Birgit Heimbach: Mitunter liest man vom MCAD-Mangel, mitunter vom MCAD-Defekt. Was ist korrekt?
Magnus Rohleder: Man sollte den Begriff MCAD-Defekt vermeiden. Zwar verwenden immer noch viele Ärzte diese Bezeichnung, weil man einfach die englische Abkürzung MCADD für „MCAD-Deficiency” wieder mit einem deutschen Wort für das zweite D füllen wollte, jedoch ist der richtige Name der Störung MCAD-Mangel Die vermischte Verwendung von MCAD-Defekt und MCAD-Mangel zwischen manchen Uni-Kliniken wird immer zum Nachteil für die Patienten, denn es gibt etwa 1,5 Millionen Menschen in Deutschland, die einen MCAD-Defekt in ihren Genen tragen, aber nur ganz wenige Menschen (1 von 10.000), die aufgrund eines von beiden Elternteilen geerbten MCAD-(Gen)Defekts auch einen MCAD-Mangel haben. Es kommt immer mal wieder vor, dass das Screeningzentrum völlig korrekt einen MCAD-Defekt (einseitig) im Befund vermutet, der aber nicht zu einem MCAD-Mangel führt. Genau so etwas war bei meinem Sohn der Fall. Die diesen Begriff gleichwertig verwendenden Stoffwechselärzte verstehen daraus aber, dass das Kind einen eindeutigen MCAD-Mangel hat und verordnen eine fortwährende Behandlung, die für das Kind letztlich zig Blutentnahmen und viele Krankenhausaufenthalte bedeutet, die eigentlich gar nicht nötig wären. Es ist mir deshalb ein Anliegen, dass die Eltern von Anfang an zwischen diesen Begriffen zu unterscheiden wissen und ärztliche Aussagen auch in Frage stellen können, wenn der Screeningbefund eigentlich etwas ganz anderes aussagt.
Bislang sind etwa 50 Störungen bekannt, die durch mitochondriale Fehlfunktionen hervorgerufen werden. Zählt der MCAD-Mangel dazu?
Ja, die MCAD-Enzyme erfüllen ihre Aufgabe in der mitochondrialen Matrix, insofern gehören sie auch zu den Mitochondriopathien. Allerdings haben alle diese Störungen unterschiedliche Ansatzpunkte und insofern auch unterschiedlich schwere Auswirkungen. Während Menschen mit anderen Mitochondriopathien teilweise strenge Diätvorgaben einhalten müssen, können Kinder mit MCAD-Mangel weitgehend normal ernährt werden, solange die Eltern zumindest ansatzweise auf eine ausgewogene Ernährung achten.
Seit dem Jahr 2005 wird beim erweiterten Neugeborenenscreening auch auf MCAD getestet. Bei wie vielen Neugeborenen ist die Diagnose gestellt worden und wie viele betroffene Menschen gibt es überhaupt in Deutschland?
Das auch um den MCAD-Mangel erweiterte Screening begann bereits 1999 in Bayern als Modellprojekt und aufgrund des positiven Ergebnisses schlossen sich nach und nach weitere Bundesländer an. Erst seit 2005 ist es aber generelle Kassenleistung und wird deutschlandweit angeboten. Fast alle der jetzt über 14-jährigen Betroffenen bekamen erst nach einer erlittenen Krise die Diagnose und es ist sehr wahrscheinlich, dass es noch eine ganze Menge nicht-diagnostizierter, weil bislang asymptomatischer, MCAD-Patienten unter Teenies, Jugendlichen und auch Erwachsenen gibt. Korrekterweise muss man sie aber als „vorsymptomatisch” bezeichnen, denn zu einer ersten Stoffwechselkrise kann es in jedem Alter kommen. Die Gesamtzahl der in Deutschland lebenden MCAD-Betroffenen ist somit unbekannt, könnte aber grob geschätzt im Bereich zwischen 2.000 und 3.000 liegen, auch wenn die meisten von ihnen überhaupt nicht wissen, dass sie einen MCAD-Mangel haben.
Seit dem Screening gibt es statistisch etwas weniger Fälle des Plötzlichen Kindstods, denn hinter manchem Fall steckte ein unerkannter MCAD-Mangel. Kinder, bei denen diese Fettstoffwechselstörung festgestellt wurde, haben das Risiko in ein tödlich endendes Koma zu fallen nicht mehr, denn sie werden von Anfang an von ihren Eltern aufmerksam beobachtet und in nicht zu langen Abständen gestillt beziehungsweise ernährt.
Tatsächlich ist es so, dass es seit Einführung des erweiterten Neugeborenenscreenings fast keine Todesfälle mehr aufgrund des MCAD-Mangels gab, da sich alle diese Situationen mit vergleichsweise geringem Aufwand sehr wirkungsvoll vermeiden lassen. Die leider trotzdem noch wenigen Todesfälle traten deshalb ein, weil es aufgrund einer Neugeboreneninfektion oder anderer direkt nach der Geburt bestehender gesundheitlicher Probleme schon in den ersten paar Tagen zu einem Energiemangel und damit einer schweren Stoffwechselkrise kam, bevor überhaupt das auf den MCAD-Mangel hinweisende Ergebnis des Screenings vorlag. Die andere und für die Eltern im Nachhinein noch viel schlimmere Situation war in einigen wenigen Fällen, dass der MCAD-Mangel zwar frühzeitig gefunden wurde, das Kind in einer akuten Notsituation im Krankenhaus aber nicht richtig behandelt wurde, weil die verantwortlichen Ärzte den MCAD-Mangel nicht kannten und den von den Eltern vorgelegten Notfallausweis nicht ernst nahmen.
Vermutlich machen sich die Eltern dennoch Sorgen um die weitere Entwicklung ihres Kindes?
Ja, besonders dann, wenn sie von nicht informierten Personen über das Vorliegen des MCAD-Mangels und dessen mögliche schlimme Auswirkungen unterrichtet wurden. Allen bisherigen Erkenntnissen zufolge entwickeln sich die meisten Kinder mit MCAD-Mangel aber völlig normal, solange es in der frühen Kindheit zu keiner schweren Krise kommt. Sie sind genauso leistungsfähig wie alle anderen Kinder, können Sport treiben und werden früheren Befürchtungen zum Trotz auch nicht dicker als der Durchschnitt der Altersgenossen. Sie kommen ersten Langzeitstudien zufolge in der Schule sogar überdurchschnittlich gut mit, was schon alleine daran liegen könnte, dass sie im Gegensatz zu vielen ihrer Mitschüler niemals ohne Frühstück das Haus verlassen. Die Aussichten sind für die frühzeitig diagnostizierten Kinder im Normalfall durch und durch positiv.
Von Müttern betroffener Säuglinge hört man, dass sie Angst haben, ihr Kind könne vor allem nachts unbemerkt in eine kritische Stoffwechselkrise geraten. Wie können Hebammen hier beraten?
Für die Hebammen ist es sicher wichtig zu wissen, welche Mechanismen beim MCAD-Mangel anlaufen und zu welchen Folgen das führen kann. Im Gespräch mit Eltern sollten Hebammen meiner Meinung nach aber vor allem dahingehend beruhigen können, dass nach den Erfahrungen der letzten Jahre dem Kind bei Beachtung der wenigen Vorsichtsmaßnahmen so gut wie gar keine Gefahr droht. Die wichtigste Maßnahme ist die strikte Beachtung der maximalen Mahlzeitenabstände. Wie viel Nahrung das Kind jeweils zu sich nimmt, ist zweitrangig. Bei Bedarf kann der Mahlzeitenabstand verringert oder die Energiemenge durch Zuführung von Maltodextrin-Lösung erhöht werden.
Die Kinder der meisten der Mitglieder der Online-Selbsthilfegruppe haben die schwere Form des MCAD-Mangels, die früher noch oft zum Tod führte, weil man nichts davon wusste. Die im Screening frühzeitig gefundenen Kinder wachsen aber fast alle völlig unbeeinträchtigt von ihrer Stoffwechselstörung auf, und bis auf ganz wenige Ausnahmen haben die meisten Eltern in den vergangenen Jahren nicht die geringsten Symptome bei ihren Kindern bemerkt.
Ich glaube, das ist die Botschaft, die von den Hebammen so frühzeitig wie möglich vermittelt werden sollte, wenn Eltern kurz nach der Geburt mit dem MCAD-Verdacht konfrontiert werden: Auch wenn es früher mal eine häufig zum Tod oder bleibenden Schädigungen führende Stoffwechselstörung war, konnte ihr, dadurch, dass sie jetzt so früh aufgespürt wird, dieser Schrecken genommen werden. Denn dazu wird es nun mit großer Sicherheit nicht kommen, und das Kind wird voraussichtlich ganz normal heranwachsen.
Für den Anfang empfiehlt es sich, eine Dose Maltodextrin 6 oder Traubenzucker griffbereit in der Wohnung zu haben. Auch wenn diese Dosen bei vielen Familien über Jahre ungenutzt im Schrank stehen bleiben, ist es für alle Eltern doch ein enorm beruhigendes Gefühl, sie zu haben. Zeigt das Kind Anzeichen von Apathie oder ein allgemein auffälliges und beunruhigendes Verhalten, können ihm damit schnell wieder Kohlenhydrate zugeführt werden. So lässt sich die katabole Phase unterbrechen und das Gehirn wieder mit ausreichend Energie versorgen. Sobald sich die Eltern aber auch nur ansatzweise mit einer Situation überfordert fühlen, sollten sie nicht zögern, sich mit dem Kind ins Krankenhaus oder in die Stoffwechselambulanz zu begeben.
Welche Menge an Maltodextrin empfehlen Sie?
Maltodextrin ist in Bezug auf den MCAD-Mangel in jedem Fall nur als Notfallmittel oder Ausnahmefallmittel zu verstehen. Den Notfall erkennt man unmissverständlich und ein Ausnahmefall liegt immer dann vor, wenn das Kind die normale Nahrung nicht mehr zu sich nehmen oder bei sich behalten kann. Die Frage nach der Mengenangabe für Maltodextrin-Lösung oder Traubenzucker ist nicht so ganz einfach zu beantworten, denn so pauschale Angaben gibt es nicht. Was es gibt, sind Empfehlungstabellen für Phasen, in denen Kinder aufgrund einer Krankheit die Nahrung vollständig verweigern und somit von den (bereits etwas erfahreneren) Eltern komplett mit Maltodextrin-Lösung über die schwierige Zeit gebracht werden.
Für ein Kind im ersten Lebensjahr werden 10 Gramm Maltodextrin pro 100 Milliliter Wasser/Tee empfohlen. Das Kind sollte über den ganzen Tag hinweg pro Kilogramm Körpergewicht eine Trinkmenge von 150 bis 200 Milliliter zu sich nehmen, und zwar in zweistündigen Abständen. Wenn ein Baby also nach ein paar Monaten bei 6 Kilogramm Gewicht liegt, wären das 1.200 Milliliter Flüssigkeit mit 120 Gramm Maltodextrin pro Tag, und somit alle zwei Stunden 100 Milliliter mit jeweils 10 Gramm.
In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob auch für diese Kinder Muttermilch das Beste ist, und ob sie überhaupt gestillt werden können?
Nichts spricht gegen das Stillen nach Bedarf, auch wenn es manchen wenig informierten Ärzten lieber wäre, wenn der Säugling genau messbare Nahrungsmengen zu sich nehmen würde. Auch in früheren Jahren, als der MCAD-Mangel nicht frühzeitig gefunden wurde, kam es meist erst nach dem Abstillen zu einer Krise, da dann die nach Bedarf des Kindes erfolgende Ernährung nicht mehr gegeben war und die Mahlzeitenabstände oft auch deutlich größer wurden.
Muttermilch ist mit Sicherheit auch für diese Säuglinge das Beste, aber die größte und oft über Jahre anhaltende Sorge dieser Mütter besteht generell in der Ungewissheit, ob das Kind mit der letzten Mahlzeit genug Energie zu sich genommen hat. Diese Angst sitzt bei vielen Müttern sehr tief, denn sie sehen die volle Verantwortung für die Ernährung und somit indirekt auch für das Überleben des Kindes bei sich alleine. Die Väter machen sich darüber deutlich weniger Gedanken. Manchmal ist diese psychische Belastung der Mutter so groß, dass das Umsteigen auf Flaschennahrung zumindest einen Teil der Sorgen nehmen kann. Dieser Schritt ist oft aber nicht leicht, wenn das Stillen das erklärte Ziel der Mutter war, es aber trotz aller Bemühungen nicht so richtig klappt.
Erwartet eine Mutter bereits das zweite Kind, hat sie oft die Befürchtung, das Neugeborene könne schon in den ersten Tagen bis zum Milcheinschuss und bis zum Vorliegen des Screeningresultats zu gering ernährt werden. In diesem Fall bietet sich die vorübergehende Nutzung eines Brusternährungssets an. Es ist keinesfalls notwendig, aufgrund des MCAD-Mangels gänzlich auf das Stillen zu verzichten, wichtig ist einzig die Berücksichtigung der maximalen Zeitabstände.
Haben Sie noch einen Tipp, was die Eltern von Anfang an beherzigen sollten?
Im Interesse einer genauen Abklärung der MCAD-Diagnose sollten die Eltern von Anfang an Kopien sämtlicher Befunde für eine eigene Akte verlangen. Ich kann gar nicht stark genug betonen, wie wichtig das ist! Wenn neu betroffene Eltern nach einigen Wochen zu unserer Gruppe finden, fehlen ihnen meist schon die sehr aussagekräftigen Screeningbefunde. Es kommt viel zu oft vor, dass Eltern selbst nach Jahren so gut wie keine Informationen darüber haben, welche Ergebnisse bei den Untersuchungen ihrer Kinder herausgekommen sind, und diese Unwissenheit führt dazu, dass sich die Angst vor dem MCAD-Mangel ganz unnötig lange hält.
Vielen Dank für Ihre wertvollen Erfahrungen, Herr Rohleder!