Der Vorsitzende Richter schlägt die Einstellung des Verfahrens gegen die Hebamme vor. Zeichnung: © Nikolaus Baumgarten

Am fünften Verhandlungstag wird das Strafverfahren gegen eine Hebamme eingestellt, der die fahrlässige Tötung einer Mutter im Zusammenhang mit einer Hausgeburt vorgeworfen wurde. Zuvor stellt ein Gutachten der Verteidigung die Beurteilung durch die geburtshilfliche Gutachterin umfassend in Frage. Der Gerichtsmediziner erläutert das Ergebnis der Obduktion der verstorbenen Mutter. 

Am vierten Verhandlungstag, dem 28. August, hatte Strafverteidiger Armin Octavian Hirschmüller eine geburtshilflich-gynäkologische Begutachtung durch eine:n andere:n Sachverständige:n gefordert. In seinem ausführlichen Antrag begann er um 9.30 Uhr das von der Verteidigung in Auftrag gegebene Gutachten von Dr. Wolf Lütje vorzulesen. Dieser hatte zunächst die seelische Situation der Schwangeren gewürdigt, die aus der Erstgeburt traumatisiert hervorgegangen war. Die Hebamme habe das erkannt. Es habe »unterlassene Hilfeleistung« im Raum gestanden, falls sie die Betreuung der Hausgeburt abgelehnt hätte. (Siehe Teil 6, DHZ 4/2024 Seite 82ff.)

Hirschmüller fährt fort: Der ehemalige Chefarzt der Frauenklinik am Hamburger Amalie Sieveking Krankenhaus betone in seinem Gutachten ausdrücklich, es habe kein Verstoß der Hebamme gegen die Sorgfaltspflicht vorgelegen. Er widerspricht damit den Einlassungen der Gutachterin Dr. Christiane Nübel. Die Kriterien für Hausgeburten sähen zwar vor, dass bei den vorliegenden Risikofaktoren besondere Sorgfalt bei Aufklärung, Planung und Durchführung der Hausgeburt angezeigt sei. Dem sei aber fallbezogen entsprochen worden: Die Geburtstraumatisierung sei hinterlegt und berücksichtigt worden, mehrere Personen, insbesondere Ärztinnen, hätten ihre Bedenken begründet vorgetragen. Die Hebamme habe das Risiko einer möglichen erneuten postpartalen Blutung im Rückblick auf die erste Geburt – mit tagelanger Einleitung, vaginal-operativer Beendigung mit großem Dammschnitt und unter Kristellerhilfe sowie manueller Lösung in Intubationsnarkose – zu Recht relativiert und habe sich bei der Hausgeburt ärztlicher Mithilfe gewiss sein können.

Die Makrosomie des Kindes, die Nübel bei einem Geburtsgewicht des Jungen von 4.220 g der Hebamme als Risikofaktor angelastet habe, sei nicht bekannt gewesen: Eine Pränataldiagnostikerin habe drei Tage nach dem errechneten Termin das Gewicht des Kindes per Ultraschall auf 3.835 g geschätzt. Die Geburt selbst sei schnell und unkompliziert verlaufen. Mehrere Faktoren, die bei der ersten Geburt eine Rolle gespielt hätten und die jeder für sich ein um etwa 100 % erhöhtes Wiederholungsrisiko für eine postpartale Blutung nahelegten, seien hier nicht im Spiel gewesen, wie eine Oxytocin-unterstützte Einleitung, eine vaginal-operative Entbindung und eine protrahiert verlaufende Geburt. Im No-Risk-Kollektiv sei immer ein Grundrisiko von 5 % für eine postpartale Blutung gegeben. Hier sei das Risiko vermutlich erhöht gewesen, aber die von Dr. Nübel angenommenen 30 % seien haltlos und unqualifiziert. Unter den Rahmenbedingungen dieser Zweitgeburt sei nicht zwangsläufig von unbeherrschbaren Komplikationen bei der Mutter auszugehen gewesen. »Es erfolgte also durchaus Shared-decision-Making auf Basis der Risiken mit der Erkenntnis, dass die Hausgeburt alternativlos ist und die Restrisiken tragbar sind unter diesen ganz besonderen, einmaligen Umständen mit zwei Notärztinnen vor Ort.«

Oxytocingabe post partum zwingend?

Weiter geht Lütje auf die besonderen Umstände der Geburt ein. Trotz Risiken, einschließlich nicht vorbekannter Makrosomie, sei die Geburt des Kindes zunächst problem- und komplikationslos verlaufen: »Das Kind wird top fit geboren«, fasst er zusammen. Die Leitlinie »Vaginale Geburt am Termin«, die die postpartale Gabe von Oxytocin stark empfehle, sei zum Zeitpunkt dieser Geburt noch nicht veröffentlicht gewesen. Die Gabe von Oxytocin wäre hier rückblickend wünschenswert gewesen, jedoch nicht zwingend. Trotz Vorgeschichte habe der Geburtsverlauf nicht unbedingt erwarten lassen, dass es nach der Geburt zu dramatischen Blutungen kommen würde. Unter dieser Prämisse sei der Verzicht auf Kontraktionsmittel zu vertreten gewesen. Es bleibe offen, ob die prophylaktische Gabe von Oxytocin den tragischen Verlauf entscheidend beeinflusst hätte. Selbst für den Fall einer Blutung als kausale Ursache sei nicht gesichert, dass das Leben der Mutter hätte gerettet werden können: »Unter der Annahme einer Fruchtwasserembolie als Ursache hat die Oxytocingabe so gut wie keine Relevanz.«

Der weitere postpartale Verlauf erschließe sich nicht klar aus den Unterlagen. Die Beteiligten hätten unterschiedliche Angaben gemacht. »Es ist nicht auszuschließen, dass diese ex post der eigenen Entlastung dienen«, meint Lütje. Im Gutachten von Dr. Nübel sei ein Foto erwähnt, das um 6.39 Uhr, also 15 Minuten post partum entstanden sei. Darauf erkenne die Gynäkologin eine deutliche Rotfärbung des Poolwassers. »Jeder Mediziner – insbesondere mit großer Erfahrung mit Wassergeburten – weiß, dass selbst kleinste Blutmengen zu intensivster Rotfärbung führen und den Eindruck großen Blutverlustes vortäuschen«, betont Lütje. Aus der rein optischen Wahrnehmung auf einem Foto könne man nicht schließen, dass eine ungewöhnliche Blutung vorlag. Schon gar nicht könne anhand der Färbung des Geburtswassers die Menge eines Blutverlustes definiert werden. »Die Gutachterin Frau Dr. Nübel spricht von geschätzten 1.500 ml Blut, was haltlos ist und wenig qualifiziert klingt«, urteilt Lütje.

Der sich dann abzeichnende Schockzustand bei der Mutter habe weder von der Hebamme noch den anderen Beteiligten einer schweren Hämorrhagie zugeordnet werden können. Selbst wenn der von der Hebamme geschätzte Blutverlust um 7.28 Uhr nicht 500 ml, sondern 1.000 ml gewesen wäre, erkläre dies nicht die Notwendigkeit verschärfter Reanimationsmaßnahmen. Wie Dr. Nübel in ihrem Gutachten richtig ausgeführt habe, komme es zu einem solchen blutungsbedingten Schockzustand bei gesunden Frauen erst ab einem Blutverlust von mindestens zwei bis drei Litern. »Für diesen Fall hätte das Poolwasser von Blut und Koageln dick durchtränkt sein müssen, was offenbar nicht vorlag.« Selbst wenn sich Blut in der Scheide gesammelt hätte, wäre jemandem der Abgang großer Koagel aufgefallen. Dies sei aber nirgendwo dokumentiert. »Es ist also nicht auszuschließen, dass bei diesem tragischen Fall ein anderes akut lebensbedrohliches Ereignis wie eine Fruchtwasserembolie vorlag«, resümiert Lütje.

Verantwortung der beiden Notärztinnen

Das unklare Bild der Störungen habe bei dem völlig überforderten Betreuungsteam ohne klare Abstimmungen und Aufträge im Zusammenhang von Kollision und Befangenheit zu einer laienhaften Erstversorgung mit erheblicher Zeitverzögerung geführt. Mögliche hebammenspezifische Maßnahmen wie die dann erfolgte Gabe von Cytotec zur Plazentalösung oder das Legen eines Katheters hätten für den weiteren Verlauf eine untergeordnete Rolle gespielt. Während der Reanimation habe die Frau nicht geblutet, der Uterus sei gut kontrahiert gewesen. Ob unmittelbar postpartal eine kurzfristige Atonie bei partiell gelöster Plazenta aufgetreten sei, bleibe offen. Eindeutige Beschreibungen in der Dokumentation wären für eine nachträgliche gutachterliche Beurteilung erforderlich gewesen, beispielsweise »Badewasser gefüllt mit Koageln und dickem Blut«.

Aus Sicht von Lütje trugen die beiden anwesenden Notärztinnen »die Hauptverantwortung für die insuffiziente Erstversorgung, die ohne Frage ihnen oblag.« Dass der Rettungsdienst so spät gerufen worden sei, sei eine ärztliche Fehlleistung. »In einer Situation der Hochpathologie mit Reanimation steht die Hebamme überall in zweiter Linie und ist für Organisation und Behandlung nicht primär verantwortlich.« Er fragt, warum sich die Ärztinnen nicht bewusst gewesen seien, dass sie für den Fall von Komplikationen in der Mitverantwortung gestanden hätten und zwangsläufig im Notfall – so wie auf der Straße – Erste Hilfe hätten leisten müssen. Hier hätten sie sogar die Möglichkeit gehabt, sich entsprechend einzurichten. Warum hatten sie sich nur halbherzig mit Ambubeutel, Kanüle, Infusion vorbereitet, nicht aber der möglichen Situation entsprechend professionell? Beispielsweise hätten die beiden Notärztinnen problemlos zwei Gramm Tranexamsäure vorhalten können – einen lebensrettenden Gerinnungsstabilisator.

In der Klinik kostbare Zeit verloren?

Auch die weitere Behandlung nach Verlegung ins Bochumer St. Elisabeth-Krankenhaus stellt Lütje in Frage. Die Mutter sei im Schockraum interdisziplinär versorgt worden. »Alle Befunde sprechen für einen äußert kritischen Zustand mit fast infauster Prognose«, schildert er die Lage. Die anwesenden Gynäkolog:innen hätten keine Blutung festgestellt, auch nicht bei der offenbar unkomplizierten Plazentalösung. Die auch mit Ultraschall verifizierte Situation habe die Gynäkolog:innen sogar dazu veranlasst, die Inspektion der Geburtswege und eine Ausschabung der Gebärmutter mit Einlegen eines Ballons oder einer Tamponade zu unterlassen. »Dies ist ein schwerer Behandlungsfehler«, urteilt Lütje. Es könne sein, dass im Schockzustand die Blutzufuhr zum Uterus im Sinne einer Zentralisierung komplett heruntergefahren werde. Entsprechend könne es nach Stabilisierung erneut bluten, was fatalerweise hier auch geschehen sei.

Nach dem Leitsatz der Medizin »Was häufig ist, ist häufig – was selten ist, ist selten«, hätten die Ärzt:innen zunächst von den naheliegenden Diagnosen »postpartale Hämorrhagie« oder »Fruchtwasserembolie« ausgehen und diese konsequent behandeln müssen. Tragischerweise hätten sie aber der raschen Durchführung einer Computertomografie den Vorzug gegeben, weil sie die wahrscheinliche Ursache der Reanimationspflichtigkeit »völlig unbegründet in Frage gestellt« hätten. Auch hier habe offenbar ein tragischer Diagnose-Irrtum vorgelegen. Das CT habe erwartungsgemäß keinen zielführenden Befund gebracht. Auffälligkeiten hätten sich allerdings im Uterus gezeigt: Noch während der Untersuchung habe es dramatisch zu bluten begonnen, so dass bei der frisch Entbundenden im OP eine Ausschabung durchgeführt worden sei – angeblich ohne Plazentareste. Vorsorglich sei ein Bakri-Ballon eingelegt worden. Dennoch sei es zu erneuten Blutungen gekommen – nun vermutlich aufgrund einer manifesten Gerinnungsstörung. Daraufhin sei die Notfall-Hysterektomie vorgenommen worden. Die pathologische Untersuchung der Gebärmutter habe später ein relativ großes Areal mit Plazenta-Anteilen bei Plazenta accreta gezeigt.

»Sowohl im häuslichen Bereich als auch in der Klinik führten Diagnose-Irrtümer zu jeweils falschen Annahmen und Behandlungen«, beurteilt Lütje die komplexe Situation. Die sofortige Ausschabung nach Plazenta-Entfernung mit Einlegen eine Ballons oder einer Celoxtamponade hätten vielleicht einen weiteren Blutverlust verhindert, der möglichweise der entscheidende Faktor zur Auslösung der tödlichen Gerinnungstörung war. Diese Einschätzung bleibe jedoch hypothetisch und bedürfe der weiteren gutachterlichen Einschätzung durch eine:n Intensivmediziner:in und Hämostasiolog:in.

Wahllos Infusionenen verabreicht?

Hinsichtlich der Gerinnungsstörung stellt Lütje auch das Infusionsmanagement in Frage. Gemäß der Protokolle seien seit Eintreffen des Notarztes bis zum Ende der Behandlung im Schockraum »wahllos« wahrscheinlich insgesamt viereinhalb Liter Trägerlösungen wie Jonosteril infundiert worden. Im Rahmen der sogenannten Flüssigkeitsreanimation und des Algorithmus der PPH-Konsensus-Gruppe »wird der eher restriktive Umgang mit kristallinen Trägerlösungen empfohlen mit der Gabe von maximal drei bis dreieinhalb Litern.« Der Flüssigkeitsersatz müsse zudem sehr gut gesteuert werden – insbesondere über den zentralen Venendruck. »In diesem Fall hat die Flüssigkeitsüberladung sicher einen gewaltigen Verdünnungseffekt ausgelöst und die instabile Gerinnungssituation möglicherweise zusätzlich verschlechtert.«

Hirschmüller trägt schließlich Lütjes Resümee vor: Eine schwere, mitunter auch okkult ablaufende postpartale Hämorrhagie werde selbst im klinischen Setting nicht immer rechtzeitig diagnostiziert und könne damit auch nicht immer erfolgreich behandelt werden. In diesem Fall müsse unabhängig von der nicht zu beweisenden Diagnose »von einer extremen Fulminanz ausgegangen werden«. Somit sei das Überleben der Mutter »auch im klinischen Setting selbst unter bestmöglichen Rahmenbedingungen keineswegs garantiert gewesen.« Nach 45 Minuten kommt Hirschmüller nun zum Ende und tritt mit seinem Papier an den Richtertisch. Der Vorsitzende Richter Josef Große Feldhaus diktiert für das Protokoll: »Herr Hirschmüller verlas einen Antrag, den er in Schriftform überreichte.«

Anschließend sollen Fotos und Videoaufnahmen von der Geburt am 10. September 2020 angeschaut werden. Der Vorsitzende Richter verkündet dazu einen Gerichtsbeschluss: »Für die Inaugenscheinnahme der Lichtbilder und Geburtsaufnahmen soll die Öffentlichkeit ausgeschlossen werden, weil es sich um ein höchstpersönliches Geburtsgeschehen handelt.« Die Zuschauer:innen verlassen den Saal.

Obduktion zwölf Tage nach dem Tod

Um kurz vor 11 Uhr geht es weiter: Der Gerichtsmediziner Dr. Kurt Trübner vom Institut für Rechtsmedizin des Universitätsklinikums Essen erstattet sein Gutachten von der Obduktion der verstorbenen Mutter. Er hatte die Untersuchung mit einem weiteren Facharzt für Rechtsmedizin am 23. September vorgenommen – zwölf Tage nach ihrem Tod. Die Obduktion sei spät erfolgt, erst nachdem die Ehefrau der Verstorbenen Vorwürfe gegen die Hebamme erhoben habe.

In der eineinhalbstündigen Untersuchung des Leichnams seien Zeichen massiven Multiorganversagens gefunden worden. Man habe die Organe auch feingeweblich untersucht: Bei der Leber habe sich ein Normalbefund gezeigt. Beim Herz habe man keine Herzmuskeluntergänge gefunden, aber geringe Einblutungen in die Herzaußenhaut – insgesamt auch ein Normalbefund. Der Dickdarm sei allerdings schwer geschädigt gewesen. Es habe eine »nekrotisierende und akut entzündliche Dickdarmschleimhaut« vorgelegen, führt Trübner aus und erläutert, die Dickdarmschleimhaut sei teilweise massiv eingeblutet und entzündlich infiltriert gewesen. Das untergegangene Darmgewebe sei im Rahmen eines abdominellen Kompartmentsyndroms schwärzlich-dunkelrot verfärbt gewesen.

Schwer geschädigte Lunge

Der Gerichtsmediziner kommt nun zur Untersuchung der Lunge: Auch die Lunge sei zum Zeitpunkt des Todes, knapp einen Tag nach dem Schock, schwerstens geschädigt gewesen mit massiver Lungenüberwässerung. Das Gewebe sei aber relativ blutarm gewesen – sogar eine gewisse Blässe habe hier vorgeherrscht. Man habe den Zustand nach Anlage einer EKMO, einer Extrakorporalen Membranoxygenierung, vorgefunden. Bei diesem Verfahren übernehme eine Maschine vorübergehend die Funktion der Lunge und versorge den Körper mit Sauerstoff. Es habe das Vollbild einer Lungenfunktionsstörung als Folge des Schockgeschehens vorgelegen. Trübners Diagnose: schwere eitrige Entzündung der Luftröhre und der Bronchien mit beginnender Lungenentzündung, akute Blutstauung, Lungenödem, deutliche Reduktion von funktionstüchtigem Lungengewebe, Verdacht auf Pilz-Pneumonie. Feste Bestandteile als Hinweise auf eine Fruchtwasserembolie seien im Lungengewebe nicht gefunden worden.

Trübner schließt mit seiner Einschätzung: »Unter Einbeziehung der Vorgeschichte muss davon ausgegangen werden, dass der Blutung die entscheidende todesursächliche Bedeutung zukommt. Im Rahmen dieser Blutung kam es zu einem schweren Schock mit Abfall des pH-Wertes.« Der Kreislauf habe durch die intensivmedizinischen Maßnahmen zwar zunächst erhalten werden können. »Ausgangspunkt und damit todesursächlich war aber hier die klinisch bereits bekannte Blutung mit dem hämorrhagischen Schock.« Trübner geht nun noch einmal die Geburt und das Geschehen danach durch und kommentiert die Unterlagen im Hinblick auf seine Deutung der Todesursache. Dabei sieht er vor allem das Vorgehen der Hebamme kritisch, diese Hausgeburt übernommen zu haben und bei Beginn der Komplikationen nicht frühzeitig einen Notarzt gerufen zu haben. Besonders die Azidose der Mutter beim Eintreffen in der Klinik sieht er bedenklich: Der pH-Wert war gegenüber dem Norm-Wert von 7,3 bis 7,4 abgesunken auf 6,3 – und nach Therapie nur auf 6,8 angestiegen. Wenn die Frau rechtzeitig im Krankenhaus gewesen wäre, hätte man schnell reagieren und puffern können. »Die Azidose ist die Folge der Blutung über einen sehr langen Zeitraum. Sie ist das entscheidende Problem für den moribunden Zustand gewesen, mit dem die Patientin im Krankenhaus eingetroffen ist«, urteilt Trübner. Man habe zu diesem Zeitpunkt nichts mehr machen können. »Der niedrige Hb-Wert von 5,8 g/dl beim Eintreffen in die Klinik ist ein klarer Fakt, an dem kommt man nicht vorbei.« Alles andere seien Folgen. Als Rechtsmediziner sei er kein Gynäkologe, aber: »Die Wahl des Settings war falsch!« und nach der Geburt »wurde die Situation nicht richtig eingeschätzt«, das steht für ihn außer Frage.

Nun wird der Gerichtsmediziner von den Richtern und den Anwälten ausführlich zu Details seiner Einschätzung hinsichtlich Blutverlust und Reanimation befragt und dem Zeitpunkt verschiedener Maßnahmen, die ergriffen worden waren. Strafverteidiger Hirschmüller geht auf den niedrigen initialen Hb-Wert bei Ankunft in der Klinik ein. Nach ihrer ersten Geburt, habe die Mutter einen Hb-Wert von 5,5 g/dl gehabt bei einem Blutverlust von 700 ml. Sie habe sich damals aber nicht in einem lebensbedrohlichen Zustand befunden. »Für mich ist das lebensbedrohlich.«, entgegnet Trübner. »Kann es sein, dass Menschen unterschiedlich reagieren?«, fragt der Verteidiger weiter. »Normalerweise ist das pathologisch und lebensbedrohlich. Die Reserve eines Menschen ist immer unterschiedlich«, räumt der Gerichtsmediziner ein. »Sie wurde dann mit einem Hb-Wert von 6,4 g/dl nach Hause entlassen«, hakt Hirschmüller nach. »War das ein lebensbedrohlicher Zustand?« Nach einem kleinen Austausch über den Hb-Wert, dem Trübner einen hohen Stellenwert in seinem Gutachten gegeben hatte, gibt er zu: »Ich hatte diese Unterlagen nicht und wusste nicht, dass sie mit einem solchen Wert entlassen wurde.« Hirschmüller fragt auch genauer zur anderen diskutierten Todesursache nach, auf die der Vorsitzende vorher schon angesprochen hatte: »Sie sagten, Sie hatten keine Anhaltspunkte für eine Fruchtwasserembolie. War es zu dem späten Zeitpunkt der Obduktion überhaupt noch möglich eine Fruchtwasserembolie nachzuweisen?« Trübner antwortet, ohne auf den zweiten Teil der Frage genauer einzugehen: »Eine Embolie kann durch eine EKMO therapiert werden. Dazu muss ich mich schlau machen, ob das auch für eine Fruchtwasserembolie zutrifft. Wir haben bei der histologischen Untersuchung der Lunge keine Fruchtwasserbestandteile gesehen – weder in den kleinen Gefäßen noch in der Lunge. Wenn man sonst nichts anderes findet – die Klinik passte überhaupt nicht dazu!« Um 14.10 Uhr wird der Gerichtsmediziner entlassen.

Nachdem der Vorsitzende sechs neue Verhandlungstermine für weitere sechs Wochen bis Mitte Oktober festgelegt hat, ergreift er abschließend das Wort: »Nach vorläufiger Würdigung der Beweisaufnahme neigt die Kammer zu der Annahme, dass die Hebamme ein Übernahmeverschulden trifft.« Den Ansatz dafür sehe die Kammer in der Berufsordnung für Hebammen, ergänzt er und zitiert: »Hebammen leisten Hilfe bei allen regelrechten Vorgängen der Schwangerschaft, der Geburt und des Wochenbetts.« Die Geburtsbegleitung sei unzureichend gewesen, die Hebamme hätte die Betreuung der Hausgeburt ablehnen müssen, weil sie keine ausreichende Qualifikation hatte. Die Kriterien für die Versorgung mit Hebammenhilfe nach dem fünften Sozialgesetzbuch würden nicht nur für gesetzlich Krankenversicherte gelten, sondern so wie hier auch für Privatversicherte. In diesem Fall hätten Risiken vorgelegen, wie eine Blutung bei der ersten Geburt sowie eine Terminüberschreitung bei dieser Geburt. Die Hebamme habe kein fachärztliches Konsil eingeholt. Der Vorsitzende erläutert: »Die Kammer gibt ihre Auffassung bekannt, wo die Reise hingeht. Das ist so üblich, wenn die Beweisaufnahme so gut wie abgeschlossen ist.«

Überraschendes Prozessende

Für den fünften Verhandlungstag am 1. September scheint wenig anzuliegen. Zeug:innen oder Gutachter:innen sind nicht geladen. Im Zuschauerraum sind nur wenige Interessierte anwesend. Von den Prozessbeteiligten fehlt Strafverteidiger Hirschmüller wegen einer Erkrankung. Der Vorsitzende Richter verkündet zunächst den Beschluss der Kammer: Der Antrag von Strafverteidiger Hirschmüller, eine neue geburtshilflich-gynäkologische Begutachtung durch eine:n andere:n Sachverständige:n anzuordnen, wird abgelehnt. Anschließend wird die Beweisaufnahme geschlossen, aus Sicht der Kammer sei alles geklärt. Alle drei Parteien werden gefragt, ob sie heute noch plädieren könnten.

Staatsanwalt Jens Cieslak und der Anwalt der Nebenkläger:innen, Marcus Tewes, sind darauf eingestellt und bejahen. Pflichtverteidiger Marcus Bartscht hält dies für unglücklich, weil sein Kollege Hirschmüller nicht anwesend ist, der die Angeklagte federführend vertreten hatte. Er habe beantragt, den Termin zu verschieben, was die Kammer abgelehnt habe. Wenn es nicht anders ginge, könne er aber plädieren.

Überraschenderweise stellt der Vorsitzende nun die Einstellung des Verfahrens in Aussicht – nach einer entsprechenden Erklärung der Hebamme. Neben anderen Anschuldigungen in der Anklageschrift der Staatsanwaltschaft, die das Gericht nach Abschluss der Beweisaufnahme nicht aufrecht erhalten habe, stehe am Ende noch ein Übernahmeverschulden der Hebamme im Raum. Zunächst fragt der Vorsitzende Richter den Staatsanwalt, ob die Einstellung für ihn eine Option sei. Der antwortet: »Es gibt einiges, was gegen die Angeklagte spricht. Aber es gibt auch einiges, was für die Angeklagte spricht.« Deshalb würde er dem Vorschlag der Kammer zustimmen. Auch der Anwalt der Nebenklage Tewes stimmt sofort zu, ebenso wie Pflichtverteidiger Bartscht. Nachdem auch die Angeklagte zugestimmt hat, wird die Verhandlung für eine Beratungspause unterbrochen.

Zurück im Gerichtssaal, verliest die Hebamme eine vorbereite Erklärung: Mit dem Wissen aus heutiger Sicht hätte sie die Vorgeschichte der ersten Geburt genauer recherchiert und die Betreuung der Hausgeburt dann nicht übernommen. Damals seien ihr bedeutende Details zur ersten Geburt nicht bekannt gewesen und auch durch das Paar leider nicht bekannt gemacht worden. Auch im Mutterpass seien keine Risiken dokumentiert gewesen, bei allen aufgeführten Risiken sei explizit »Nein« angekreuzt gewesen. Selbst in der Epikrise zur ersten Geburt habe die Klinik keine der Komplikationen wie Uterus-Atonie, manuelle Nachtastung bei unvollständiger Plazenta accreta und Kürettage in Intubationsnarkose im Mutterpass dokumentiert, ebensowenig wie die niedergelassene Gynäkologin, die durch Arztbriefe entsprechend informiert gewesen sei. Da ihr diese Informationen nicht vorgelegen hätten, habe die Hebamme keinen Anlass gesehen, zur ersten Geburt weiter zu recherchieren. Sie schaut die Witwe an und setzt hinzu: »Es tut mir leid«.

»Niemand trägt die Schuld am Tod der Frau«, stellt der Vorsitzende Richter abschließend fest. »Auch Sie nicht«, ergänzt er mit Blick auf die Witwe. Mit einer Zahlung von 12.000 Euro von der Hebamme an den Bochumer Kinderschutzbund soll das Verfahren beendet werden. Die Kosten des Verfahrens trägt die Landeskasse. Die Hebamme hat ihre eigenen Auslagen zu tragen, wie die erheblichen Kosten für ihren Strafverteidiger, ebenso die Auslagen und Anwaltskosten aller Nebenkläger:innen – der Witwe, die auch im Namen ihrer beiden Kinder geklagt hatte. Die Hebamme ist damit weder schuldig gesprochen noch vorbestraft.

Zitiervorlage
Baumgarten, K. (2024). Schwurgerichtsprozess am Landgericht Bochum – Teil 7: »Niemand trägt Schuld am Tod der Frau«. Deutsche Hebammen Zeitschrift, 76 (5), 86–91.
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