Die häufigste Form eines Schiefhalses bei Kleinkindern ist die Torticollis muscularis congenitus. Bei diesem Krankheitsbild zeigt sich der M. sternocleidomastoideus in einer einseitigen Verkürzung. Können knöcherne Fehlbildungen der betroffenen Strukturen, raumfordernde Geschehen und cerebrale Fehlsteuerungen ausgeschlossen werden, liegt eine andere Ursache vor.
Ein Muskel hat aus sich heraus keinen Grund, sich zu verkürzen oder zu fibrosieren. Auch nach einer für Kind und Mutter anstrengenden Geburt, müsste sich die physiologische Länge des Muskels selbstständig wiederherstellen. So wie sich nach einem einseitigen Armtraining im späteren Leben die physiologische Länge des trainierten Muskels wiedereinstellen.
Leidet ein Säugling nach der Geburt an einer Verkürzung des M. sternocleidomastoideus mit der daraus resultierenden Torticollis muscularis congenitus, müssen die Gründe für diese persistierende Verkürzung gefunden und behandelt werden, um den Säugling vor eventuell unnötigen Therapie-Serien oder gar Botoxinjektionen zu bewahren.
Können die erwähnten knöchernen Veränderungen oder Tumorgeschehen ausgeschlossen werden, definieren wir folgende zwei Hauptursachen: statische und organische Ursachen
Im Konzept Radloff, benannt nach ihrem Begründer Klaus Radloff (1940–2014), Physiotherapeut, Begründer der Methode Akupunktur Massage (APM), die seit 1979 vorwiegend in der Schweiz, Deutschland und Österreich vertreten ist, werden die Becken- und Wirbelgelenke als funktionelle Einheit betrachtet (siehe Kasten). Ein blockierter oder verdrehter Halswirbel kann Einfluss auf die gesamten Strukturen der Wirbelsäule und des Beckens ausüben. Umgekehrt können Verschiebungen der Beckenknochen während des Geburtsvorgangs eine persistierende Verdrehung des Beckens des Säuglings zur Folge haben, was reaktiv einen Halswirbel in einer schiefen Position blockiert. Die Wirbelsäule kompensiert Verdrehungen immer reflektorisch mit einer Gegendrehung. In Abbildung 1 besteht eine Rechtsrotation des Atlas aufgrund des kontrahierten M.sternocleidomastoideus rechts. Dadurch dreht mindestens ein Wirbel in die Gegenrichtung und das Becken nimmt dieselbe Rotationsrichtung wie der Nacken ein, hier auch eine Rechtsrotation. Dieselbe reflektorische Kettenreaktion zeigt sich auch bei einem ursächlich verdrehten Becken.
Wenn das Becken aufgrund des Geburtsvorganges in sich verdreht ist, verkürzen bestimmte Muskelgruppen der Bein- und der Rumpfmuskulatur. Nun korrigiert der Körper von caudal nach cranial. Die Wirbelsäule steuert in sich gegen. Der Atlas als Gegenpol und somit der Kopf nimmt die Rotationsrichtung des Beckens auf. Dies kann dann zu einer geringfügigen Schiefhaltung des Kopfes führen oder in gravierenderen Fällen zu einem Schiefhals.
Im Konzept Radloff suchen wir nach Störungen in Organen. Diese können aufgrund von Pathologien entstehen, oder bei Säuglingen häufiger durch eine gestörte Energetik. Letzteres meint, dass ein Organ durch Blockaden, meist unbekannter Ätiologie, zu viel oder zu wenig Energie erhält. Ein pathologisch oder energetisch «gestörtes» Organ wirkt sich im Sinne des viszeralen Reflexbogens in verschiedensten Bereichen des Körpers aus. Als Begründung dafür dient folgender Ansatz:
Um bei dem Beispiel des überlasteten Magens zu bleiben nun folgendes Erklärungsmodell: Der Magen wird sympathisch auf Höhe der Spinalnerven Th6−Th8 innerviert. Dadurch hat er direkten Einfluss auf die Muskulatur, die Haut und die Knochen dieses Segments. Dadurch können hyper- oder hypotonische Spannungsveränderungen der Muskulatur in der Mitte der Brustwirbelsäule entstehen. Diese können einen einzelnen oder sogar mehrere Wirbel nacheinander verdrehen. Dies erklärt die Entstehung einer Skoliose durch die muskulären Spannungen.
Parasympathisch wird der Magen durch den N. vagus und den N. phrenicus versorgt. Aus diesem Grund kann eine verdrehte Halswirbelsäule einerseits negativ auf die angeschlossenen Organe einwirken, und andererseits kann über diese Verbindung ein überreiztes Organ die Hals- und Nackenmuskulatur negativ beeinflussen. Dies erfolgt wiederum in Form einer hyper- oder hypotonischen Veränderung.
Der bei dem angeborenen muskulären Schiefhals betroffene M. sternocleidomastoideus wird von Spinalnerven der Höhe C1–C3/4 innerviert. Wie in Abbildung 2 ersichtlich, steht dieser Bereich im Einfluss verschiedenster Organe.
Abbildung 2: Sympathische und parasympathische spinalnervliche Versorgung Abbildung: Nach Förster & Dicke; Grafik Lehrinstitut Radloff 2010
Aufgrund der reflektorischen Zusammenhänge innerhalb der funktionellen Einheit Wirbelsäule macht es wenig Sinn, allein die muskuloskelettale Problematik im Nackenbereich zu lösen. Vielmehr muss zwingend die gesamte funktionelle Einheit überprüft werden. Das heißt konkret, die blockierten Beckengelenke werden gelöst und mobilisiert, die verdrehten Wirbel – inklusive des Atlas – werden auf Fehlstellungen kontrolliert und mobilisiert. Wenn die Ursache für die Torticollis in der statischen Funktionsstörung begründet ist, wird sich der Schiefhals und die gesamte Wirbelsäule entspannen. Das Ziel der langfristigen Beschwerdefreiheit wird meist allerdings erst dann erreicht, wenn die zweite Ursache, die organische Störung, integriert wird.
Die Organe werden einzeln getestet und entsprechend ihrem energetischen Zustand behandelt. Funktioniert der Ausgleich dieser meist energetischen Störung, entspannen sich im Zusammenhang stehende Muskeln spontan (siehe Abbildung 3).
Abbildung: © Ranson & Clark. Entnommen aus Ilse Schuh »Bindegwebsmassage« C.Fischer 1992
Wird ein Organ durch einen fehlgestellten Wirbel über den spinalnervlichen Reflexbogen gereizt, wird hier die Entlastung nicht genügend gelingen. In diesem Fall muss zusätzlich zur energetischen Behandlung der entsprechende Wirbel mobilisiert werden, also statisch gearbeitet werden. In der Praxis macht es keinen Sinn, diese zwei Komponenten isoliert zu behandeln. Das isolierte Aufdehnen des Muskels oder das Mobilisieren der Becken- und Wirbelgelenke kann nur eine kurzfristige Entlastung bewirken. Vielmehr geht es darum, das Spannung verursachende oder aufrechterhaltende Organ zu finden. Das entsprechende Organ des Säuglings wird dann in Kombination mit den statischen Techniken entlastet.
In der Akupunktur Massage (APM) nach Radloff versuchen wir, diese Zusammenhänge zu erkennen und entsprechend dem energetischen Zustand zu behandeln, um dadurch ein nachhaltiges Therapieziel zu erreichen.
Radloff K: Die Becken-, Wirbelsäulen- und Gelenkbehandlung. Lehrinstitut + Verlag Radloff. 1998
Radloff K: Die Chinesische Medizin kennt keine orthopädischen Krankheiten. BoD 2016
Wancura-Kampik I: Segmentanatomie. Elsevier. Amsterdam 2009