Über 90 Prozent des Informationsaustausches in jeder direkten Begegnung wird nonverbal vermittelt: durch Haltung, Gestik, Foto: © Michael Plümer
Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett verlaufen bei allen Menschen nach den gleichen physiologischen Prinzipien. Unter biologischen Gesichtspunkten unterscheiden sich weder die körperlichen noch die psychologischen Veränderungen in dieser Lebensphase.
Die Unterschiede und Besonderheiten bei den Frauen, die aus anderen Kulturen einreisen, sind natürlich wichtig. Aber sie spielen bei einer empathisch-menschlichen Begegnung nur eine relativ kleine Rolle gegenüber den Signalen gesundheits- und krankheitsbedingter Symptome, die bei allen Frauen in sehr ähnlicher Weise auftreten können.
Körperlich messbare Krankheitserscheinungen und selbst Infektionen spielen im Alltag der Versorgung dieser Frauen eine wesentlich geringere Rolle als psychologische Parameter. Und wenn Krankheiten auftreten, sind sie so gut beherrschbar wie bei anderen Patientinnen. Herausfordernd ist dagegen zum Beispiel die Einschätzung von Notsituationen, wenn bei einer großen Dramatik der Darstellung von Beschwerden die zugrundeliegenden Ursachen nicht sofort erkennbar sind. Oder wenn bei Symptomen, bei denen Körper und Psyche gleichermaßen betroffen sein können, die Zusammenhänge völlig unüberschaubar bleiben, etwa bei Hyperemesis, vorzeitigen Wehen oder Zervixdystokie. Oder wenn über Sexualität geredet werden müsste, wie unter anderem vor Korrektureingriffen nach genitaler Beschneidung (Female Genital Cutting, FGC) beziehungsweise Verstümmelung (Female Genitale Mutilation/FGM), dies aber mit einem männlichen Übersetzer nicht möglich ist. Oder wenn etwas sehr deutlich gefordert wird, was nicht erfüllt werden kann oder was den eigenen Vorstellungen und Wünschen widerspricht: Ein Mann verlangt zum Beispiel bei einem Routine-Ultraschall eine Aussage zum Geschlecht des Kindes, die ich aus gutem Grund nicht treffen will. Oder: Die Frau (oder Schwiegermutter) verlangt sehr insistierend bestimmte Leistungen oder Verhaltensweisen, die die Hebamme nicht erbringen will oder kann. In solchen Fällen ist Konfliktkommunikation nötig. Oder wenn die Stimmungslage zu kippen droht, weil die Kommunikation nicht gelingt und die Missverständnisse zunehmen.
Drei Fallbeispiele beleuchten die Kommunikationsprobleme mit geflüchteten Frauen:
Eine laut schreiende und sich windende Frau wird von Sanitätern aus einer Flüchtlingsunterkunft in die Klinik eingeliefert. Sie steht offenbar unter der Geburt. Schriftliche Befunde von Voruntersuchungen fehlen. Eine Untersuchung gelingt nicht, weil sie dagegen ankämpft. Die fetale Herzfrequenz scheint schlecht zu sein. Der Muttermund ist nicht vollständig eröffnet. Offenbar besteht ein Zustand nach Sectio. Im Lager seien zwei Kinder von ihr zurückgeblieben. Eine Anamnese oder Aufklärung ist ohne DolmetscherIn nicht möglich. Der Ehemann steht scheinbar unbeteiligt dabei und sagt nichts. Das gesamte Team bemüht sich um eine vernünftige Kooperation und scheitert.
Schließlich kommt es aus kindlicher Indikation zur Sectio in Intubation. Die Kooperation mit der Frau ist auch im OP sehr schwierig. Eine Spinalanästhesie ist nicht möglich. Nach Abklingen der Intubationsnarkose nimmt die Mutter ihr Kind nicht zum Bonding an. Sie atmet immer wieder periodisch sehr schnell. Acht Stunden nach der OP kommt es bei ihr in einer Hyperventilation zu einer Erstickungsattacke. Sie wird als Panikstörung erkannt und die Frau kann allein durch liebevolle Betreuung (ohne Medikamente) rasch beruhigt werden.
Was das Team nicht wusste, die Frau mir aber später bei einem privaten Besuch im Lager mit einem Übersetzer erzählte: Sie ist hoch gebildet und lebte ruhig und gut etabliert, bis ihr geliebter Ehemann vor ihren Augen erschossen wurde. Daraufhin floh sie völlig planlos mit ihren Kindern und erlebte auf der Flucht heftige körperliche und psychische Gewalt. Der Mann, mit dem sie es dann hierher geschafft hatte, war der Vater ihres Neugeborenen, dem sie dankbar war, weil er sie nicht schlug. Sein Kind wollte sie aber nicht. Was bei der Geburt geschah, empfand sie später als „neben sich stehend”, als eine unkontrollierbare Verzweiflungsattacke, in der alle und insbesondere genitale Gewalterfahrungen, die sie erlebt hatte, über sie einstürzten und sie handlungsunfähig machten. Um das Neugeborene kümmert sie sich so liebevoll wie um ihre anderen Kinder. Es wird nicht gestillt.
Eine junge, sehr schlanke frühschwangere Frau aus Ostafrika wird vom Notarzt wegen starkem Erbrechen und Oberbauchbeschwerden eingeliefert. Unter Infusionstherapie erholt sie sich rasch. Sie bleibt sehr zurückgezogen, spricht keine andere als ihre lokale Sprache und kommuniziert auch mit den männlichen Dolmetschern nicht viel. Nach FGM ist ihre Urethra von einer Narbenspange bedeckt, die Vaginalöffnung ist etwa einen bis zwei Zentimeter groß. Der Ehepartner bemüht sich nicht um die Kommunikation mit dem Team und scheint auch mit ihr nicht viel zu besprechen zu haben. Die Patientin wird langsam belastet (zunehmend normales Essen, kleine Spaziergänge), kann aber nicht entlassen werden, weil sie immer wieder kurz vor der Fahrt ins Flüchtlingsheim einen Rückfall erleidet.
Als sie dann doch entlassen werden muss, wird sie am gleichen Abend von den Rettungskräften wieder mit heftiger Hyperemesis zurückgebracht. Diese Drehtür-Ereignisse wiederholen sich noch zweimal. Sie scheint sich jedes Mal in der stationären Umgebung wohl zu fühlen, öffnet sich aber nicht. Sie ist freundlich, still und zurückhaltend. Die offensichtlichen psychosomatischen Zusammenhänge bleiben während des ganzen Prozesses völlig unklar. Sie vermittelt nur, dass sie schon vor der Flucht immer „Magenprobleme” gehabt habe. Die FGM sei mit 13 Jahren von der Großmutter durchgeführt worden. Nach der endgültigen Entlassung kommt sie im letzten Drittel der Schwangerschaft in Begleitung ihres Mannes und weiterhin sehr dünn, zur Korrektur des Scheidenausganges. Das Kind wird spontan geboren und gestillt. Und auch dann erzählt sie nichts von sich und ihrer Geschichte. Ihr weiteres Schicksal ist nicht bekannt.
Eine schwangere Frau aus Somalia wird wegen vorzeitiger Wehen stationär aufgenommen und erhält eine Lungenreifungsprophylaxe. Es ist die vierte Schwangerschaft. Ihren jetzigen Mann, der ebenfalls aus Somalia stammt, hat sie hier kennengelernt. Er spricht nach drei Jahren sehr gut Deutsch und hat einen Job. Sie spricht nur ihre Heimatsprache und Arabisch. Ihre ersten drei Kinder wurden vaginal geboren trotz FGM im Mädchenalter. Die Kommunikation über den Ehemann als Dolmetscher ist sehr gut möglich. Sie fühlt sich stationär wohl und ist bald beschwerdefrei, so dass ihre Entlassung geplant wird. Sie freut sich auf ihre Kinder. Die Abholung durch den Ehemann verzögert sich aber, so dass sie mittags immer noch im Krankenhaus ist. Völlig unerwartet kommt sie plötzlich in den Kreißsaal. Sehr aufgeregt und offenbar unter Angst, was sonst nicht der Fall war. Sie will eine Kontrolle des Kindes und zeigt durch Gesten, dass sie sich plötzlich große Sorgen macht. Die fetale Herzfrequenz ist tatsächlich hochpathologisch, ohne Wehen und ganz anders als bei den Kontrollen zuvor, so dass schließlich eine Notsectio erforderlich wird. Ursache war vermutlich eine Insuffizienz der sehr kleinen Plazenta. Nach der Sectio erzählt sie über ihren Ehemann, sie habe plötzlich das Gefühl gehabt, ihr Kind werde sterben und sei jetzt so froh, dass es lebe. Bei dem abschließenden Entlassungsgespräch (ebenfalls mit Ehemann) wird die Möglichkeit einer Korrektur ihrer Vernarbungen im Bereich der Klitoris besprochen. Sie will das aber nicht. Ihr Mann und sie sind sich jedoch einig, dass sie ihren drei älteren Mädchen und auch dem Baby eine Verstümmelung des Genitale ersparen wollen. Der Ehemann betont, er werde seine Mädchen schützen, wenn ältere Frauen aus der Verwandtschaft so etwas vorhaben könnten.
Wie ist Kommunikation in diesen Situationen effektiv möglich?
In jedem Fall menschlicher Begegnung kann effektiv kommuniziert werden, selbst wenn eine sprachliche Verständigung ausgeschlossen scheint. Denn weit über 90 Prozent des Informationsaustausches jeder direkten Kommunikation wird nonverbal vermittelt: unter anderem durch Körperhaltung, Gestik, Mimik, kommunizierende Hände, Berührung und schließlich auch die Melodie, den Rhythmus und den Tonfall der Sprache (Eibl-Eibesfeld 1976)
Voraussetzung ist bei jeder Kommunikation, zunächst Stressreaktionen zu lösen und die Angst zu beruhigen. Alle Patientinnen sehnen sich danach, geborgen zu sein und vertrauen zu dürfen, bestärkt durch eine empathische Beziehung. Diese Sehnsucht können die Frauen aller Kulturen ohne Sprachkenntnisse klar, deutlich und unmissverständlich ausdrücken. Sie können auch signalisieren, dass sie sich in einer Beziehung angenommen und gut aufgehoben fühlen.
Menschen kommunizieren anders als Radio-Anlagen von Sendern und Empfängern. Alle Nervenzellen der beteiligten Gehirne sind immer gleichzeitig aktiv. Es gibt keinen Gehirnteil, der etwas alleine tun könnte (Buzsáki 2006). Die Nerventätigkeit ist wiederum Teil eines Bewegungssystems, das heißt der menschliche Geist ist verkörpert (Tschacher 2015). Deshalb wird das, was in einer anderen Person vorgeht, gespiegelt und kann so unmittelbar verstanden werden (Storch 2010).
Um möglichst viel durch Mimik, Gestik, Körperhaltung und Sprachmelodie vom anderen zu erfahren, ist es nötig, wach, aufmerksam, unvoreingenommen, wohlwollend und empathisch zu beobachten. Macht die Person den Eindruck von Ohnmacht, Erschöpfung oder gar Zusammenbruch, nützen weder Sachinformationen noch Appelle oder gute Ratschläge. Stattdessen ist es vorrangig, Grundbedürfnisse zu erfüllen und insbesondere Sicherheit zu bieten! Es muss Vertrauen entstehen, dass die Situation gut wird (Porges 2014).
Um ein Sicherheitsgefühl zu vermitteln, ist neben Mimik, Köperhaltung und Berührung auch die Melodie der Stimme wichtig, also die Intonation menschlicher Sprache, ohne jede Wortbedeutung (Borg 1989).
Auch bei Stress im Sinne einer Stammhirnreaktion, die den Körper im Notfall auf Aggressions- oder Fluchtverhalten einstellt, ist es weiterhin das Wichtigste, für Sicherheit und Ruhe zu sorgen – indem vermittelt wird, dass jetzt keine Gefahr besteht (Jäger 2014). Dazu muss vor allem die eigene Stressreaktion beruhigt sein. Stress-Hass-Aggressionsreaktionen des Gegenübers können so angenommen werden, wie sie sind. Doch es kann Interesse signalisiert werden, verstehen zu wollen, warum sie so sind. Welche Bedürfnisse sind so wichtig und wurden gefährdet? Ist es möglich, durch Gesten zu sprechen? Kann etwas erzählt werden? Kann sich der Tunnelblick etwas weiten? Können Gefühle wachgerufen werden? Auf Stress mit Stress zu antworten, erzeugt noch mehr Stress. Auch widersprechen, gegenangehen oder mit Logik, Rationalität und Fakten argumentieren, wenn das Gegenüber im Stress ist, ist nicht sinnvoll. Erst muss sich die Stressreaktion lösen können (Porges 2014; Porges 2006). Ist das Gegenüber aber in der Lage, Gefühle zu empfinden und zu zeigen, ist die unmittelbare Stressreaktion etwas gedämpft. Gefühle signalisieren die Sehnsucht und die Fähigkeit, mit anderen zu kommunizieren (Damásio 2011; Goleman 1996; Humphrey 2006).
Angst ist ein besonders wichtiges Gefühl, weil sie vermittelt, dass Informationen wie etwa Schmerzsignale dazu zwingen, eine Handlung zu unterbrechen. Hier gilt es zu prüfen, wie die verlorene Sicherheit wiedergewonnen werden kann. Angst kann in Stress „abstürzen”, wenn keine vertraute und beruhigende Kommunikation möglich ist. Sie kann aber in der Begegnung mit anderen auch umgewandelt werden in Ärger, Trauer, Überraschung oder Freude. Angst ist also im Rahmen einer gelungenen Beziehung wandelbar. GesprächspartnerInnen können und sollten zunächst zeigen, dass sie das Gefühl Angst verstanden haben und dass alles getan wird, um angstauslösende Sicherheitsrisiken zu senken. Damit kann Vertrauen entstehen, dass sich die Situation gut entwickeln wird, selbst bei Belastung oder auch Schmerz unter der Geburt. Das verständnisvolle Zuhören in einer warmherzigen Situation vermindert ein Rückfallrisiko in die Stressreaktion des Stammhirns.
Die Betreuenden können auch versuchen, andere Gefühle wachzurufen, die zu aktiveren Verhaltensweisen passen: Wut, Ärger, Verzweiflung, Ekel, Trauer, Neugier oder auch Freude. Zum Beispiel kann eine schwangere Frau, die gerade Gewalt erfahren hat und jetzt ins Krankenhaus gebracht wird, aus guten Gründen Angst empfinden, weil sie fürchtet, dass ihr Kind Schaden gelitten haben könnte, dass sie im Medizinsystem erneut traumatisiert werden könnte (siehe Beispiel 1) oder dass sie gezwungen wird, Dinge von sich oder ihren Nächsten preiszugeben, die sie nicht offenbaren will. Diese Angst können Hebammen oder ÄrztInnen nonverbal lösen, indem sie das Gefühl „Angst” durch Mimik und Körperhaltung verstehen und spiegeln. Damit besteht eine Kommunikationsbasis, aus der sich dann in der Beziehung ein anderes Gefühl entwickeln kann: Wut auf den Angreifer, der sie geschlagen hat, oder Überraschung, dass sich jemand so nett und liebevoll ihrer annimmt und sie schützen will. Und auch die neu entstandenen Gefühle können in der Kommunikation gespiegelt und begleitet werden.
In einem Zustand der Angst ist ein Zuviel an einflutender Information gefährlich. Denn äußere Signale, Worte, Text oder innere Empfindungen (Schmerz), die nicht sinnvoll in einen persönlichen Zusammenhang eingeordnet werden können, verstärken das Angstgefühl und erhöhen damit das Risiko, dass eine Notfallreaktion ausgelöst wird: Stress, Panik oder gar Ohnmacht.
Denn wenn diese nicht in einem direkten Bezug sicher mit der persönlichen Situation verbunden werden können oder für die Angesprochene keinen Sinn ergeben, verstärken sie den Stress. Wichtiger ist es, die Angst zu verstehen und anzunehmen. Zuhören, erzählen lassen, nachfragen. Fragen, ob das Gehörte auch richtig verstanden wurde. Gefühle abebben lassen, bis Ruhe entsteht. Erst dann ist es ohne Turbulenzen im Stammhirn (Stress) und im Mittelhirn (Angst) sinnvoll, die Möglichkeiten und Ressourcen zu betrachten, die sich bieten, und mitzuhelfen, die Zahl der Möglichkeiten zu vermehren (McGilchrist 2010, 2012). Es ist möglich, schlagartig (!) das innere Notfallprogramm zu beruhigen, in welcher Situation auch immer. Das ist auch sonst im Kreißsaalalltag extrem wichtig, beispielsweise bei dramatischen Ereignissen wie einer Schulterdystokie oder einer vaginaloperativen Entbindung: Wenn alle laut und hektisch werden, braucht es eine Person, die sofort und zunächst beruhigt – erst dann geht es weiter. Das sollte man üben. Ist das gelungen, zeigen sich Gefühle wie Angst. Darüber kann und muss gesprochen werden – dafür ist immer noch Zeit, auch bei vaginaloperativen Entbindungen. Die Frau muss erst aus dem Stress heraus und wird dann auch noch ihre Angst verlieren, weil sie weiß, dass sie einem ruhigen kompetenten Team vertrauen kann und es gut wird. In der Kommunikation zwischen Hebammen und geflüchteten Frauen ist dies ein wichtiger Punkt. Das Großhirn kann, wenn das Stammhirn vernünftig arbeitet und die Emotionen im Mittelhirn nicht zu hohe Wellen schlagen, die Welt sehr unterschiedlich wahrnehmen. Weit, indem es alles wahrnimmt und schlagartig verarbeitet, über Milliarden von Informationen in Sekunden entscheidet wie in einer Parallelrechnerfunktion. Oder eng, wie in einem Tunnel, wobei nur Einzelheiten als tote voneinander getrennte Anteile eins nach dem anderen erfassbar werden, vergleichbar mit einem langsamen Analog-Rechner. Das bedeutet für eine Hebamme in einer Beratungssituation: Wenn die Frau sehr sorgenvoll Tunnel-fixiert ist, kann sie den Blick auf die Gesamtsituation lenken: „Ist Ihr Kind eigentlich munter und wie bewegt es sich?”
Menschen unterscheiden sich erstaunlich wenig voneinander. Sie verfügen über eine nahezu gleiche genetische Information. Auch die Art der epigenetischen Prägung, etwa durch Belastungen in der Schwangerschaft, ist weltweit gleich. Die Entwicklung des autonomen Nerven- und des Immunsystems in den ersten Lebenstagen wird in allen Kulturen durch Bonding und Stillen stark und nachhaltig geprägt, oder sie kann in ganz ähnlicher Weise vernachlässigt oder gestört werden (Jäger 2013).
Kulturelle und soziale Einflüsse wirken allerdings in der letzten Phase der Schwangerschaft: zum Beispiel durch die Art der beglückenden Situationen oder der Belastungen, denen die Mutter ausgesetzt ist. Negative Erfahrungen wie Trauma oder Dauerstress prägen epigenetisch besonders. Beispielsweise wirken sie auf den Cortisolstoffwechsel und als Folge entsteht ein erhöhtes Adipositasrisiko.
Kulturelle Einflüsse entstehen natürlich auch durch das, was das Kind durch seine Sinne intrauterin wahrnehmen kann: Aromastoffe aus der mütterlichen Nahrung, Geräusche, Musik, Rhythmus, Sprachmelodien und vieles mehr. Kultur und soziales Umfeld wirken auch unmittelbar nach der Geburt durch die Art, wie mit dem Kind umgegangen wird. Gemeinsam und entscheidend ist jedoch für das Gedeihen der grundlegenden Körperfunktionen von Stammhirn, Immunsystem und Darm, ob das Kind bedingungslose Liebe in einer stabilen Beziehung erfährt, unabhängig davon, wie diese nun kulturell ausgestaltet ist (Porges 2014).
Kleinkinder unterscheiden sich kulturell noch sehr wenig und haben daher keinerlei Probleme, in ihren Kinderkrippen körperlich oder brabbelnd miteinander zu kommunizieren. Was uns später bei Erwachsen als kulturell so verschieden erscheint, wie Sitten, Mode oder Moral, wird Kindern erst ab dem Alter von drei bis vier Jahren beigebracht. Die kulturelle Identität ist deshalb relativ schwach gegenüber den grundlegenden Körperfunktionen, die bei Menschen gleich sind, obwohl sie bei der Konfrontation mit dem Fremden sofort ins Auge springt und deshalb Angst auslösen kann.
Interkulturelle Begegnungen können verunsichern, weil die Handlungsweise anderer nicht mehr klar berechenbar erscheint, und weil eigene Grundwerte denen der anderen widersprechen. Um die bedrohte Sicherheit wiederzuerlangen, bieten sich mehrere Strategien an.
Fremd ist etwas, was ich (noch) nicht kenne und was daher je nach meiner Wahrnehmung Stress (Stammhirn) oder Gefühle (Mittelhirn) oder rationale Informationsverarbeitung (Großhirn) auslösen kann. Damit Fremdheit nicht zu Angriffs- oder Fluchtverhalten führt, muss Sicherheit entstehen. Dann können Gefühl wie Angst (bei sich oder anderen) wahrgenommen und beruhigt werden. Ist auch das gelungen, entwickeln sich vielleicht Gefühle wie Neugier, Interesse, Freude und die Lust etwas zu entdecken.
Die folgenden Möglichkeiten von Verhaltensweisen sind täglich im Austausch mit Patientinnen auf beiden Seiten zu beobachten:
Widerstand: Etwas Fremdes ablehnen, bei niedrigem Selbstwertgefühl oder wenn das Fremde sehr bedrohlich erscheint. Sich gegen das Fremde wehren, es bekämpfen oder von ihm zumindest isolieren oder sich einigeln.
Distanz wahren: Etwas Fremdes äußerlich freundlich betrachten, aber innerlich abwehren, um sich zu schützen. Nur das Nötigste tun, ohne wirkliches Interesse an dem Fremden. Den inneren Schutzwall verstärken. Formal korrekt handeln, um Konflikte zu vermeiden.
Objektbezug: Etwas Fremdes als Objekt des eigenen Handelns zu verstehen versuchen. Verbale und nonverbale Sprache in den Grundzügen verstehen lernen und sich um effektive Kommunikation bemühen. Das Fremde als etwas gleichberechtigt Anderes akzeptieren und wertschätzen. Sich dafür interessieren, wie sich das andere „von mir” unterscheidet, um „das da draußen” besser zu verstehen.
Beziehung: Etwas Fremdes in sich wahrnehmen. Die eigenen Persönlichkeitsanteile und Verhaltensweisen in sich erkennen, die in anderen Kulturen nur stärker betont werden und die sich auch entwickelt hätten, wenn man in der anderen Kultur aufgewachsen wäre. Das Fremde ist also nur eine Möglichkeit, wie man auch sein könnte. Damit entsteht eine Beziehung von Subjekt zu Subjekt. Und es ist möglich, in einem gegenseitigen Austausch zu lernen. Eine persönliche Beziehung zu etwas Fremdem macht es dann vertraut, es wird als wichtiger Aspekt des eigenen Seins angenommen, oder „gezähmt” wie es der Fuchs in „Der kleine Prinz” von Antoine de Saint-Exupéry ausdrückt.
Angst, Abwehr oder Flucht angesichts von Fremdheit sind natürliche Reaktionen. Kleinkinder beginnen zwischen dem vierten und achten Lebensmonat zu „fremdeln”. Sie erkennen dann in anderen Menschen Gefahrenquellen und wehren sie ab.
Die Mittelhirnfunktionen als Basis der Gefühle entwickeln sich erst langsam in der Mutter-Kind-Beziehung. Sie müssen erlernt werden. Dazu werden Nervenfunktionen unter Oxytocineinfluss gebahnt und langsam myelinisiert. Bis das Kind Gefühle empfinden und zeigen kann, dauert es noch ein paar Monate des Ausreifens dieser Funktionen (Damásio 2011; Jäger 2014; Porges 2014).
Angst kann schlagartig in Aggression, Flucht oder Lähmung umschlagen. Oder sie kann in ein anderes Gefühl verwandelt werden, wie Neugier, worauf dann Überraschung und Freude folgen. Oder auch in Ärger, Wut oder Trauer. Alle diese Gefühle sind gut und wichtig, denn sie dienen dazu, anderen mitzuteilen, wie es gerade um die eigene Bedürfnislage bestellt ist.
Wie intensiv eine Bedrohung zu Angst oder gar Stress führt, hängt davon ab, wie sie vor dem Hintergrund der bisherigen Lebenserfahrungen persönlich wahrgenommen und interpretiert wird. Angst kann wie alle Gefühle nicht nur wahrgenommen, sondern auch gezeigt und kommuniziert werden. Damit steigen die Chancen, dass sie nicht in primitive Stressverhaltensmuster abgleitet oder zu lähmender Starrheit führt.
Die wesentliche Voraussetzung für einen fruchtbaren Umgang mit Angst ist es, sie wahrzunehmen: Bei sich selbst oder bei anderen. Und sie dann wohlwollend zu betrachten. Denn für Angst gibt es immer gute Gründe. Sie weist auf etwas Wichtiges hin, das ohne das Gefühl nicht erkannt worden wäre. Häufig auf ein noch unsicheres Selbst, auf eine erhebliche Herausforderung oder Belastung. Ob Angst in Stress umschlägt oder zu Neugier führt, hängt davon ab, wie berechenbar die Handlungen des Fremden erscheinen, wie stark das Selbstbewusstsein entwickelt ist, mit Überraschungen klar zu kommen, und schließlich, ob das, was hier geschieht, für den persönlichen Zusammenhang einen Sinn ergibt. Dass es also nötig erscheint, Unsicherheiten und Herausforderungen anzunehmen (Dörner 2001).
Es ist normal, angesichts interkultureller Begegnungen ein „Fremdeln” zu empfinden. Solche Gefühle zu verdrängen, verhindert, dass sie beruhigt werden können. Denn wenn „die Nerven ohnehin schon blank liegen”, kippt auch bei den Erwachsenen eine Unsicherheit schnell in einfaches Stressverhalten um. Wenn Kulturen aufeinanderprallen, gerät vieles ins Wanken. Viele Flüchtlinge sind traumatisiert. Deshalb sind sie geflohen und nehmen hohe Risiken kultureller und sozialer Unsicherheit in Kauf.
Fachleute, die Flüchtlinge gesundheitlich betreuen, müssen damit rechnen, dass die Patientinnen gestresst sind oder Angst empfinden, auch wenn sie es nicht sprachlich ausdrücken können.
Sicherheit ist ein Grundbedürfnis, fast so wichtig wie atmen, essen und trinken (Porges 2014). Es wird unbewusst durch alle Sinneskanäle wahrgenommen: durch den Abgleich der einfließenden Signale aus Mustern von Körperhaltung, Gestik, Bewegungen, Sprachmelodien, Umweltgeräuschen und mehr. Treten dabei Unstimmigkeiten auf, fühlen sich Menschen unwohl. Blutdruck und Blutzuckerspiegel steigen, lange bevor sie bewusst wissen, warum das so ist.
Hebammen und ÄrztInnen brauchen deshalb im Umgang mit Migrantinnen „emotionale Intelligenz”. Denn je nachdem, in welchem inneren Zustand Patientinnen sich befinden, müssen sie sie stützen (wenn etwas zusammenbricht), fordern (wenn ein Ziel erreicht werden kann), konfrontieren (um die Situation so anzunehmen, wie sie ist) oder fördern (damit etwas Neues wachsen kann).
Viele Frauen fliehen vor Gewalt. Möglicherweise wurden sie missbraucht oder haben Vergewaltigung erlebt, vielleicht mit starken körperlichen Verletzungen. Oder sie lebten oder leben in einer Zwangspartnerschaft. Es ist deshalb möglich, dass sie eine Schwangerschaft oder Geburt nicht gewollt haben. All das wird vermutlich in der Begegnung mit fremden Personen im Gesundheitswesen nicht kommuniziert. Die betroffenen Frauen bemühen sich dann häufig, nicht daran zu denken und nicht darüber zu reden. Sie versuchen, einen Schutzpanzer der „Normalität” auszubauen. Oft suchen sie auch als Opfer die Schuld bei sich, leiden unter Ohnmachtsgefühlen oder Angst-Panik-Störungen, die sich häufig körperlich auswirken.
Es ist wichtig anzunehmen, dass Gewalt-Erfahrungen mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zutreffen. Dann ist es nicht nötig, herauszufinden, was tatsächlich war. Denn die Frauen vermitteln sehr klar, dass sie sich in Stress oder in Angst befinden, egal aus welchen Gründen. Daraus können sich tiefgreifende Störungen der Stammhirnfunktion entwickeln (Autonomes Nervensystem und Immunfunktion) oder des Bewegungsapparates (Verkrampfung) oder Erkrankungen wie Hyperemesis, vorzeitige Wehen, Zervixdystokie oder Wochenbettdepression.
Es ist auch möglich, dass sich Frauen nach dem Erleben genitaler Gewalt nicht mehr in der Lage fühlen, vaginal zu gebären und dass sie aus Angst oder Panik einen Kaiserschnitt einfordern. In all diesen Situationen ist es besonders wichtig, einfühlsam für eine Beruhigung der Frauen im Rahmen einer vertrauensvollen Beziehung zu sorgen.
Es ist für die „innere Antwort” unerheblich, ob tatsächlich eine Bedrohung entsteht. Wichtig ist nur, ob etwas als bedrohlich und verunsichernd empfunden wird. Deshalb ist es theoretisch so leicht, die gröbsten Fehler interkultureller Kommunikation zu vermeiden. Sie werden aber leider immer wieder begangen, enden oft und völlig unnötig in Konflikten.
Trotz aller guten Vorbereitungen, Einstellungen und hoher Professionalität, wird es zu Widersprüchen kommen, zum Beispiel zwischen den eigenen Möglichkeiten und den Erwartungen oder Forderungen der Frauen, oder zu Missverständnissen, die völlig unerklärlich zu sein scheinen. Dann ist es gut zu fühlen, wie es mir gerade geht. Und nicht sofort zu handeln. Sondern erst mich beruhigen und aus dem Stress herausführen, dann kommunizieren, was ich fühle. Das Prinzip der sogenannten gewaltlosen Kommunikation ist in jeder Kultur wirksam (Rosenberg 2014). Es besteht darin, etwas, das geschieht, zunächst nur als Beobachtung zu beschreiben. Erst dann das Gefühl wahrzunehmen, welches die Handlung ausgelöst hat. Um daraus einen Bedarf abzuleiten, was jetzt gebraucht wird. Und um dann schließlich eine Bitte zu formulieren, die jetzt erfüllt werden kann.
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