anlaufen können. Dann wird der Vormann entscheiden, ob der Transport möglich ist oder nicht. In aller Regel kann er durchgeführt werden.

Wie sind die Seenotretter dafür ausgebildet? Sind sie hauptamtliche Retter oder Freiwillige?

Nur 180 Seenotretter sind bei der DGzRS fest angestellt, mehr als 800 sind Freiwillige. Alle erhalten keine spezielle geburtshilfliche, sondern eine erweiterte Erste-Hilfe-Ausbildung. Sie sind aber in der Regel keine Rettungssanitäter oder -assistenten. Auf den meisten Stationen verfügen wir jedoch über freiwillige Seenotärzte, die bei Bedarf mit rausfahren. Auch können Hubschrauber im Seenotfall einen Arzt zu einem unserer Seenotrettungskreuzer hinausfliegen. Schwangere werden bei dringenden Transporten mit unseren Rettungseinheiten in der Regel von ihren Hebammen begleitet.

Geht es immer gut oder gab es auch schon Dramen?

Glücklicherweise kann ich mich an kein Drama erinnern. Nur bei wenigen dringenden Schwangerentransporten kommt es überhaupt zur Geburt an Bord. Gleichwohl ist die Fahrt mit dem Seenotrettungskreuzer zum Festland sicherlich für jede werdende Mutter eine ganz besondere Situation – aber auch für die Seenotretter. Wenn eine Hebamme und vielleicht sogar der werdende Vater dabei sind, versuchen unsere Besatzungen, sich so unsichtbar wie möglich zu machen, um möglichst viel Privatsphäre zu schaffen.

Wer vergütet die Einsätze? Der Rettungsdienst an Land wird ja von den Krankenkassen bezahlt.

Die gesamte satzungsgemäße Arbeit der Seenotretter wird ausschließlich durch freiwillige Zuwendungen finanziert. Krankentransporte gehören generell nicht dazu. Wir übernehmen sie im Rahmen der Amtshilfe, und auch nur dann, wenn unsere Rettungseinheiten nicht in sogenannten SAR-Einsätzen gebunden sind, das heißt „Search and Rescue“ für Suche und Rettung. Die Kosten für Krankentransporte werden in diesen Fällen von den Krankenkassen übernommen.

Empfinden Ihre Kollegen es als Bedrohung oder Bereicherung, Gebärende zu transportieren?

Ganz klar als Bereicherung. Diese Einsätze gehören wohl mit zu den schönsten der Seenotretter. Natürlich hoffen alle Beteiligten, dass das Kind sich bis zum Krankenhaus Zeit lässt. Aber auch zwischen Seenotrettungskreuzer und Krankenhaus kann noch einiges passieren. Ein aktuelles Beispiel: Im vergangenen Jahr sind nach dem dringenden Transport einer Schwangeren mit unserem Seenotrettungskreuzer ALFRIED KRUPP von der Station Borkum ans niederländische Festland Zwillinge im Rettungswagen an Land zur Welt gekommen. Beinahe hätten sie unterschiedliche Staatsbürgerschaften erhalten. Sie wurden geboren, als der Rettungswagen gerade die deutsch-niederländische Grenze passierte.

Vielen Dank für Ihre Auskünfte.

Zitiervorlage
Stipeldey C: Erster Schrei an Bord. DEUTSCHE HEBAMMEN ZEITSCHRIFT 2017. 69 (8): 50–53
Links
Die ganze Geschichte im Video:
https://www.youtube.com/watch?v=L3TbHogoG1o.
https://staudeverlag.de/wp-content/themes/dhz/assets/img/no-photo.png