Die Frau hat ein Recht auf eine informierte Entscheidung, ob sie eine Einleitung befürwortet und welche Methode sie dafür wählen möchte. Foto: © Pixel-Shot/stock.adobe.com

Der Wirkstoff Misoprostol in Cytotec® ist ein synthetisch hergestellter Prostaglandin-Abkömmling, der eigentlich als Magenmedikament zugelassen ist, weltweit aber auch zur Geburtseinleitung verwendet und von der WHO als unverzichtbares Einleitungsmittel eingestuft wird. Die einen warnen vor dem Medikament, die anderen kämpfen für die weitere Verwendung in der Geburtshilfe. Gibt es eine sichere Form der Anwendung?

Wie bei fast allen Medikamenteneinnahmen, insbesondere aber in der sensiblen Phase von Schwangerschaft und Geburt, sind Chancen und Risiken gegeneinander abzuwägen. Das Leben und die körperliche und seelische Gesundheit der Mutter und des (ungeborenen) Kindes zu erhalten, sollte immer die höchste Prämisse sein. Über den besten Weg dorthin wird es bei vielen Fragen Diskussionen geben, und das ist gut und wichtig.

Aktuell befinden wir uns in einer Phase, in der vieles in der Schwangerenvorsorge und Geburtshilfe proaktiv gehandhabt wird. Das heißt, dass zumindest die Mediziner:innenseite eher dazu tendiert, zu versuchen, mittels Screenings und vorsorglichem Handeln mögliche Pathologien zu vermeiden oder zu verhindern, als abzuwarten und auf tatsächliche pathologische Ereignisse zu reagieren. An manchen Punkten stellen sich Hebammen dieser Herangehensweise mit ihrer Sicht entgegen, die eher aus der Physiologie, Salutogenese und Resilienz auf die Dinge schaut. Sie plädieren meist für einen zurückhaltenden Weg und für eine Reduzierung vorsorglicher Interventionen. Dahinter steht auch der Gedanke, dass alle Interventionen Risiken bergen und Interventionskaskaden nach sich ziehen können. Eine andere Angst, nämlich die vor seltenen schweren Notfällen, dient Geburtsmediziner:innen dagegen oft als Argument für eine proaktive Handlungsweise.

Das Ziel: Intrauterine Kindstode verhindern

So hatten die Diskussionen zur frühzeitigen Geburtseinleitung bei Terminüberschreitung auch bei unauffälligen Schwangerschaften einen neuen Schub bekommen, als die sogenannte SWEPIS -Studie 2016–2018 in Schweden abgebrochen wurde (SWEdish Post-term Induction Study), da die Rate der Sterbefälle ungeborener Kinder mit einem Überschreiten des errechneten Geburtstermins signifikant anstieg (Wennerholm et al. 2019) (siehe Kasten: Relatives Risiko). Es gibt für dieses seltene Ereignis Risikofaktoren, wie Rauchen, ein hoher BMI oder das Alter der Schwangeren. Erstgebärende, ältere Schwangere und Frauen mit einem hohen BMI sind gleichzeitig häufiger von Terminüberschreitungen betroffen (AWMF 2010; Thieme 2021).

Relatives Risiko und fraglicher Erfolg
Risiken für Totgeburten

Das Risiko für eine Totgeburt steigt ab SSW 37 + 0 leicht an, bleibt jedoch bis SSW 42 + 0 relativ gering. Je nach Berechnungsgrundlage liegt das Risiko in SSW 41 + 0 bei etwa 1,3–1,7 Totgeburten je 1.000 Geburten, in SSW 42 + 0 bei etwa 1,6–1,9 Totgeburten je 1.000 Geburten. Trotz eines massiven Anstiegs des Anteils der Geburtseinleitungen von 16,5  % im Jahr 2005 auf 21,7  % 2017 hat sich die Totgeburtenrate in Deutschland dabei kaum verändert (Müller & Leinweber 2019).

Fragliche Aussagekraft

»Bei der Diagnostik einer möglichen relativen Plazentainsuffizienz bei der Terminüberschreitung ist bislang keine Methode evidenzbasiert einsetzbar. (…) Die Diskussion um die Wertigkeit der Dopplerindices bei Terminüberschreitung von risikoarmen Schwangerschaften ist kontrovers.« (AWMF 2014)

Konkrete Warnsignale

»Nachlassende fetale Bewegung ist in etwa einem Viertel der Schwangerschaften mit schlechtem fetalem Outcome wie Frühgeburtlichkeit, intrauteriner Wachstumsretardierung (IUGR) oder Totgeburt assoziiert. Beobachtet wurde, dass ein intrauteriner Fruchttod (IUFT) dem Versiegen von Bewegungen häufig in weniger als 24 Stunden folgt.« (Büthe 2017)

Leider gibt es aber keine sichere Möglichkeit, bei Terminüberschreitung das konkrete individuelle Risiko einer Schwangeren oder ihres ungeborenen Kindes zu ermitteln. Auch die häufigen standardmäßig genutzten CTG- und Ultraschallkontrollen nach dem ET sind nicht geeignet, zuverlässig die gefährdeten Kinder zu erkennen. Mit Methoden wie dem »Growth Assessment Programm« (vergl. Butler et al. 2020; www.perinatal.org.uk) oder dem »Kick-Chart-Modell« konnte dagegen in einigen Ländern ein signifikanter Rückgang der Totgeburten erreicht werden. Diese haben aber bisher keinen Eingang in die deutsche Leitlinie zur Terminüberschreitung (AWMF 2014) gefunden und sich auch in der hiesigen Praxis (noch) nicht etabliert.

Der Einsatz-/Erfolgs-Quotient

Bei Entscheidungen für oder gegen Interventionen ist die statistische Größe «Number needed to treat« wichtig (NNT, deutsch: »Anzahl der notwendigen Behandlungen«). Es ist die gedachte Zahl an Behandlungen, die nötig ist, um gegenüber einem Nichtbehandeln oder einer Alternativmethode einen einzelnen positiven Ausgang zu erreichen. Werden statt des Behandlungserfolges die Nebenwirkungen betrachtet, wird die Methode auch als »Number needed to harm« (NNH) bezeichnet (flexikon.doccheck.com 2021).

Je höher die NNT ist, desto geringer ist der Unterschied der beiden untersuchten Wege. Ist der Wert 1 (es wird immer auf volle Zahlen aufgerundet), profitiert jede:r Behandelte. Bei rein vorsorglichen Maßnahmen bedeutet dies aber auch, dass eine bestimmte Anzahl an Individuen einen Vorteil haben werden, möglicherweise und sehr wahrscheinlich aber eine andere Anzahl an Individuen Nachteile – und zwar mehr als ohne Behandlung.

Das Konzept des NNT beschreibt letztlich das ganze Dilemma der vorsorglichen Geburtseinleitungen bei Terminüberschreitung ohne weitere Indikationen. Denn wir wissen, dass es für sehr wenige Ungeborene fatal sein kann, wenn ihr Risiko unerkannt bleibt, sie zu lange über den ET gehen und dann intrauterin sterben. Die Dramatik, dass ein Kind so kurz vor der Geburt noch stirbt, und die Vorstellung, außerhalb des Uterus hätte ihm dagegen geholfen werden können, macht aus einer reinen Rechengleichung ein ethisches und emotionales Dilemma. Können und dürfen wir, Hebammen, Ärzt:innen und werdende Eltern, das riskieren? Und was ist der Unterschied zu den Kindern, die kurz vor dem ET intrauterin sterben? Diese Frage zeigt, wie sehr die Entscheidung für den Zeitpunkt einer vorsorglichen Einleitung auch von Ängsten, Kontrollbedürfnissen und Schuldgefühlen geprägt ist.

Für die vorsorglich eingeleiteten und eigentlich nicht gefährdeten Kinder aber entstehen mit der allzu häufigen Geburtseinleitung neue Risiken, nämlich, dass sie selbst oder die Mutter Folgeinterventionen und/oder schwere bis lebensbedrohliche Nebenwirkungen erleiden. Jede:r in der Geburtshilfe geschulte und wissenschaftlich Gebildete weiß, dass dabei klare Ursache-Wirkung-Zuschreibungen meist ebenso schwierig sind wie die Erstellung genauer Zahlen und Daten für eine belastbare Evaluierung beider Risiko-Seiten.

Es muss daher nicht nur über die NNT verschiedener Einleitungsmöglichkeiten gesprochen werden, sondern auch über die NNH – die Zahl derer, die von der Behandlung Schaden nehmen können. Und diese Zahlen müssen genauso offen und laienverständlich benannt werden, wie die positiven Aspekte eines aktiven Managements und der angebotenen Methoden. Dazu reicht es nicht, wenn nur verschiedene Einleitungsmethoden miteinander verglichen werden. Diese müssen auch mit den Ergebnissen der Nicht-Einleitung abgeglichen werden (siehe Kasten: Cochrane-Reviews).

Betroffene und Bundesamt warnen weiterhin vor Cytotec®

Auch wenn BefürworterInnen von Cytotec® nicht müde werden zu versichern, dass das Medikament sehr gut erforscht und »sicher« sei, ist die Datenlage durchaus nicht so klar und eindeutig.

Eine Online-Umfrage unter Hebammen in Deutschland, Österreich und der Schweiz (n = 413) ergab 2017, dass diese bei Einleitungen allgemein schwere Komplikationen wie starke Schmerzen, uterine Überstimulation oder CTG-Pathologien bis hin zur Uterusruptur, vorzeitiger Plazentalösung, fetaler Notlage oder Atonie erlebt hatten. Dabei stellte vielerorts die orale Misoprostolgabe (Cytotec®) das bevorzugte Mittel dar, das bei 40,4 % per Hand zerteilt wurde. 3 % (n = 10) der Befragten gaben an, dass Cytotec trotz bekannter Kontraindikation auch bei Zustand nach Sectio eingesetzt werde. Zugleich konstatieren die Autor:innen: »Ein systematisches nationales Monitoring findet nicht statt.« (Schwarz et al. 2017)

Misoprostol steht auf der WHO-Liste der »Essential Medicines« und kann nach WHO-Empfehlung zur Geburtseinleitung genutzt werden (oral: 25 µg alle 2 Stunden; vaginal: 25 µg alle 6 Stunden). Die DGGG dagegen empfiehlt in der Leitlinie zur Geburtseinleitung höhere Dosierungen: »Erstgaben von > 50 μg und Einzelgaben von > 100 μg sollten vermieden werden.« Sie schreibt darin aber auch: »Eine Nebenwirkung wie eine uterine Überstimulation führt nicht zwangsläufig zu einem pathologischen CTG, einem Kaiserschnitt und/oder einem schlechten kindlichen Outcome. Orales/vaginales Misoprostol in einer Dosierung von ≥ 50 μg pro Tablette führte zwar im Vergleich zu Placebo zu mehr Überstimulationen, die Rate an Verlegungen in die Kinderklinik war jedoch nicht verschieden.« (AWMF 2021, S. 50, Hervorhebung Tara Franke).

Cochrane-Reviews
Orale Misoprostolgabe zur Geburtseinleitung

Ein Cochrane-Review, das 75 randomisierte kontrollierte Studien (RCT) mit insgesamt 13.793 Frauen untersuchte, kam 2014 zu dem Schluss: »Oral verabreichtes Misoprostol zur Geburtseinleitung ist wirksam, um eine vaginale Geburt zu erreichen. Es ist wirksamer als ein Placebo, ebenso wirksam wie die vaginale Gabe von Misoprostol oder Dinoproston und führt zu weniger Kaiserschnitten als Oxytocin alleine. Misoprostol sollte in einer Menge von 20–25 µg in Lösung verabreicht werden. Die orale Gabe ist der vaginalen vorzuziehen, insbesondere in Situationen, wo es wichtig ist, aufsteigende Infektionen zu vermeiden und wenn wegen Personalknappheit keine permanente Überwachung der Frau möglich ist.« Zu möglichen Komplikationen ist dort allerdings zu lesen: »Insgesamt sind die Fälle schwerer Schäden oder der Tod von Mutter oder Kind selten und es gab in den untersuchten Studien keine brauchbaren Zahlen dazu.« (Übersetzung: Tara Franke)

Quelle: Alfirevic Z, Aflaifel N, Weeks A. Oral misoprostol for induction of labour. Cochrane Database of Systematic Reviews 2014. Issue 6. Art. No.: CD001338. DOI:10.1002/14651858.CD0 01338.pub3

Einleitung nach vorangegangener Sectio

Ein anderes Cochrane-Review untersuchte die Effekte von Geburtseinleitungen nach Kaiserschnitt und schlussfolgerte: »Die vorhandenen RCTs zur Geburtseinleitung nach Sectio sind ungenügend, da die verfügbaren Zahlen zu gering sind, um signifikante klinische Unterschiede aufzuzeigen. Besonders die Zahlen zum Outcome der Kinder sind schwach. Aufgrund von Ungenauigkeiten und Studiendesigns ist das GRADE-Level (Grading of Recommendations Assessment, Development and Evaluation) für Evidenz mittel bis schwach.« (Übersetzung Tara Franke)

Quelle: West HM, Jozwiak, M, Dodd, JM: Methods of term labour induction for women with a previous caesarean section. Cochrane Database of Systematic Reviews 2017

Betroffene Mütter berichten allerdings, dass die zerebralen Schäden ihrer Kinder teilweise erst Wochen oder Monate nach der Geburt erkannt wurden. Es gibt in Deutschland mittlerweile eine beachtliche Zahl an schweren Schadensfällen, die mit Cytotec® in Verbindung gebracht werden. Der Nachweis ist schwierig. Die Betroffenen, die beispielsweise auf der Website »Cytotec Stories« auf das Schicksal ihrer Kinder aufmerksam machen, fühlen sich eigenen Angaben zufolge so hart angegriffen, dass sie ihre echten Namen nicht veröffentlichen wollen. In ihren Erzählungen zeigt sich immer wieder, dass das Problem wohl nicht allein am Wirkstoff liegen könnte, sondern auch und vor allem in der unzureichenden Aufklärung und Mitbestimmung der werdenden Eltern und in teilweise unkorrekten Medikamentendosierungen.

Diese Aussage deckt sich mit den Ergebnissen einer deutschlandweiten Befragung aus dem Jahr 2013. Danach setzten damals 65 % (n = 355) der 542 antwortenden Geburtskliniken Misoprostol zur Geburtseinleitung ein. Davon hielten sich lediglich 35 % an die von der WHO und DGGG empfohlene Einzeldosis von 25 µg, wobei von diesen Kliniken nur rund 2,5 % keine Dosissteigerung im Verlauf vornahmen (Goecke et al. 2014). Demnach gab es mindestens 42 unterschiedliche Schemata, das am häufigsten genannte Schema (50 µg oral alle 4 Stunden, die auf 100 µg gesteigert werden) kam in 138 Kliniken (39 %) zur Anwendung. Als einen Grund für die Wahl dieses Mittels nannten – neben der Wirksamkeit – ein Drittel der Nutzer:innen die niedrigen Kosten. Auch die Berliner Fachanwältin für Medizinrecht Dr. Ruth Schultze-Zeu schreibt, dass bei den mehr als 30 ihrer Mandantinnen, bei denen die Geburt mit Cytotec eingeleitet wurde, keine der Patientinnen vollständig über die Risiken dieses Medikamentes sowie die Behandlungsalternativen aufgeklärt worden sei. Bei jeder sei ein mehrstündiger »Wehensturm« aufgetreten, der bei 20 ihrer Mandantinnen zu gravierenden Komplikationen geführt habe. In einigen Fällen sei ein zweites oder drittes Mal Cytotec verabreicht worden, obwohl die Gebärende bereits regelmäßige Wehen gehabt habe, was ein Kunstfehler ist. Durch Uterusrupturen und vorzeitigen Plazentaablösungen seien in fünf Fällen die Kinder entweder noch in der Gebärmutter oder unmittelbar nach ihrer Geburt verstorben (Schultze-Zeu 2020).

Meldung von Schadensfällen
Die Meldungen von Schadensfällen bei Medikamenten werden in der zentralen Europäischen Datenbank gemeldeter Verdachtsfälle von Arzneimittelnebenwirkungen erfasst. Darin steht ein umfangreicher Datenpool zur Verfügung, der es erlaubt, Arzneimittelrisiken EU-weit zu überwachen. Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) ist hier in die Gremien der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) eingebunden.

Unter Beteiligung des BfArM empfahl die EMA nach Auftreten mehrerer Uterusrupturen, die Häufigkeit der unerwünschten Arzneimittelwirkung (UAW) von »unbekannt« zu »selten« zu aktualisieren sowie zusätzlich die UAW zu beschreiben. Die Fachinformation von Cytotec wurde 2018 geändert in:

»4.8 Nebenwirkungen

Schwangerschaft, Wochenbett, Perinatalperiode

Selten: Uterusruptur**

Nicht bekannt: krankhafte Gebärmutterkontraktionen, Fruchtwasserembolie, Absterben des Fetus, unvollständiger Abort, Frühgeburt, Plazentaretention, Uterusperforation, Geburtsschäden.

**Über Uterusrupturen wurde gelegentlich nach Einnahme von Prostaglandin während dem zweiten oder dritten Schwangerschaftstrimester berichtet. Uterusrupturen traten insbesondere bei mehrfachgebärenden Frauen oder Frauen mit einer Kaiserschnitt-Narbe auf.«

Das BfArM teilte auf Anfrage in einer Mail vom 2.7.2021 mit, dass es zwar Meldungen von Verdachtsfällen dazu gebe, die Häufigkeit aufgrund der vorliegenden Datenlage allerdings nicht abschätzbar sei.

Nicht mal im »Off-Label-Use« korrekt zugelassen

Eine weitere Besonderheit ist, dass Cytotec® nur als Ulcusmedikament gedacht war und die Wehen auslösende Wirkung eher zufällig entdeckt wurde. Die sonst üblichen umfassenden Prüfungen neuer Medikamente oder neuer Anwendungsgebiete von Wirkstoffen, die gerade in der Schwangerschaft zum Schutz des Feten besonders wichtig sind, hat das Medikament nie durchlaufen. Es wird zwar permanent vom »Off-Label-Use« gesprochen, aber dies ist nicht korrekt, denn Cytotec hat die entsprechende Anlage dafür nicht erhalten (siehe Kasten: Off-Label-Use, Seite 41). Im Gegenteil: In mehreren »Rote-Hand-Briefen« hat das Bundesministerium für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) vor den Risiken des Einsatzes von Misoprostol-Medikamenten gewarnt und klargestellt: »Cytotec ist nicht zur Geburtseinleitung zugelassen. (…) Für die Anwendung von Cytotec bei der Geburtseinleitung liegen keine ausreichenden Daten zur Beurteilung des Nutzen-Risiko-Verhältnisses vor.« (BFArm 2020). Es betonte zuletzt am 16. März 2021 zur Gefahr exzessiver, uteriner Tachysystolie, die möglicherweise nicht auf eine Tokolyse anspricht: »Diese und weitere Nebenwirkungen wie Uterusrupturen und vorzeitige Plazentaablösungen sind auch für das Arzneimittel Cytotec bekannt. Es darf, basierend auf der Produktinformation, nicht bei Schwangeren angewendet werden.«

Zugleich räumt es ein: »In anderen EU-Mitgliedsländern sind misoprostolhaltige Arzneimittel u.a. zur oralen oder zur vaginalen Anwendung für die Geburtseinleitung (z.B. Angusta oder Vagiprost) zugelassen, die unter bestimmten Voraussetzungen für deutsche Patientinnen eingeführt werden können.« (BFArM 2020)

Kritische Expert:innenstimmen

Prof. em. Dr. Peter Husslein ist Frauenarzt und Humangenetiker mit Praxis in Wien und hatte als Gutachter Einsicht in verschiedene Schadensfälle mit Prostaglandin. Er betonte im persönlichen Gespräch, dass mit Misoprostol einerseits ein extrem wirksames Prostaglandin zur Verfügung stehe, das in bestimmten Situationen auch bei völlig unreifem Zervixbefund, wie bei der Einleitung früher Fehlgeburten, in recht hohen Dosierungen von bis zu 400 µg sehr zuverlässig geburtswirksame Wehen auslösen könne. Andererseits berge diese starke Wirksamkeit aber auch das Risiko von Komplikationen. »Die Gefahr der Existenz eines äußerst wirksamen wehenauslösenden Medikaments birgt vor allem dann, wenn man die Senkung der Sectiofrequenz als ein wichtiges Ziel ansieht (…), die Gefahr einer unnötig weiten Indikationsstellung.« (Husslein P 2020).

Er habe detailliertere Kenntnis von verschiedenen Schadensfällen, bei denen in der Regel mehrere Dinge zusammengekommen seien, die zu Unglücken wie dem Tod der Mutter oder einem hypoxischen Hirnschaden beim Kind geführt hätten. Zusätzlich zur fraglichen Indikation für den Einsatz und zur Überdosierung dieses Medikamentes nämlich sei praktisch immer hinzugekommen: eine unzureichende Überwachung der Geburt und des Ungeborenen und eine unzureichende Infrastruktur und Reaktion auf die Überdosierung. Weder sei ein Prostaglandin-Gel nach der Verabreichung wieder von der Zervix zu entfernen noch die orale Gabe rückgängig zu machen. Da Misoprostol nicht immer mit einer Notfalltokolyse zu neutralisieren sei, bleibe am Ende nur die sofortige Entscheidung zur eiligen Notsectio. Beim Auftreten übermäßiger Wehen müsse also sofort ein qualifiziertes Team in der Lage sein, die Geburt unverzüglich mit einer Sectio zu beenden. Dies sei aber in sehr vielen Kliniken aus strukturellen Gründen oftmals nicht gegeben.

Ein legitimer Grund, eine Geburt einzuleiten, sei die Mutmaßung, dass es dem Kind außerhalb des mütterlichen Körpers besser gehen würde als in der Gebärmutter. Haupteinsatzgebiet für das umstrittene Prostaglandin sei ein Befund mit einer unreifen Zervix, bei dem aber eine primäre Sectio eine »interessante Geburtsalternative« sei. Er vertrete ohnehin die Ansicht, dass das Ziel der heutigen Geburtshilfe sein sollte, Notsectiones möglichst ganz zu vermeiden und im Zweifelsfall eher eine geplante Sectio durchzuführen.

Auf die Frage nach den Gründen für den weiteren Einsatz von Cytotec gibt Husslein zu bedenken, dass neben der extrem hohen Wirksamkeit dieses Medikament als Magenmittel extrem kostengünstig sei und dies einer der Anreize gewesen sein mag, es großzügiger als notwendig zu verwenden. Seiner Erfahrung nach ließen sich die Cytotec-Tabletten allerdings weder exakt teilen noch auflösen und verdünnen, wodurch es mehrfach zu Überdosierungen gekommen sei. Es wird spannend sein zu verfolgen, wie nach der Zulassung eines korrekt dosierten, aber deutlich teureren Medikamentes vorgegangen wird.

Gerade wurde die baldige Zulassung des bereits seit Ende 2020 in Österreich zugelassenen Misoprostol-Präparats Agustin® für die orale Einnahme (25 µg Misoprostol als Tabletten) zur Geburtseinleitung in Deutschland angekündigt (Pharmazeutische Zeitung 2021, siehe Links).

Warum werden bestimmte Abwägungen bevorzugt?

Auf der Tagung der Deutschen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG) im Jahr 2019 konstatierte ein Referent vor Hunderten Zuhörer:innen, alle Kinder sollten bereits ab 40+0 SSW eingeleitet werden, denn: »Wenn Sie einmal erlebt haben, wie ein Kind kurz nach ET intrauterin verstirbt, lassen sie das nie wieder zu.« Der Moderator nickte zu dieser Aussage und beinahe wäre sie unwidersprochen stehen geblieben. Doch dann erhob sich doch noch ein Kollege und kritisierte, dass solche Argumente keine Grundlage für diese Art von Entscheidungen sein dürften.

Natürlich ist ein später intrauteriner Tod extrem schmerzlich für alle Beteiligten. Wenn sich ein Fetus jedoch bisher völlig unauffällig und gesund zeigte und dann nach einer Geburtseinleitung ohne zwingende Indikation schwer geschädigt wird oder verstirbt, ist das für die Eltern mindestens ebenso dramatisch. Möglicherweise werden Geburtshelfende damit seltener konfrontiert, weil die meisten der nicht letalen Hirnschäden erst deutlich später diagnostiziert werden. Vielleicht werden von Mediziner:innen iatrogene Todesfälle von Kindern oder Müttern auch eher als schicksalhaft bewertet denn als Folge des eigenen Handelns. Dies könnte auch aus juristischen Gründen und Selbstschutz-Reflexen entstehen, wie bei dem Todesfall einer Schwangeren im Jahr 2013 in Deutschland, bei dem nach Gabe von 350 μg Cytotec® »alle in Deutschland eingeholten Sachverständigengutachten von einem schicksalhaften Ereignis« sprachen (Gerstner 2021).

Die Eltern befähigen, selbst zu entscheiden

Die S1-Leitlinie zum Vorgehen bei Terminüberschreitung und Übertragung stammt noch aus dem Jahr 2014 und empfiehlt ab 41+0 SSW eine Geburtseinleitung anzubieten, spätestens ab 41+3 SSW zu empfehlen (AWMF 2014). Die DGGG hat Anfang dieses Jahres eine aktualisierte S2k-Leitlinie zur Geburtseinleitung veröffentlicht (AWMF 2021). Im Vorwort es heißt: »Neben der Methode und dem optimalen Zeitpunkt sind das Selbstbestimmungsrecht und die Zufriedenheit der Schwangeren zu berücksichtigen.« Auch die S3-Leitlinie zur vaginalen Geburt am Termin betont und stützt dieses Recht auf partnerschaftlich getroffene, informierte Entscheidungen der werdenden Eltern (AWMF 2020).

Off-Label-Use
Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) schreibt zur Verordnungsfähigkeit von Arzneimitteln in nicht zugelassenen Anwendungsbieten: »Seit 1976 können Arzneimittel in Deutschland nur auf den Markt gebracht werden, wenn sie ein Zulassungsverfahren beim BfArM, beim Paul-Ehrlich-Institut für Sera und Impfstoffe (PEI) oder bei der Europäischen Arzneimittel-Agentur (EMA) durchlaufen haben. Auf der Grundlage der vom antragstellenden pharmazeutischen Unternehmen vorgelegten Daten werden dann mit der Zulassung unter anderem die Anwendungsgebiete sowie die Anwendungsart und Dosierung des Arzneimittels festgelegt. Ein solches Zulassungsverfahren ist aufwendig und kostenintensiv. Daher werden Zulassungen durch die pharmazeutische Industrie vor allem für solche Arzneimittel erwirkt, die bei häufig vorkommenden Erkrankungen eingesetzt werden können und dadurch einen großen Absatzmarkt erwarten lassen. (…)

Unter Off-Label-Use wird der zulassungsüberschreitende Einsatz eines Arzneimittels außerhalb der von den nationalen oder europäischen Zulassungsbehörden genehmigten Anwendungsgebiete (Indikationen, Patientengruppen) verstanden. Grundsätzlich ist Ärztinnen und Ärzten eine zulassungsüberschreitende Anwendung von Arzneimitteln erlaubt. (…) Der G-BA beauftragt die Expertengruppen mit der Bewertung des Wissensstandes zum Off-Label-Use einzelner Wirkstoffe bzw. Arzneimittel. Die Expertengruppen leiten dem G-BA die jeweils erarbeiteten Empfehlungen zum Stand der wissenschaftlichen Erkenntnisse über den Off-Label-Use dieser Arzneimittel zu. Mit einem entsprechenden Beschluss nimmt der G-BA den Wirkstoff dann in die Anlage VI der Arzneimittel-Richtlinie auf. Je nach Ergebnis der Empfehlungen der Expertengruppe wird der Wirkstoff hier als im Off-Label-Use als »verordnungsfähig« (Teil A der Anlage) oder »nicht verordnungsfähig« (Teil B) eingestuft.« (www.g-ba.de, siehe Links)

Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) schreibt auf Anfrage: »Das BfArM bevorzugt eindeutig den Einsatz von zugelassenen Arzneimitteln gemäß ihrer jeweiligen Zulassungsbedingungen (»In-Label-Use«). Während für die zulassungskonforme Anwendung hinreichend Daten zur Wirksamkeit und Verträglichkeit vorliegen, so dass ein behördlich geprüftes und bestätigtes positives Nutzen-Risiko-Verhältnis vorliegt, ist das bei Anwendung zugelassener Arzneimittel außerhalb ihrer Zulassungsbedingungen häufig nicht der Fall.«

Sie sollten nicht nur darüber entscheiden dürfen, welche Methode sie für eine Einleitung wählen, sondern ob sie die Einleitung überhaupt befürworten. Dafür benötigen sie evidenzbasierte laienverständliche Informationen und wertfreie Aufklärung. Weder die zeitlich enge klinische Betreuung noch eigens dafür geschaffene Foren im Internet scheinen derzeit dazu besonders geeignet. Man versuche nur einmal den Beitrag für Laien zu verstehen, der auf Cochrane kompakt zu »niedrig dosiertem, über den Mund verabreichtem Misoprostol zur Geburtseinleitung« zu finden ist (Zelck 2021). Es wird selbst Fachpersonal schwer möglich sein, die vielen teils widersprüchlichen Aussagen zu verstehen, einzuordnen und einen klaren Schluss daraus zu ziehen.

Letztlich ist eben auch wichtig, wie die Eltern das Leben und seine Risiken für sich bewerten. Könnten sie eher damit leben, wenn das Schicksal oder die Natur zum Tod ihres Kindes führt? Oder wäre es für sie schlimmer, wenn das bisher gesunde Kind durch eine vorsorgliche Maßnahme Schaden oder den Tod fände? Welches Risiko können sie besser tragen und welches Schicksal eher verkraften?

Fazit

Bei der Betreuung von Schwangeren nach dem »errechneten Termin« bleiben nach wie vor sehr viele Fragen offen. Es scheint, als gingen alle Beteiligten, ob klinisch oder nicht, Kompromisse ein, die nicht immer rational begründet sind, als nutzten sie aber zugleich nicht alle vorhandenen Möglichkeiten, diese Phase so sorgfältig und evidenzbasiert zu begleiten wie möglich. Es werden ständig Überwachungsmaßnahmen durchgeführt, die nicht zuverlässig sind, andere wirksamere dagegen bleiben ungenutzt. Es werden Medikamente eingesetzt, deren eklatante Risiken nicht vollends ausgeschlossen werden können, bei Indikationen, die sehr oft nicht zwingend sind, und obwohl es Alternativen gibt.

In diesem Spannungsfeld finden sich Eltern wieder, die – wenn sie überhaupt in die Entscheidung einbezogen werden – nur schwer an alle wesentlichen und korrekten Informationen kommen und diese noch schwerer in ihrer Bedeutung einschätzen können. Wir, die sie begleiten, sollten Einleitungen ohne dringende Indikation nicht einfach »verordnen« und keine Methode ohne ausreichende Aufklärung und Zustimmung anwenden. Über 240 betroffene Kinder und Mütter bei »Cytotec-Stories«, die von schweren Nebenwirkungen und Schäden berichten, sollten aufmerksames Gehör finden. Es muss eine umfassende selbstkritische Aufklärung der Fälle erfolgen, um mögliche iatrogene Ursachen aufzudecken und weitere Schadensfälle zu verhindern.

Die Klärung der Verantwortung ist zudem für jede einzelne Familie nicht nur wichtig, um Hilfe bei den Kosten für die Versorgung ihres betroffenen Kindes zu bekommen. Sie brauchen dies auch, um endlich mit der Frage abschließen zu können, wie das passieren konnte.

Zitiervorlage
Franke, T. (2021). Cytotec zur Geburtseinleitung: Umfassend aufklären! Deutsche Hebammen Zeitschrift, 73 (10), 34–42.
Literatur
Alfirevic Z, Aflaifel N, Weeks A: Oral misoprostol for induction of labour. Cochrane Database of Systematic Reviews 2014. Issue 6. Art. No.: CD001338. DOI: 10.1002/14651858.CD001338.pub3

AWMF: 015/065 – S1-Leitlinie: Vorgehen bei Terminüberschreitung und Übertragung. Erstellungsdatum: 02/2010, Überarbeitung von: 02/2014, Gültigkeit der Leitlinie nach Überprüfung durch das Leitliniensekretariat verlängert bis 27.2.2019

AWMF: 015–083 S3-Leitlinie Vaginale Geburt am Termin (Kurzversion). Version: 1.0 vom 22.12.2020. 015–083k. 2020

AWMF: 015–088 S2k-Leitlinie Geburtseinleitung (Kurzversion). Version: 1.12.2019. 2020

AWMF: 1.1 Addendum vom März 2021 zur 015–083 S3-Leitlinie Vaginale Geburt am Termin (Kurzversion) Version: 1.0 vom 22.12.2020. 015–083k. 2021

BfArM: »Rote-Hand-Brief« Cytotec (Misoprostol): Risiken im Zusammenhang mit einer Anwendung zur Geburtseinleitung außerhalb der Zulassung (»off-label-use«). 2020. www.bfarm.de/SharedDocs/Risikoinformationen/Pharmakovigilanz/DE/RHB/2020/rhb-cytotec. pdf?__blob=publicationFile&v=3

Butler E, Gardosi J, Fowler K: Standardisierte Messung der Fundushöhe: Individuelle Wachstumskurven. Deutsche Hebammen Zeitschrift 2020. 72 (9): 30–35

Gerstner CG: Meine Cytotec-Geschichte – ein seltener Erfolg eines Privatgutachtens. In: Anwendung von Cytotec/Misoprostol zur Geburtseinleitung. Speculum Sonderheft 1/2020. 38. Jahrgang, S. 5

Goecke TW, Voigt F, Maass N, Rath W: Anwendung und Dosierung von Misoprostol zur Geburtseinleitung – Deutschland 2013 und im internationalen Vergleich. Zeitschrift für Geburtshilfe und Neonatologie 2014. 218(02): P15

Husslein P: Editorial. In: »Anwendung von Cytotec/Misoprostol zur Geburtseinleitung« Speculum. Sonderheft 1/2020. 38. Jahrgang, S. 4

Kerr RS, Kumar N, Williams MJ, Cuthbert A, Aflaifel N, Haas DM, Weeks AD: Low-dose oral misoprostol for induction of labour. Cochrane Database of Systematic Reviews 2021. Issue 6. www.cochrane.org/de/CD014484/PREG_niedrig-dosiertes-uber-den-mund-verabreichtes-misoprostol-zur-geburtseinleitung (letzter Zugriff: 27.7.2021)

Müller K, Leinweber J: Terminüberschreitung – Einleiten oder Abwarten? Die Hebamme 2019. 32(04): 45–50

Schultze-Zeu R: »Cytotec® und der nicht beherrschbare Wehenstum«. Speculum. Sonderheft 1/2020. https://ratgeber-arzthaftung.de/de/publikationen-arzthaftung-behandlungsfehler/anwendung-von-cytotec-misoprostol-zur-geburtseinleitung/ (letzter Zugriff: 27.7.2021)

Schwarz C, Schmidt G, Rath W: Praxis der Geburtseinleitung in Kliniken der deutschsprachigen Länder (DA-CH Region) aus der Perspektive der Hebamme – quantitative Datenanalyse. Zeitschrift für Geburtshilfe und Neonatologie 2017. 221(S 01), FV04–5

Wennerholm UB, Saltvedt S, Wessberg A, Alkmark M, Bergh C, Wendel SB et al. & Hagberg H: Induction of labour at 41 weeks versus expectant management and induction of labour at 42 weeks (SWEdish Post-term Induction Study, SWEPIS): multicentre, open label, randomised, superiority trial. BMJ 2019. 367

West HM, Jozwiak M, Dodd JM: Methods of term labour induction for women with a previous caesarean section. Cochrane Database of Systematic Reviews 2017. (6)

Zelck M: freigegeben durch Cochrane Deutschland 2021. »Niedrig dosiertes, über den Mund verabreichtes Misoprostol zur Geburtseinleitung«. Veröffentlicht: 22. Juni 2021

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