Auch auf die praktische Geburtshilfe in komplexen Entscheidungssituationen soll der Masterabschluss vorbereiten. Foto: © ZVG Berner Fachhochschule, Fachbereich Gesundheit

In diesem Jahr startet in Bern und Winterthur der erste Masterstudiengang für Hebammen in der deutschsprachigen Schweiz. Das Teilzeitstudium ermöglicht den Erwerb neuer Kompetenzen und bereitet auf die Übernahme innovatiover Berufsrollen vor.

Ein Meilenstein für die Entwicklung des Hebammenberufs in der deutschsprachigen Schweiz: Im September 2017 startet der erste Studiengang Master of Science Hebamme an der Berner Fachhochschule (BFH) und der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW).

Das schweizerische Gesundheitssystem und auch das anderer europäischer Länder stehen vor wachsenden Herausforderungen. Kosteneinsparungen im Gesundheitswesen und die flächendeckende Sicherung der Grundversorgung sind dringende gesundheitspolitische Ziele. Die integrierte Versorgung sowie die interprofessionelle Zusammenarbeit und Koordination zwischen den verschiedenen Gesundheitsberufen ist von großer Bedeutung für die zukünftige geburtshilfliche Versorgung (Bundesamt für Gesundheit/BAG 2013).

Hebammen in einem Masterstudiengang erwerben erweiterte und vertiefte Kompetenzen, um neue Berufsrollen im Rahmen eines Advanced Practice Modells zu übernehmen (Begley et al. 2010; Chief Nursing Officers of England Northern Ireland Scotland and Wales 2010). Das Masterstudium eröffnet Hebammen neue Rollen in interprofessionellen Teams, in Lehre und Forschung sowie in Leadership und Management.

Vertiefte Kompetenzen

Als Fachexpertin setzt sich die Hebamme MSc dafür ein, dass Frauen und Familien nach dem aktuellen Wissensstand und ihren Bedürfnissen entsprechend optimal betreut sind. Sie engagiert sich für die Entwicklung handlungsleitender Empfehlungen und Richtlinien, erarbeitet und implementiert innovative Lösungsansätze und Konzepte. Ein Beispiel dafür ist die hebammengeleitete geburtshilfliche Betreuung wie Evelyne Aubry und Eva Cignacco dies 2015 in ihrem Expertinnenbericht beschreiben (Aubry & Cignacco 2015). Eine solche Betreuung führt zu guten Ergebnissen bei geringerer Interventionsrate, geringeren Kosten und einer höheren Zufriedenheit bei Frauen und Familien (Sandall et al. 2016; Tracy et al. 2013).

Außerdem leitet die Hebamme MSc Qualitätszirkel und unterstützt Kolleginnen in komplexen, ethisch herausfordernden Betreuungssituationen (Begley et al. 2011). Sie kommt in der Rolle als Fachexpertin auch in anspruchsvollen Situationen zum Einsatz, wenn Klientinnen besondere Bedürfnisse hinsichtlich ihrer psychischen, sozialen oder körperlichen Gesundheit haben. Beispielsweise entwickeln, implementieren und evaluieren Hebammen MSc in einem interprofessionellen Team spezialisierte Sprechstunden und Beratungsangebote wie eine Diabetessprechstunde oder ein Betreuungsangebot für Frauen und Familien mit psychischen Erkrankungen.

Als Forscherin oder Dozentin erarbeitet und vermittelt die Hebamme MSc evidenzbasierte Wissensgrundlagen. Sie arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin in Forschungsprojekten und veröffentlicht Ergebnisse in Fachzeitschriften. In der Lehre unterrichtet die Hebamme MSc Bachelorstudierende. Sie vermittelt ihnen forschungsgestützte, praxisorientierte Inhalte, Fähigkeiten und Fertigkeiten zur Betreuung und Versorgung von Frauen, Kindern und Familien während Schwangerschaft, Geburt, Wochenbett und Stillzeit.

In einer Leadershiprolle setzt sich die Hebamme mit einem Masterabschluss dafür ein, die Qualität der perinatalen Betreuung sowie die Arbeitsbedingungen der Kolleginnen zu verbessern. Sie engagiert sich für eine frauen- und familienzentrierte Entwicklung in der Gesundheits- und Bildungspolitik (Eichenberger et al. 2016).

Abbildung 1: Module aus dem Kooperationsstudiengang MSc Pflege

Zugang zu weiteren Abschlüssen

Die angehenden Bachelorhebammen eignen sich in der Schweiz im Grundstudium das theoretische und praktische Wissen an. Der Masterstudiengang führt die akademische Qualifikation im Bereich der Hebammentätigkeit und der geburtshilflichen Versorgung über den ganzen Betreuungsbogen weiter (zu Sayn Wittgenstein 2007). Der konsekutive Masterstudiengang orientiert sich dabei am Beschluss des Schweizer Bundesrates von 2005 zur Umsetzung der Bologna-Deklaration (Bundesamt für Berufsbildung und Technologie 2005). Innerhalb des Bologna-Prozesses wird unter dem Begriff konsekutiv das direkt auf dem Bachelorabschluss aufbauende Masterstudium verstanden. Der Master of Science Hebamme ist international anerkannt und eröffnet den Zugang zu weiterführenden akademischen Abschlüssen.

In der Schweiz ist es üblich, Studiengänge in Kooperation mit mehreren Fachhochschulen und mit anderen Berufsgruppen durchzuführen, um gemeinsame Synergien zu nutzen (Grünig & Dolder 2009). Der Studiengang Master of Science Hebamme wird von der Berner Fachhochschule und der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften gemeinsam angeboten und in Zusammenarbeit mit dem Kooperationsstudiengang MSc in Pflege mit den drei Standorten Bern (BFH), St. Gallen (FHS) und Winterthur (ZHAW) durchgeführt. Um den gesetzlichen Grundlagen in der Schweiz und den Konventionen der internationalen Community in der Bezeichnung des Abschlusses zu entsprechen, wird ein eigener Titel vergeben.

Der Aufbau des Studiums

Theoriegeleitetes sowie handlungsorientiertes Wissen im professionsspezifischen wie auch im interprofessionellen und interdisziplinären Kontext, werden gleichermaßen in den Kompetenzerwerb integriert. Der Masterstudiengang ist ein Teilzeitstudium über sechs Semester im Umfang von 90 ECTS (European Credit Transfer and Accumulation System). Es ist damit möglich, studienbegleitend zu arbeiten oder Familien- und Betreuungsaufgaben wahrzunehmen. Es werden professionsspezifische Module im Umfang von 50 ECTS angeboten, die durch Module des Masterstudiengangs Pflege im Umfang von 40 ECTS ergänzt werden. Die Studierenden erwerben – abgesehen von der Masterthesis – pro Modul 5 ECTS, was mit einem Zeitaufwand von circa 150 Stunden verbunden ist. Während des Studiums besuchen die Studierenden Lehrveranstaltungen in Bern, Winterthur und St. Gallen. Rund ein Drittel der Studienzeit wird in Präsenzveranstaltungen und entsprechend zwei Drittel im Selbststudium absolviert. Der Präsenzunterricht findet jeweils an mehreren aufeinanderfolgenden Tagen pro Woche statt.

Die Studierenden immatrikulieren sich entweder an der BFH oder an der ZHAW und erhalten den Abschluss und Titel Master of Science Hebamme an derjenigen Fachhochschule, an der sie immatrikuliert sind.

Professionsspezifische Module

Die von der BFH und ZHAW gemeinsam angebotenen Inhalte in der geburtshilflichen Versorgung fokussieren

  • auf komplexe perinatale Situationen,
  • auf die geburtshilfliche Versorgung in einer diversifizierten Gesellschaft und
  • auf ein spezialisiertes Wissen im Bereich mütterlicher psychischer Gesundheit.

Die Forschungs- und Transfermodule sowie die Masterthesis bauen auf dem erworbenen Wissen auf und führen zum Abschluss des Studiums.

Geburtshilfe in komplexen Situationen (Childbirth in Complex Situations)

Auf der Basis von bio-psycho-sozialen Problemstellungen entwickeln die Studierenden Szenarien für das fachlich korrekte Handeln und die Kommunikation in der Betreuung von Frauen und Neugeborenen mit Risikofaktoren sowie in Notfallsituationen. Sie diskutieren Prinzipien wie women centred care und shared decision making im Kontext komplexer geburtshilflicher Situationen. Eingebettet in eine theoretische Reflexion über die Physiologie im Spannungsfeld von Medikalisierung, Pathologisierung und Risikoorientierung, analysieren sie Versorgungsmodelle und leiten daraus Maßnahmen für eine frauen- und familienzentrierte interdisziplinäre Gesundheitsversorgung ab.

Diversität in der perinatalen Versorgung (Diversity oriented Midwifery)

Im Studium werden die Auswirkungen von Armut, sozialer Benachteiligung und Migration auf die Versorgung von Frauen, Familien und Neugeborenen diskutiert. Die Studierenden betrachten die Folgen für die bio-psycho-soziale Gesundheit während Schwangerschaft, Geburt, Wochenbett und früher Kindheit auf individueller und gesellschaftlicher Ebene. Sie besprechen und entwickeln familienzentrierte interdisziplinäre Ansätze für Versorgungskonzepte in der Geburtshilfe. Ziel ist es, Benachteiligung in der Gesundheitsversorgung und Forschung zu identifizieren, zu untersuchen und der sozialen Benachteiligung entgegenzuwirken.

Mütterliche psychische Gesundheit (Maternal Mental Health)

Zu einem fundierten Wissen im Bereich der mütterlichen psychischen Gesundheit gehören Inhalte wie die Prävention, sowie das Screening und die Erkennung von mütterlichen psychischen Störungen. Ein Fokus wird dabei auf die Psychopathologie, die Risikoerkennung und das Assessment der mütterlichen psychischen Gesundheit gelegt. Ziel ist außerdem, die Beratungs- und Handlungskompetenz von Hebammen in diesem Bereich zu erweitern, damit bei erkannten Risiko- oder Krankheitszuständen eine rechtzeitige Überweisung der Betroffenen an spezialisierte Dienste erfolgt.

Forschungs-, Transfermodule und Masterthesis

Die Studierenden planen ein studentisches Forschungs- oder Evaluationsprojekt im Rahmen der Forschungsschwerpunkte der jeweiligen Fachhochschule, erarbeiten auf dieser Planungsgrundlage ihre Masterarbeit. Weiter sind Hospitationen in Kliniken, in der Forschung oder in einem anderen Bereich des Gesundheitswesens im In- und Ausland möglich. Die Studierenden werden bei der Organisation der Forschungseinsätze von der jeweiligen Fachhochschule im Rahmen der Möglichkeiten unterstützt. Ziel dabei ist, dass die Hebammen neue Berufsrollen kennenlernen.

Module aus dem Kooperations­studiengang MSc Pflege

Im Kooperationsstudiengang Pflege besuchen die Studierenden folgende Module: Klinische Ethik, Kommunikation, Theorien & Konzepte, Forschungsmethoden I und II, Statistik, Praxiskonzepte und Advanced Practice Nursing.

Die Modulinhalte sind so ausgestaltet, dass die Studierenden Lösungsansätze mit Hilfe von spezifischen ethischen Fragestellungen im gesellschaftlichen und gesundheitspolitischen Kontext entwickeln. Sie lernen erweiterte Techniken der Gesprächsführung oder Strategien der lösungsorientierten Beratung mit Hilfe von Kommunikationstrainerinnen und Schauspielerinnen anzuwenden. Zudem erarbeiten sie verschiedene Verfahren zur Konzept- und Theorieentwicklung. Sie vertiefen ihr methodologisches Wissen, lernen statistische Testverfahren anzuwenden und adressatengerechte Ergebnisse zu präsentieren. Im Modul Advanced Practice Nursing setzen sich die Studierenden mit erweiterten Berufsrollen auseinander und lernen in interprofessioneller Zusammensetzung neue Versorgungsmodelle kennen und reflektieren diese. Dazu wird Wissen zu Leadership und Organisationsentwicklung sowie Change-Management-Prozessen vermittelt.

Weiterqualifikation

Der Masterabschluss bereitet die Absolventinnen für neue Rollen im klinischen und außerklinischen Bereich vor. Zudem ist es möglich, ein Doktoratsstudium an Universitäten im In- und Ausland zu absolvieren oder in die Tätigkeit in einer Lehr- und Forschungsinstitution einzusteigen. Die Berufsfelder können im Anschluss an das Masterstudium weitere Qualifikationen verlangen. Beispielsweise bleibt es den Universitäten vorbehalten, die Zugangsvoraussetzungen für die Aufnahme eines Doktorats zu definieren, wie den Erwerb weiterer ECTS.

Zitiervorlage
Friedli B et al.: Masterabschluss in der Schweiz: Expertin, Forscherin, Dozentin oder Leiterin. DEUTSCHE HEBAMMEN ZEITSCHRIFT 2017. 69 (4): 76–80
Literatur

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