Umgang mit dem Risiko
Voraussetzung für die Vergütung der Betriebskosten der HgE ist die Aufnahme in die Liste der Vertragseinrichtungen gemäß § 4 Abs. 5 des Ergänzungsvertrages zu § 134a SBG V vom 27. Juni 2008, zuletzt geändert am 1. Juni 2012. Zentraler Bestandteil dieses Vertrages ist die Anlage 1 „Qualitätsvereinbarung” mit § 7 „Aufklärung “. In § 10 sind die Anforderungen an ein Qualitätsmanagement-System in einer HgE geregelt. Die dort beschriebenen Ziele verdeutlichen den Zusammenhang zwischen einem QM-System und dem Anliegen, dass dieses eine Grundlage zur externen Prüfung bilden kann.
„Das QM-System in der HgE im Sinne des Ergänzungsvertrages hat das vorrangige Ziel, die Qualität der Versorgung mit Hebammenhilfe, der medizinischen Versorgung und die Betreuungsqualität in allen Bereichen der HgE sicherzustellen und weiterzuentwickeln”, so § 10 Absatz 1 der Anlage 1 des Ergänzungsvertrags § 134a SBG V. Weiter heißt es dort: „Begleitung und Beratung erfolgen in der Schwangerschaft und bei der Geburt in kooperativer Form. Sie basieren auf den Prinzipien der informierten Entscheidung und der Mitverantwortung der Schwangeren und Gebärenden”. An dieser Stelle werden auch die Grundelemente eines einrichtungsinternen Qualitätsmanagements dargestellt. Das Kapitel Risikomanagement enthält als ersten Punkt die Aufklärung.
Risiken sollen reduziert, analysiert und weitgehend ausgeschlossen werden. Dabei wird nicht unterschieden zwischen einem Risiko als möglicher Gefahr und wissenschaftlich definierten Risiken, die auf Berechnungen beruhen. Diese Berechnungen wiederum basieren historisch betrachtet auf einem Versicherungsdenken, das die Risikovermeidung zum Ziel hat. Hier bezieht sich die Definition nicht mehr auf eine Gefahr oder ein mögliches negatives Ereignis, sondern ist eine statistisch berechnete, wahrscheinlichkeitstheoretische Vergegenwärtigung von zukünftigen Ereignissen. Risiken existieren nicht, sondern werden hergestellt (Samerski 2002:116).
Die Zusammenführung der Begriffe „klinisches Risiko” schweißt statistische und diagnostische Indikatoren zusammen. Es wird nicht mehr der einzelne Mensch gesehen, sondern das Individuum liefert Daten, die mit Profilen anderer Daten verglichen werden können. Damit wird die gegenwärtige Situation verlassen und Projektionen über Wahrscheinlichkeiten werden in die Zukunft implantiert (Duden 2006). Für das Verständnis der großen Wirkmacht des Begriffes „Risiko” im Zusammenhang mit Qualitätsmanagement-Systemen in der Medizin und deren Folgen für die zu beratende schwangere Frau oder das Paar, braucht es zum besseren Verständnis der heutigen Situation einen historischen Abriss. Wie kam das Risiko in die Medizin und in das Denken der Menschen?
Der Geburt geht die Schwangerschaft voraus und damit eine Fülle von informierten Entscheidungen. Wenn heute ein Kind geboren wird, hat sich die Frau in den allermeisten Fällen bewusst dafür entschieden und bereits im Vorfeld oder direkt nach dem Eintreffen der Schwangerschaft eine Reihe von informierten Entscheidungen getroffen. Sie hat über unzählige Plattformen im Internet versucht, sich möglichst viel Wissen über das neue Gebiet anzueignen. Vielleicht hat sie auch schon Erfahrungsberichte gehört oder gelesen. Damit kommt sie bereits mit dem Gefühl eines dringenden Beratungsbedarfes zum Facharzt oder zur Fachärztin. Dort trifft sie auf ein medikalisiertes Risikomodell, das fest in der Schwangerenvorsorge in Deutschland verankert ist.
Die vorgeburtliche Qualitätskontrolle ist heute zur Routine geworden und wird kaum mehr hinterfragt. Ultraschallkontrollen und Ersttrimestertest zum Ausschluss einer fetalen Chromosomenstörung werden allen Schwangeren angeboten. Ungefähr jedes zehnte Kind wird durch eine Amniozentese auf seinen normgerechten Chromosomensatz getestet (Schmidke 2007).
Das Dilemma, dass in HgE nur gesunde Frauen geburtshilflich betreut werden, diese aber alle für sie momentan nicht zutreffenden Möglichkeiten von Risiken im Rahmen des RAG aufgezeigt bekommen müssen, fordert von Hebammen eine Strategieentwicklung für den Umgang damit. Es wird anhand der bereits 2008 vom Medizinischen Dienst der Krankenkassen und den damals vertretenden Verbänden vorgefertigten Checkliste durchgeführt und findet in der Regel zwischen der 33. und 35. Schwangerschaftswoche statt. Es dient in erster Linie der forensischen Absicherung der einzelnen Hebamme und der Einrichtung in ihrer Trägerfunktion.
Mit den Vorgaben für Hebammen aus dem Qualitätsmanagement, den zwingenden versicherungstechnischen Unterlagen und dem medizinisch-sozialen Hintergrund der schwangeren Frau oder des Paares kann für dieses Gespräch keine symmetrische Betreuungsebene entstehen. Die Hebamme muss die bis zu diesem Zeitpunkt geltende symmetrische Beziehungsebene verlassen. Das im salutogenetischen Betreuungsmodell fest verankerte Prinzip, die Frau mit ihren Anliegen und Bedürfnissen in den Mittelpunkt zu stellen, kann vor diesem Hintergrund nicht aufrechterhalten werden.
Qualitative Befragung
Das qualitative Forschungsdesign im Rahmen meiner Masterthesis lässt Hebammen als „Betroffene” und nicht als Expertinnen zu Wort kommen. Mit einer erzählauffordernden offenen Hauptfrage und zwei weiteren Unterfragen wurden Hebammen, die im QM-System von HgE tätig sind, mittels E-Mails zum Forschungsthema befragt. In der Befragung wurde nicht hinsichtlich der betreuten Klientel unterschieden, da das vorgegebene Verfahren des Risikoaufklärungsgespräches (RAG, ein in ihrer Masterarbeit verwendeter Begriff der Autorin) keine Unterscheidung vorsieht, zum Beispiel zwischen Erst- und Mehrgebärenden.
Über den E-Mail-Adressenverteiler des Netzwerkes der Geburtshäuser erfolgte im März 2013 eine Anfrage zur Teilnahme an der geplanten Forschungsarbeit. Insgesamt 13 von 38 angefragten HgE bekundeten ihr Interesse. In der Folgezeit sagten vier Einrichtungen wegen Arbeitsüberlastung wieder ab. Acht Rückmeldungen per E-Mail wurden ausgewertet. Eine weitere Befragte versendete den ausgedruckten Fragebogen per Post.
Die Analyse der erhobenen Daten wurde im Juni 2013 mit einer qualitativen Inhaltsanalyse durchgeführt. Das Material wurde schrittweise mit theoriegeleiteten, am Inhalt der Befragung entwickelten Kategoriensystemen bearbeitet (Mayring 2002:114). Qualitative Verfahren haben dann eine hohe Aussagekraft, wenn subjektive Sinnstrukturen und individuelle Erfahrungen in ihrem Kontext untersucht werden sollen. Dies ist zum Beispiel dann der Fall, wenn es bisher zum Gegenstand der Untersuchung keine Forschung gibt. Dimensionen für die Strukturierung ergaben sich aus der Fragestellung und der dahinterliegenden Theorie. Die Passagen, die sich auf die Forschungsfrage bezogen, wurden mit Ankerbeispielen aus den Texten belegt.
Aus den Ergebnissen geht hervor, dass die Mehrheit der befragten Hebammen 100 Prozent und mehr arbeitet. Sie sind in unterschiedlichen Arbeitsorganisationen und Trägerschaften der HgE tätig. Die Befragten zeigen ein breites Spektrum der Berufserfahrung. Drei Hebammen bringen eine langjährige Berufserfahrung mit. Eine Teilnehmerin wird in diesem Jahr aus Altersgründen die außerklinische Geburtshilfe einstellen. So kann auch das Alter der Hebamme ein Hinweis auf den Umgang mit der QM-Aufgabe sein. Zwei Hebammen sind erst kurz und nicht in Vollzeit in der außerklinischen Geburtshilfe tätig.
Das Abschlussjahr der Hebammenausbildung zeigt im Vergleich zur Aufnahme der freiberuflichen Tätigkeit bei fünf Hebammen eine Differenz. Das deutet darauf hin, dass möglicherweise eine klinische Vorerfahrung besteht. In der Regel arbeiten die Hebammen dort als Angestellte. Die ÄrztInnen sind den angestellt tätigen Hebammen gegenüber weisungsbefugt. Solche Vorerfahrungen machen sich möglicherweise in den Antworten dieser Hebammen bemerkbar.
Vier Hebammen sind als Qualitätsbeauftragte (QB) ausgebildet und in der Einrichtung für die QM-Vorgaben verantwortlich. Alle Teilnehmerinnen sind sowohl in HgE als auch als Hausgeburtshebammen in der außerklinischen Geburtshilfe tätig. Eine Hebamme arbeitet zusätzlich noch als Beleghebamme in einer Klinik.
Die Analyse der Ergebnisse richtet sich nach den Gütekriterien qualitativer Forschung. Die Beschränkung der Befragung auf die Sicht der Hebammen ist jedoch eine Limitation der Studie. Zum Verständnis des Einflusses eines im QM eingebundenen RAG und den daraus resultierenden Vor- und Nachteilen müsste auch die Sicht der betreuten schwangeren Frauen und deren Familien erforscht und berücksichtigt werden.
Dilemmata in der Betreuung
Alle neun Hebammen sehen ihre Arbeitsorganisation durch QM beeinflusst und entwickeln individuelle Strategien, das RAG in ihre Tätigkeit zu integrieren. Acht von neun Hebammen empfinden diese Auseinandersetzung als Bereicherung ihrer Tätigkeit. Alle neun Hebammen gaben an, dass das RAG Einfluss auf das subjektive Erleben der schwangeren Frau nehme. Sieben Befragte sehen im RAG einen negativen Einfluss auf die Schwangere. Ebenfalls sieben Hebammen geben an, dass das RAG keinen Einfluss auf die nachfolgende Geburt nehme. Sechs Befragte sehen für den Partner das RAG als beeinflussende Erfahrung. Auswirkungen oder Einfluss auf die weitere Umgebung sind allen neun Befragten unbekannt.
Mit den Ergebnissen der qualitativen Befragung von Hebammen, die mit dem RAG und QM-Vorgaben arbeiten, kann die übergeordnete Forschungsfrage nicht eindeutig beantwortet werden, ob ein QM-System die originäre Hebammenarbeit bedroht.
Diejenigen Hebammen, die direkt nach der Ausbildung in die Freiberuflichkeit und in die außerklinische Geburtshilfe eingestiegen sind, gehen mit den QM-Vorgaben positiv in das RAG und vermitteln den schwangeren Frauen und Paaren einen Sicherheitshintergrund. Hebammen, die weniger Berufserfahrung haben oder auch zu einer jüngeren Generation gehören, fällt es schwerer, diese QM-Vorgabe den schwangeren Frauen und Paaren zu vermitteln. In den Ergebnissen der Befragung wurde kein „roter Faden” bei der Durchführung des RAG sichtbar. Die Befragten antworteten sehr individuell, und es war deutlich zu erkennen, dass die Intentionen der Hebammen bei der Durchführung des RAG den Fokus bestimmen. Hebammen, die in festen, stabilen Teams langjährig zusammenarbeiten, gehen mit QM-Vorgaben im Allgemeinen und mit dem Sicherheits- und Risikomanagement im Besonderen, gelassen und professionell um. Hebammen, die nicht von ihrem Tun überzeugt oder unsicher sind, gelingt dies nicht. In diesem Fall wirkt die Durchführung des RAG eher von außen verordnet.