Wenn eine der beiden Vertebralarterien etwas dünner ist, kann es beim Schlafen in Bauchlage zu Durchblutungsstörungen kommen. Grund ist die bei Säuglingen typische Kopfrotation zu einer Seite und leichte Überstreckung, was das Gefäß der Gegenseite dehnen und dadurch weiter verengen kann. Zeichnung: © Birgit Heimbach
Bis heute gilt die Rückenlage beim Schlafen als sicherste Prävention gegen SIDS. Durch die Umsetzung der Empfehlung „Rückenlage beim Schlafen“ konnte die Zahl der Todesfälle in Deutschland um 70 Prozent gesenkt werden. Zwischen 1991 und 2002 reduzierte sich die Zahl von 1.285 Fällen auf 367 Fälle – von 1,55 auf 0,51 pro 1.000 Lebendgeborene. 2011 lag die Zahl bei 22 von 100.000 Kindern. Es gab insgesamt 147 Todesfälle, davon waren 97 Jungen. Nicht zu vergessen ist aber auch, dass für manche vermeintlichen SIDS-Fälle nun eine klare Ursache gefunden wurde, wie beispielsweise der angeborene Defekt des Enzyms Medium-Chain-Acyl-CoA-Dehydrogenase (MCAD). Er wird heute durch das Neugeborenen-Screening sofort entdeckt und kann mit einer entsprechenden Nahrungszufuhr so behandelt werden, dass er kein tödliches Koma mehr auslöst. Diese Fälle lassen sich also nicht unter der Prävention durch Rückenlage verbuchen.
Der inzwischen 74-jährige Prof. Dr. Klaus-Steffen Saternus war einer der ersten, der die Bauchlage als Risikofaktor identifiziert hat. Auf der 91. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für Rechtsmedizin 2012 in Freiburg rief er noch einmal die geschichtliche Entwicklung in Erinnerung. Der emeritierte Professor aus Göttingen, der bis Ende 2013 20 Jahre lang auch im Institut für Rechtsmedizin in Kassel tätig war, erinnert bis heute immer mal wieder daran, dass Mitte der 1960er Jahre von OrthopädInnen die Bauchlage als Regelschlafposition für Säuglinge in Deutschland etabliert wurde. Auch PädiaterInnen hätten die Vorteile der Lage hervorgehoben. Nur einzelne AutorInnen hätten einen Zwerchfellhochstand durch die Lagerung auf dem vollen Magen und eine damit verbundene Ateminsuffizienz in Erwägung gezogen. Als sich Fälle des Plötzlichen Kindstodes mehrten, untersuchten RechtsmedizinerInnen zunächst ohne Erfolg einen Zusammenhang mit der Schlafposition auf dem Bauch. Saternus, der von 1982 bis 1987 das Phänomen erforschte, gelang dies schließlich. Er konstatiert: „Es ist nicht verwunderlich, dass die erste größere Untersuchung durch uns, bei der der Einfluss der Bauchlage als Belastungsfaktor im Hinblick auf SIDS nachgewiesen und die Arteria-vertebralis-Theorie formuliert worden ist, zu einer lebhaften wissenschaftlichen Kontroverse geführt hat.“ Zunächst wurde seine Theorie sogar abgelehnt.
Der Plötzliche Kindstod ist laut Saternus mechanisch mit dem Effekt der Kopf-Hals-Rotation und Reklination begründet, wobei es eine Flow-Änderung in der Arteria vertebralis gibt. Mittels postmortalen dopplersonografischen Flussmessungen konnte er die A. vertebralis-Theorie erhärten. Anhand von Abbildungen zum Sagittaldurchmesser des Spinalkanals bei der Dorsalflexion konnte Saternus zeigen, dass es bei einem Säugling erhebliche Variationen im Kaliber der A. vertebralis geben kann. Diese Seitigkeit begrenzt die Kompensationsmöglichkeiten. Saternus: „Erfolgt die Rotation zur Seite der kaliberschwächeren A. vertebralis hin, so wird sich der Traktionseffekt in der Atlasschleife der Gegenseite, also der kaliberstärkeren A. vertebralis, als Flow-Minderung auswirken. Über die kaliberschwächere A. vertebralis müsste die Kompensation erfolgen. Damit sind anatomisch Grenzen vorgegeben.“
Dass es zu verschieden kalibrigen Arterien im Körper kommt, ist normal. Die Gefäßbildung im Körper ist laut Prof. Bodo Christ vom Institut für Molekulare Embryologie in Freiburg physiologisch asymmetrisch, wie man sehr gut am Muster der Gefäße auf dem Handrücken erkennen kann. Ganz früh in der Embryonalentwicklung sorgt ein Gen dafür, dass sich die Körperseiten eine Zeit lang unabhängig voneinander entwickeln, so auch die inneren Organe. Man spricht von viszeraler Asymmetrie. Der Primitivknoten sei in der Embryonalentwicklung der Organisator dafür, erläuterte er auf dem 20. internationalen und interdisziplinären Kongress der European Workgroup for Manual Medicine 2012 in Hamburg.
Nachdem die Theorie zunächst bestritten wurde, gab es in der Folge immer mehr Untersuchungen, die dies bestätigten. Aber obwohl auch die Deutsche Gesellschaft für Kinderheilkunde auf das Problem der Bauchlage hinwies, wurde die Vertebralis-Theorie immer wieder in Zweifel gezogen. Einer, der sich weiter mit der These von Saternus befasste, war Prof. Dr. med. Karl-Heinz Deeg, Chefarzt der Sozialstiftung Bamberg Klinik für Kinder und Jugendliche. Er empfahl nun gar eine Reihenuntersuchung, bei der möglichst alle Säuglinge geschallt werden sollten, um rechtzeitig eine Verengung der Vertebralis zu erkennen (siehe DHZ 2/2010, Seite 10ff.). Es gab einige zweifelnde Stimmen, die das Studiendesign und die daraus gewonnenen Konsequenzen kritisierten, darunter Prof. Dr. Mechtild Vennemann, Epidemiologin aus Münster, und Dr. Jan P. Sperhake vom Institut für Rechtsmedizin im Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf.
Saternus meint dazu heute: „Auch wenn die Bauchlage jetzt als Belastungsfaktor im Hinblick auf den Plötzlichen Kindstod weniger kontrovers diskutiert wird, so akzeptieren immer noch nicht alle das zugrundeliegende Wirkprinzip. Der Mechanismus wird auch heute noch im Schrifttum kontrovers gesehen.“ Oft könne die Minderdurchblutung kompensiert werden, betont er, aber nicht wenn noch andere Belastungsfaktoren wie eine Erkältung dazukämen. Auf dem Kongress der European Workgroup for Manual Medicine 2012 in Hamburg wies Saternus ein letztes Mal vor größerem Publikum kurz auf seine Verdienste hin.
In Hamburg referierte auch Sperhake, der eng mit dem Hamburger Bündnis gegen Plötzlichen Säuglingstod zusammenarbeitet. Er sagte, obwohl es durch die Einhaltung der Rückenlage inzwischen viel weniger SIDS-Fälle gebe, gebe es doch immer noch regelmäßig Fälle in der Rechtsmedizin. Er betonte, SIDS sei ein Phänomen des schlafenden Kindes. Wenn ein Kind angeblich aus dem Wachzustand bewusstlos geworden wäre, sei dies immer ein Warnsignal zum Beispiel für eine Gewalteinwirkung von außen.
Er benennt als Gründe, warum die Bauchlage so gefährlich ist:
Sperhake, der zunächst zu den Zweiflern an der Vertebral-Arterien-Theorie gehörte, führte diese nun erstmalig als ein Risiko für SIDS auf. Er betonte, dass alle Gründe ernst zu nehmen seien. SIDS sei ein multifaktorielles Geschehen. Der Rechtsmediziner aus Hamburg meinte: „Trauen Sie keinem Theorieverfechter.“ Er warnte vor einer schlechten Schlafumgebung, wie etwa zu vielen Kissen oder zu weicher Matratze. Kurz ging er auf das Schlafen im Bett der Eltern als Risiko ein. Er erwähnte, dass es nicht wahr sei, dass noch kein Kind im elterlichen Bett verstorben sei.
Rund um einen Plötzlichen Säuglingstod gibt es polizeiliche Ermittlungen, deren Ergebnisse der Staatsanwaltschaft zugeleitet werden. Diese entscheidet, ob eine Obduktion in einem Rechtsmedizinischen Institut durchgeführt werden soll oder nicht. Wird keine Obduktion angeordnet, muss mit den Eltern darüber gesprochen werden, dass sie die Möglichkeit haben, in einem Rechtsmedizinischen oder Pathologischen Institut von sich aus eine Obduktion in Auftrag zu geben. Für die Diagnostik zum Plötzlichen Säuglingstod ist laut Saternus die neuro-pathologische Erklärung unabdingbar. Nur eine Obduktion könne die wirkliche Todesursache der Babys klären. Mit dem Wissen könne man Eltern emotional entlasten, die sich ansonsten ihr Leben lang Vorwürfe machten.
Das Forschen an Babyorganen sei eine „ethische Gratwanderung“. Dazu müsse vorab immer die Genehmigung einer Ethikkommission eingeholt werden. Auch die Eltern müssten zustimmen.
Seit den frühen 1990er Jahren werden verschiedene Maßnahmen empfohlen, um das Risiko des Plötzlichen Kindstodes (Sudden Infant Death Syndrome/SIDS) zu senken:
Forschungen zum Plötzlichen Kindstod gibt es nahezu weltweit. Manches kann als Ursache eindeutig ausgeschlossen werden, wie etwa eine kausale Verbindung mit einer Myokarditis.
Prof. Dr. Thomas Bajanowski vom Institut für Rechtsmedizin des Universitätsklinikums Essen befasst sich damit, ob das mitochondriale Monoamine Oxidase A (MAO-A) und Plötzlicher Kindstod zusammenhängen. MAO-A ist sehr wichtig für den Stoffwechsel und die Regulation verschiedener Neurotransmitter, darunter Noradrenalin und Serotonin. Ist dies gestört, könnten lebenswichtige Mechanismen beeinträchtigt sein, wie die Steuerung der autonomen Atmung und das spontane Wiedereinsetzen der Atmung nach Atemstillstand.
Einer, der sich ebenso intensiv mit dem Phänomen des SIDS befasst, ist der Hirnforscher Dr. Henner Koch aus Tübingen. Er absolvierte einst ein Praktikum bei Saternus, was ihn das erste Mal mit dem Thema konfrontierte. Sein Vater, der Manualmediziner Dr. Lutz Erik Koch, motivierte ihn, eines dieser „letzten Mysterien zu lösen“, wie er auf dem Kongress für EWMM im September 2012 berichtete. Seine Frage war: Warum sterben Kinder trotz Rückenlage? Ist dies kardiovaskulär bedingt? Respiratorisch? Oder ist die Funktion der Arousals gestört, die den Grad der Aktivierung des anzeigen? Henner Koch konzentrierte sich auf sie und eine mögliche Atemregulationsstörung. Er betrachtete den sogenannten Pre-Bötzinger Komplex in der Medulla oblongata, also im verlängerten Rückenmark, das zum Hirnstamm gehört, der den Atem reguliert. Koch untersuchte Hirnschnitte und entwickelte die nachfolgende Theorie: SIDS-Kinder haben vermutlich weniger Seufzer (Sighs), die bei jedem Säugling normalerweise rhythmisch auftreten.
Kochs Theorie ist, dass es während des Schlafs aufgrund der Fehlfunktion der Seufzer vermutlich weniger dieser inneren Weckreaktionen gibt. Normalerweise führen kurze mögliche Hypoxien bei Säuglingen zu den Arousals. Das geschieht dadurch, dass Chemorezeptoren den geringen Sauerstoffgehalt des Blutes, die Hypoxämie und den gleichzeitig erhöhten Kohlenstoffdioxidgehalt, die Hyperkapnie erkennen. Die Weckreaktion führt dann nicht zu vollem Bewusstsein, bewirkt aber die Wiederaufnahme der Ventilation und so die Normalisierung der Blutgase. Im EEG sind dann plötzliche Frequenzänderungen über mehrere Sekunden zu erkennen. Es kommt vorübergehend zur Aktivierung des Organismus, gesteigerter Aktivität des autonomen Nervensystems, stärkerem Muskeltonus und einer Absenkung der Reizschwelle. Koch meint, dass fehlenden Arousals eine Störung im Serotonin- und Noradrenalin-Haushalt zugrunde liegen könnten.
Andere Forscher untersuchen, ob bei SIDS-Kindern eine Mutante im Pre-Bötzinger Komplex oder andere Störungen im Serotonin-Haushalt vorliegen. Eine Studie an Mäusen lässt vermuten, dass der Plötzliche Kindstod genetische Ursachen haben könnte, etwa Mutationen einer Erbanlage namens Atoh1. Das Gen ist offenbar an der Regulation des Atemreflexes beteiligt, dem eine Schlüsselrolle zugeschrieben wird. Vermutlich lassen sich die Ergebnisse aus den Untersuchungen am Mausmodell auf den Menschen übertragen, sagen die Forscher um Wei-Hsiang Huang vom Baylor College of Medicine in Houston.
Laut Sperhake könne man Modelle an Mäusen nicht eins zu eins auf den Menschen übertragen. Der Rechtsmediziner meint, dass Veränderungen im Hirnstamm nicht die Ursache seien, und zitierte eine Studie aus Boston von 2008. Auf der 91. Jahrestagung der Rechtsmedizin 2012 wurde jedoch auch eine Studie rund um MikroRNAs vorgestellt, die die Proteinbiosynthese regulieren. Grundlage war das Wissen, dass eine dysregulierte MikroRNAs-Expression bei Menschen mit Herzerkrankungen und pathologischen Veränderungen im Hirnstamm in Verbindung gebracht werden. In der Studie wurde festgestellt: Im Herzmuskel und im Hirnstamm besteht bei SIDS-Fällen eine Überexpression von MikroRNAs. Hier wird weiter geforscht.
Deeg, K. H., Bettendorf, U. et al.: Ist der plötzliche Kindstod Folge einer lageabhängigen Minderperfusion des Hirnstamms? Ergebnisse einer dopplersonografischen Studie an 23 SIDS-gefährdeten Kindern. Monatsschrift Kinderheilkunde. 146: 597–602 (1998)
Deeg, K.-H.: Ein Screening gegen den plötzlichen Kindstod. Deutsche Hebammen Zeitschrift. 2: 10–13 (2010)
Franco, P.: The influence of a pacifier on infants‘ arousals from sleep, Journal of Pediatrics. 136: 775–9 (2000)
Hanzer, M.; Zotter, H.; Sauseng, W.; Urlesberger, B.; Pichler, G.; Müller, W.; Kerbl, R: Schnullerverwendung und plötzlicher Säuglingstod: Arousals als mögliche Ursache? Monatsschrift Kinderheilkunde. 157(2):171-171.-47 (2009)
Risse, M.: Bedeutung und Wertigkeit morphologischer Befunde an Halsorganen unter forensisch-differentialdiagnostischen Aspekten – Eine rechtsmedizinische Studie zur Problematik des Plötzlichen Kindstodes (SIDS). Tectum Verlag (2001)