Seit dem 11. Januar dürfen freiberufliche Hebammen, wie Angela Horler, in Großbritannien keine Geburten mehr betreuen. Ihre Haftpflichtversicherung wurde als „unangemessen“ bewertet. Foto: © Angela Horler

Im Januar erschütterte eine Nachricht das Vereinigte Königreich. Den freiberuflichen Hebammen wurde dort buchstäblich über Nacht untersagt, Geburten zu betreuen. Es gebe ein Problem mit der Haftpflichtversicherung. Die freien Hebammen klagen dagegen, unterstützt von Social-Media-Kampagnen, Demonstrationen und einer Petition. Denn mit dieser kleinen Berufsgruppe steht viel auf dem Spiel. 

Zunächst ein kurzer Überblick über die Geburtshilfe im Vereinigten Königreich: Im internationalen Vergleich schneidet es gut ab. Schwangerenvorsorge, Geburtshilfe und Wochenbettbetreuung sind grundsätzlich von hoher Qualität. Die perinatale Sterblichkeitsrate liegt bei 5,92 pro 1.000 Geburten (MBRRACE 2016). Für gesunde Frauen ohne Vorerkrankungen oder Komplikationen während Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett sind Hebammen verantwortlich. GynäkologInnen, GeburtsärztInnen und andere Fachkräfte werden bei Bedarf hinzugezogen. Die Standards bei der Ausbildung der Nachwuchskräfte sind hoch. Das Studium wird als Bachelorstudiengang absolviert und zur Hälfte akademisch, zur Hälfte in der praktischen Ausbildung in Krankenhäusern, Geburtshäusern und in der Gemeinde bestritten. Die Fachliteratur ist frei zugänglich und Hebammenausbildung, berufliche Weiterbildung sowie die Praxis basieren auf Richtlinien, die regelmäßig dem neuesten Forschungsstand angepasst werden (NICE 2014). ÄrztInnen und Hebammen arbeiten nach nationalen und regionalen Richtlinien. Jede Fachkraft ist angehalten, sich regelmäßig weiterzubilden und in ihrer Tätigkeit neueste Forschungsergebnisse zu berücksichtigen.

Wider besseren Wissens

Die Birthplace in England Study bestätigte 2011 die Wahl einer Hausgeburt als sicherere Option sowohl für Erst- als auch für Mehrgebärende (Birthplace in England Collaborative Group 2011). Offiziell hat jede Frau die Wahl zwischen einer Hausgeburt, einer Geburt in der Midwifery Led Unit (von Hebammen geleitetet) oder der Obstretric-Led Unit (von ÄrztInnen geleitet). Die umfangreiche Studie hat eindeutig belegt, dass bei gleichen Voraussetzungen die Chancen auf eine natürliche Geburt am größten sind, wenn Hebammen sie betreuen. Obwohl der allgemeine Trend seit spätestens den 1960er Jahren zur Klinikgeburt geht, wie fast überall in der westlichen Welt, wünschen sich zehn Prozent aller britischen Frauen eine Hausgeburt. Aber nur für zwei Prozent, also ein Fünftel dieser Frauen, kann eine außerklinische Geburt tatsächlich angeboten werden (Better Births 2016).

Einer der Hauptgründe dafür ist der Mangel an Hebammen. 22.000 Hebammen sind momentan im staatlichen Gesundheitssystem National Health System (NHS) tätig, es würden aber 3.500 Vollzeitkräfte mehr gebraucht (RCM 2017). Ein weiterer Grund für die mangelhafte Hausgeburtsversorgung ist die häufig kurzsichtige Planung von KlinikleiterInnen. Einen Hausgeburtsservice zu gewährleisten, ist kurzfristig teurer und erfordert mehr Personal. Deshalb wird das selten unterstützt. Stattdessen werden große Geburtsstationen finanziert, in denen die Frauen unzähligen Hebammen und ÄrztInnen begegnen, in denen es unpersönlich und manchmal wie am Fließband zugeht (Hill 2017).

Stimmen in der Geburtshilfe und Forschung machen seit Jahren auf diesen Missstand aufmerksam. Diverse Studien haben eindeutig belegt, dass die Betreuung durch kleine Hebammenteams, in denen sich Frauen und ihre Hebammen gut kennenlernen und einen zuverlässigen Hausgeburtsservice anbieten, zu besseren Ergebnissen führen (Sandall et al. 2013; Better Births 2016; Homer et al. 2017). Trotzdem hat sich bisher in der Praxis kaum etwas geändert. Das staatliche Gesundheitssystem ist schwerfällig und Veränderung findet nur langsam oder aufgrund von Etatkürzungen gar nicht statt – trotz vieler gutgemeinter Absichtserklärungen.

Unabhängigkeit mit hohen Hürden

Dies ist einer der Gründe, weshalb Frauen außerhalb des NHS nach Hebammen suchen. Hier haben Familien die Wahl zwischen den „Neighbourhood Midwives” oder „One to One” die ins NHS eingebunden sind. Daneben gibt es auch „Private Midwives”, ein privates Unternehmen. Bei allen drei Gruppen sind die Hebammen privat angestellt.

Und dann gibt es insgesamt 80 Hebammen, die selbstständig sind. Diese freiberuflichen Hebammen haben sich unter dem Dachverband „Independant Midwives UK” (IMUK) zusammgeschlossen, der 2008 aus der „Independent Midwives Association” (IMA) hervorging. Selbstständige Hebammen betreuen rund 700 Geburten im Jahr und sind die einzigen tatsächlich autonom arbeitenden Hebammen im Vereinigten Königreich.

IMUK-Hebammen betreuen nicht nur Niedrig-Risiko-Hausgeburten, sondern nehmen nach ausgiebiger Beratung und Risiken-Analyse auf Wunsch der Frauen und Familien auch komplexere Fälle an wie Beckenendlagengeburten, natürliche Geburten von Zwillingen und Vaginalgeburten nach Kaiserschnitt (VBAC). Die Statistiken der freien Hebammen von IMUK sind verglichen mit dem Landesdurchschnitt beeindruckend: Die Hausgeburtsrate liegt bei 63 versus 2 Prozent landesweit, Vaginalgeburten 85 versus 74 Prozent. 99 Prozent der Frauen wählen eine natürliche Nachgeburtsphase ohne Oxytocin-Injektion, und nur 15 Prozent der Frauen werden per Kaiserschnitt entbunden, der Landesdurchschnitt beträgt 26 Prozent. Die Zahlen beim Stillen zeigen, dass 80 Prozent der Säuglinge in Familien, betreut durch eine freie Hebamme, in der vierten Woche ausschließlich Muttermilch bekommen, verglichen mit nur 24 Prozent in der sechsten Woche im Landesdurchschnitt (UNICEF 2010).

„Unangemessene” Haftpflichtversicherung?

Bis in die 1990er Jahre konnten sich freie Hebammen über den Berufsverband Royal College of Midwives (RCM) versichern lassen. In einer Abstimmung entschieden sich die Mitglieder, größtenteils staatlich angestellte NHS-Hebammen, 1994 gegen eine Verlängerung dieser Vereinbarung, denn es hätte einen Anstieg der Mitgliedsbeiträge bedeutet. Aufgrund der teuren Versicherungsprämien kommerzieller Versicherungsfirmen gelang es den freien Hebammen nicht, eine Haftpflichtversicherung abzuschließen, jedoch waren sie von 1994 bis 2014 auch nicht gesetzlich dazu verpflichtet. Allerdings mussten sie ihre Klientinnen darüber in Kenntnis setzen.

Im Juli 2014 trat eine EU-Direktive in Kraft, die eine berufliche Haftpflichtversicherung für Hebammen gesetzlich vorschrieb. Aufgrund der niedrigen Anzahl der freien Hebammen und der deshalb geringen Ressourcen für einen potenziell tatsächlich eintretenden Großschadensfall ließ sich jedoch keine dauerhaft bezahlbare kommerzielle Gruppenversicherung für freiberufliche Hebammen finden.

Schließlich entwickelte IMUK im Sommer 2015 eine eigene, auf freie Hebammen zugeschnittene Haftpflichtversicherung: „Lucina”. Das Produkt wurde von zwei unabhängigen Versicherungsexperten für adäquat befunden. Die Regulierungsbehörde für Hebammen und Krankenschwestern im Vereinigten Königreich, das Nursing and Midwifery Council, kurz NMC – in den letzten Jahren des Öfteren wegen unangemessener Sanktionen, Fehleinschätzungen und Vertuschungsversuchen eigener Fehlentscheidungen in die Schlagzeilen geraten – entschied im Dezember 2016, dass die Lucina-Haftpflichtversicherung „unangemessen” sei. Seit dem 11. Januar dürfen deshalb freie Hebammen keine Geburten mehr betreuen.

Das „unangemessen” („inappropriate”) bezieht sich auf die Summe im Versicherungstopf, die bei einem möglichen Schadenfalls zur Verfügung stünde. Den IMUK-Hebammen wurde aber nicht mitgeteilt, was genau denn „angemessen” wäre. Wie soll der Hebammenverband IMUK das Problem jedoch lösen, wenn es keine genaue Vorgaben und Vorschriften gibt? Diese Verantwortung wurde an Politik und Gewerkschaften abgeschoben, die wollen diese Entscheidung aber auch nicht treffen.

Bemerkenswert ist auch, dass diverse wichtige Faktoren bei der Entscheidungsfindung nicht berücksichtigt wurden: Die Wahrscheinlichkeit eines Schadenfalls wurde mit Statistiken von Klinikgeburten hochgerechnet. Bei Klinikgeburten gibt es jedoch Risiken, die bei Hausgeburten nicht bestehen, ein hohes Infektionsrisiko, interprofessionelle Fehlkommunikation, Risiken durch hohe Interventionsraten, zum Beispiel bei Kaiserschnitten, und die hohe Wahrscheinlichkeit iatrogener Schäden.

Klage vor dem High Court in London

Glücklicherweise ist es vielen freien Hebammen gelungen, Verträge mit Kliniken abzuschließen und deren Haftpflichtversicherung zu nutzen. Dies wird jedoch von allen Parteien nur als Übergangslösung empfunden.

Die Entscheidung der Regulierungsbehörde wird nun von den freiberuflichen Hebammen juristisch angefochten, eine Klage wurde am High Court in London eingereicht. Frauen haben Social-Media-Kampagnen gestartet, zum Beispiel auf Twitter unter dem Hashtag #savethemidwife. Eine Facebook-Gruppe #Save Independent Midwifery hat über 5.300 Mitglieder. Demos sind geplant am 5. Mai zum Internationalen Hebammentag. Eine Petition hat über 31.000 Unterschriften gesammelt. Die zu erwartenden hohen Gerichtskosten sollen durch Crowdfunding finanziert werden. Innerhalb von zwei Wochen erhielt die Kampagne bereits finanzielle Unterstützung in Höhe von 19.000 britischen Pfund (circa 22.000 Euro).

Es geht um weit mehr als eine kleine „unbedeutende” Gruppe von Hebammen, wie die Regulierungsbehörde NMC behauptet, es geht um die freie Wahl des Geburtsortes und um die Bewahrung der Autonomie des Hebammenberufes und der Frauen. Und nicht zuletzt um die Bewahrung von Hebammenwissen für natürliche Geburten bei Beckenendlagen oder Zwillingen und um die Option von Hausgeburten nach Kaiserschnitt. Das Urteil des Hohen Gerichtshofs wird deshalb mit Spannung erwartet.


Hinweis: Die Spenden-Kampagne kann unter www.gofundme.com/Independent-Midwifery-Fighting-Fund unterstützt werden.


Zitiervorlage
von Törne S: Großbritannien: Freie Hebammen für die Wahlfreiheit. DEUTSCHE HEBAMMEN ZEITSCHRIFT 2017. 69 (5): 82–84
Literatur

Birthplace in England Collaborative Group: Perinatal and maternal outcomes by planned place of birth for healthy women with low risk pregnancies: the Birthplace in England national prospective cohort study. BMJ 2011. 343

Hill M: The sad truth about having a baby: ‘cattle’ care is now the norm‘. Guardian 2017. 17. Januar

Homer CSE et al.: Midwifery continuity of carer in an area of high socio-economic disadvantage in London: a retrospective analysis of Albany Midwifery Practice outcomes using routine data (1997–2009). Midwifery 2017

MBRRACE-UK: Perinatal Mortality Surveillance Report UK. Perinatal Deaths for Births from January to December 2014

National Institute for Health and Care Excellence, NICE: Intrapartum care for healthy women and babies 2014

National Maternity Review: Better Births Improving outcomes of maternity services in England 2016

Royal College of Midwives, RCM: The gathering storm: England’s midwifery workforce challenges 2017

Sandall J et al.: Midwife-led continuity models versus other models of care for childbearing women. Cochrane Database of Systematic Reviews 2013

UNICEF: Infant Feeding Survey 2010

https://staudeverlag.de/wp-content/themes/dhz/assets/img/no-photo.png