Dass sie nach einer Fehlgeburt Anspruch auf die Begleitung einer Hebamme haben, wissen viele Frauen nicht.
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Es gibt eine neue Leitlinie für den Umgang mit frühen Schwangerschaftsverlusten und die Untersuchung der Plazenta. Die Deutsche Gesellschaft für Hebammenwissenschaft (DGHWi) begrüßt die meisten der Empfehlungen und das dazugehörige Informationsblatt für Betroffene. Ihre Kritikpunkte hätte sie gern schon in der Entwicklung der Leitlinie eingebracht.
Die S2k-Leitlinie »Früher Schwangerschaftsverlust im 1. Trimenon« soll das diagnostische und therapeutische Vorgehen bei Abortformen, Schwangerschaften unklarer Lokalisation und ektoper Gravidität verbessern und vereinheitlichen. Sie stellt die drei möglichen Behandlungsoptionen bei frühen Schwangerschaftsverlusten (FSV) dar und geht im abschließenden Kapitel auch auf die psychischen Aspekte ein. Mit der Leitlinie wurde ebenfalls ein Informationsblatt für betroffene Frauen und Familien veröffentlicht, das auf der Website der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) verfügbar ist (AWMF, 2024).
Umgang mit Plazentagewebe
Eine zentrale Funktion von Leitlinien liegt in der Klärung von Schnittstellen in der Versorgung, insbesondere zwischen verschiedenen Berufsgruppen. Ein Beispiel dafür ist die Schnittstelle zwischen Ärzt:innen und Hebammen auf der einen Seite und Patholog:innen auf der anderen Seite. Die Leitlinie empfiehlt, nach einem FSV das gesamte Gewebe – bestehend aus embryonalem beziehungsweise frühfetalem Gewebe sowie Plazentagewebe – vollständig zur histopathologischen Untersuchung einzusenden, um Erkenntnisse über die Ursache zu gewinnen.
Auch das Informationsblatt für Betroffene weist darauf hin, dass auf Wunsch eine histopathologische Untersuchung durchgeführt werden kann. Möchten Eltern eine Untersuchung auf Fehlbildungen, muss dieser Wunsch schriftlich dokumentiert sein. Begleiten Hebammen einen FSV, gehört es zu ihren Aufgaben, die Eltern über die Möglichkeit und den Ablauf einer histopathologischen Untersuchung zu informieren und deren Wunsch in dieser Hinsicht abzuklären. Falls der Wunsch nach einer histopathologischen Untersuchung besteht, sollten die Eltern darüber informiert werden, wie sie embryonales Gewebe und Plazentagewebe in einem geeigneten, flüssigkeitsdicht verschließbaren Gefäß sammeln und kühlen können. Vor der Einsendung füllt die Hebamme das Gefäß mit Formalin und ergänzt die Dokumentation um die geburtshilfliche Anamnese, bevor sie es zur pathologischen Analyse weiterleitet.
Erstellung der Leitlinie
Anfang März 2023 bestätigte die AWMF die Anmeldung der Leitlinie zum FSV durch die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (DGGG). Die erste Arbeitssitzung fand am 30. Mai 2023 statt. Von Juli bis September 2023 trafen sich die Arbeitsgruppen regelmäßig, zwischen November 2023 und Februar 2024 wurden in Konsensuskonferenzen die Empfehlungen abgestimmt (AWMF, 2024). Im April 2024 wurde die Leitlinie der Fachöffentlichkeit zur Konsultation vorgelegt. Nach Abschluss der Kommentierungsphase prüften die beiden Koordinatoren die eingegangenen Kommentare. Am 7. Juli 2024 wurde der Abstimmungsprozess in der Leitliniengruppe abgeschlossen, gefolgt von der Verabschiedung der finalen Version durch die Vorstände der beteiligten Fachgesellschaften (AWMF, 2024).
Hebammen wurden vom Leitlinienkoordinator nicht als Teil der Anwenderzielgruppe der Leitlinie betrachtet, weshalb die Deutsche Gesellschaft für Hebammenwissenschaft (DGHWi) nicht zur Mitarbeit an der Entwicklung der Leitlinie eingeladen wurde. Dabei sieht § 9, Absatz 4, Satz 1g im Gesetz über das Studium und den Beruf von Hebammen (HebG) ausdrücklich vor, dass das Hebammenstudium dazu befähigen soll, »Frauen und Familien bei Totgeburten und Fehlgeburten sowie bei Abbrüchen von Schwangerschaften nach der zwölften Schwangerschaftswoche zu betreuen und zu begleiten«. Dies spiegelt sich auch in den Berufsordnungen wider, zum Beispiel § 2, Absatz 3, Satz 1g Berufsordnung für Hebammen (HebBO NRW) sowie in der Anlage 1.3 im Vergütungsverzeichnis zum Vertrag nach § 134a SGB V.
Im Herbst 2023 stellte die DGHWi Anfragen an den Leitlinienkoordinator und die AWMF, um ihren Wunsch zur Beteiligung an der Leitlinienentwicklung zu äußern. Diesem Wunsch wurde nicht entsprochen. Die DGHWi beteiligte sich im Frühjahr 2024 an der Kommentierung der Leitlinie. Bei einer zukünftigen Überarbeitung der Leitlinie soll die DGHWi einbezogen werden.
Seitens der DGHWi wurden in der Kommentierungsphase insbesondere die folgenden Punkte an der Leitlinie angemerkt:
Sprachliche Sensibilität
Mehrere Studien zum Erleben bei frühen Schwangerschaftsverlusten (FSV) zeigen, dass betroffene Frauen und Familien die Versorgung als wenig empathisch oder unsensibel empfinden (Freeman et al., 2021; Galeotti et al., 2022). Dies bezieht sich auch auf die Wortwahl und Ausdrucksweise von Fachpersonen, die in diesen sensiblen Situationen eine bedeutende Rolle spielt. Die DGHWi empfahl daher, statt Begriffen wie »ausstoßen« oder »Abortmaterial/Untersuchungsmaterial« sensiblere Formulierungen wie »gebären« sowie »Fruchtblase/Embryo/Fetus/Kind« zu verwenden (DGHWi, 2024). Diese Empfehlungen wurden nicht in die Leitlinie aufgenommen. Da sporadische FSV als physiologischer Prozess zu betrachten sind, wurde auch empfohlen, dass Wording »Patientin« anzupassen (DGHWi, 2024). Dem wurde ebenfalls nicht entsprochen.
Der Name der Leitlinie wurde hingegen im Prozess gewechselt. So wurde die Leitlinie zu Beginn als »S2k-Leitlinie Gestörte Frühgravidität im 1. Trimenon« betitelt. Zur Veröffentlichung erhielt sie den Titel »Früher Schwangerschaftsverlust im 1. Trimenon«. Innerhalb der Leitlinie wechseln die Begriffe Fehlgeburt, Schwangerschaftsverlust und Abort.
» Begleiten Hebammen einen frühen Schwangerschaftsverlust, gehört es zu ihren Aufgaben, die Eltern über die Möglichkeit einer histopathologischen Untersuchung zu informieren. «
Versorgung durch Hebammen
Insbesondere für Frauen, die sich bei einem frühen Schwangerschaftsverlust für ein abwartendes oder medikamentöses Vorgehen entscheiden, stehen in Deutschland häufig keine ausreichenden Versorgungsstrukturen im ambulanten ärztlichen Bereich zur Verfügung, um eine kontinuierliche Betreuung und Begleitung sicherzustellen. Hebammen bilden daher eine wichtige und niederschwellige Ressource, die bei Bedarf mit medizinischen und psychosozialen Kompetenzen auf der Primärversorgungsebene unterstützen können – auch im häuslichen Umfeld.
In der Leitlinie sollte darauf hingewiesen werden, dass Frauen über die Möglichkeit einer Hebammenbegleitung informiert werden sollen (DGHWi, 2024). Im Vorwort wurde ein allgemeiner Hinweis ergänzt: »Betroffene Frauen haben vor, während und nach einer Fehlgeburt Anspruch auf die Begleitung durch eine Hebamme.« (AWMF, 2024) An mehreren anderen Stellen in der Leitlinie wurde diesem Vorschlag nicht gefolgt und sich ausschließlich auf ärztliche Fachpersonen bezogen. Im Infoblatt wird an mehreren Stellen auf die Möglichkeit von Hebammenhilfe hingewiesen.
Drei Behandlungsoptionen
Im Vereinigten Königreich wird als First-Line-Management das abwartende Vorgehen empfohlen. Darüber hinaus können medikamentöse und chirurgische Maßnahmen in Betracht gezogen werden, wenn sie indiziert oder gewünscht sind (NICE, 2023). Die gynäkologische Fachgesellschaft ACOG in den USA empfiehlt, dass betroffene Frauen über alle drei Möglichkeiten umfassend informiert werden sollten, also das abwartende, medikamentöse und operatives Vorgehen: »… offer the full range of therapeutic options to patients, including expectant, medical, and surgical management« (ACOG, 2021).
In der deutschen Leitlinie werden grundsätzlich alle drei Methoden als Optionen dargestellt (AWMF, 2024). Dies wird sehr begrüßt und stellt auch eine deutliche Änderung im Vergleich zur aktuellen Praxis da. Jedoch gibt es auch sprachliche Abstufungen. So lautet die Empfehlung in Kapitel 3.2.2 beispielsweise: »Beim exspektativen Vorgehen sollte eine dokumentierte Risikoaufklärung der Patientin gegenüber operativem und medikamentösem Vorgehen erfolgen.« Eine vergleichbare Empfehlung für die anderen beiden Behandlungsarten fehlt jedoch. Es wird hingegen darauf hingewiesen, dass »bei jedem (exspektativen, medikamentösen oder operativen) Vorgehen eine Risikoaufklärung erfolgen sollte«. Zudem wird in der deutschen Version festgehalten, dass »Patientinnen mit einer Fehlgeburt nach Ausschluss von Kontraindikationen auch das abwartende Vorgehen angeboten werden sollte.« (AWMF, 2024, S. 82).
Eine Gleichstellung aller drei Optionen wäre aus Sicht der DGHWi an dieser Stelle wünschenswert (DGHWi, 2024). Darüber hinaus sollten auch nicht medikamentöse Maßnahmen zur Schmerzlinderung erläutert und angeboten werden.
Psychosoziale Aspekte
Am Ende der Leitlinie findet sich ein Kapitel zur psychologischen Begleitung, die aus der Perspektive betroffener Frauen einen bedeutenden Teil der Versorgung einnimmt (Freeman et al., 2021; Galeotti et al., 2022). Dieses Kapitel behandelt unter anderem den professionellen Umgang mit Trauerreaktionen, geht auf vulnerable Gruppen ein und gibt eine Kann-Empfehlung für ein Screening auf depressive Symptome mit dem PHQ-2. Es geht auch auf Abschiedsrituale und Unterstützungsangebote ein. Dies ist sehr zu begrüßen. Es wäre jedoch wünschenswert, die psychologische Begleitung in die anderen Kapitel zum Behandlungsprozess zu integrieren, statt sie ans Ende der Leitlinie zu stellen.