Das Unsprechbare sagen, heißt transparent machen, was tatsächlich stattfindet. Foto: © imago/westend61

Wie spricht man über ein Geschehen, das mit dem größten Tabu menschlicher Gemeinschaften verbunden ist, dem Töten? Wie über eine Praxis sprechen, bei der sich alle Beteiligten schlecht fühlen? Über Situationen, in denen über Leben und Tod, Tun oder Lassen entschieden wird? 

Im Kontext des späten Schwangerschaftsabbruchs geschieht viel, über das nicht gesprochen wird in der Öffentlichkeit, nicht von den betroffenen Eltern und teilweise auch nicht von den beteiligten Berufsgruppen. In geschützten Situationen bahnt sich dieses Ungesprochene seinen Weg. In der Aus- und Fortbildung von Hebammen erlebe ich immer wieder, wie erschütternd diese Erfahrungen sind; darunter Geschehnisse, die keinesfalls öffentlich werden sollen, weil der gesetzliche Rahmen weit überschritten wurde.

Was trägt uns, wenn es dunkel wird? Rituale können Halt geben, auch standardisierte Vorgaben und strukturierte Abläufe. Sie können aber nicht über die Abgründe hinweg tragen. Die Zerrissenheiten bleiben. Die Begleitenden nehmen sie mit nach Hause, denn diese Erfahrungen brauchen einen Raum. Bestimmte Szenen werden sie über viele Jahre erinnern, einige nie vergessen.

Ringen um Worte

Wie schwer es ist, über Unsagbares zu sprechen, wurde den Redakteurinnen auch bei der Arbeit an dieser Ausgabe bewusst. Das Ringen um Worte, die dem Agieren in einem ethischen Dilemma gerecht werden können, die Herausforderung, über etwas zu sprechen, das zutiefst berührt und als berufliche Aufgabe hart an der Grenze der Überforderung und des Erträglichen erlebt wird, spiegelt sich auch in den Texten der Autorinnen. Wie umgehen mit einem tabuisierten Thema, in das man selbst als AkteurIn oder als Begleitende involviert ist: Wie viel soll oder darf ich sagen? Wer öffentlich spricht, redet ungeschützt, macht sich angreifbar.

Mit Worten erschaffen wir uns und unsere Welt. Was wir aussprechen, hat eine andere Realität, als wenn wir es nur denken – für uns und für die anderen. In tabuisierten Lebensbereichen geben die Wahl der Worte, ebenso wie das nicht Gesagte wichtige Auskünfte. Viele Informationen finden sich in den Lücken, dort, wo es keine Worte gibt. Warum zum Beispiel taucht das Wort „Fetozid“ im Kontext des § 218 nicht auf?

Was nicht gesprochen wird, bleibt im tabuisierten Bereich. Das nicht aussprechbare traumatische Geschehen wird in der Seele verschlossen, wo es weiter wirkt und auf andere Weisen seinen Ausdruck findet, zum Beispiel bei den betroffenen Frauen als posttraumatische Belastungsstörung nach einem späten Schwangerschaftsabbruch.

Ambivalenzen aushalten

Worte für das Unaussprechbare finden, um sich dadurch wieder in der Wirklichkeit zu verankern, das Geschehene anerkennen und das gesamte Spektrum der Gefühle zulassen, sind wichtige Schritte – sowohl bei der Entscheidungsfindung als auch bei der Verarbeitung eines traumatischen Ereignisses auf Seiten der Eltern. Ebenso wichtig ist dies aber auch für die Begleitenden. Nur wenn sie in der Lage sind, sich mit den emotionalen und ethischen Dimensionen des Geschehens zu verbinden, werden sie die Eltern angemessen begleiten können.

Das Schwere, Bedrückende, Belastende und die Ambivalenzen aussprechen heißt, diese Wirklichkeit zulassen und das gesamte Spektrum der Emotionen zu fühlen – Trauer und Wut, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit; das Gefühl, dass das eigene Leben in diesem Moment zu Ende wäre, dass man nie mehr glücklich sein könnte. Das Dilemma des Entscheiden-müssens oder eine tiefe Trauer im Nachhinein über die getroffene Entscheidung ist nicht alleine auszuhalten. Es braucht das Gegenüber, einen Menschen, der zuhört, auffängt, hält, der nicht wertet, sondern einfach da ist und den Raum zur Verfügung stellt, in dem all das gespürt werden darf und das Unfassbare Wirklichkeit werden kann. Der Raum, in dem nach einem Schwangerschaftsabbruch über Zweifel, dunkle Seiten und Abgründe der Seele gesprochen werden darf; wo ein Weg beginnt, auf dem der große Schmerz ausgedrückt und schließlich Verantwortung übernommen werden kann. Das Unaussprechliche sagbar machen, heißt auch, über Schuld und Verantwortung sprechen zu können. Die Bereitschaft, hierfür offen zu sein, können wir den Eltern in dieser Situation schenken – die Möglichkeit, sich suchend vorzutasten, zu verwerfen und wieder neu zu suchen. Nicht alles muss gesagt werden, wir sollten aber für alles offen sein.

Brüche benennen

Ein Dilemma zeichnet sich dadurch aus, dass es keine Lösungen gibt. Wir können dies nur anerkennen, uns dazu bekennen – zu den Ambivalenzen, Brüchen und Widersprüchen, die zu einem Leben als Menschen gehören. Aber wir müssen sie benennen, um nicht verrückt zu werden. Wir müssen das Unsprechbare sagen, eine Sprache finden, um es zu begreifen und es als Handelnde zu uns zu nehmen. Im Kontext des späten Schwangerschaftsabbruchs befinden sich die Handelnden in einem komplexen ethischen Konfliktfeld, bei dem es um existenzielle Entscheidungen geht, die die Biografien nachhaltig beeinflussen. In diesem brüchigen Feld treffen die Eltern ihre Entscheidungen, agieren die Begleitenden. Sie alle tragen Verantwortung.

Es gibt viel Bemühen um Formen, dem Dilemma und der Verantwortung gerecht zu werden, beispielsweise durch klinikinterne Ethikkommissionen oder Beraterinnen, die es sich zum Ziel gesetzt haben, nicht nur psycho-sozial, sondern auch gen-ethisch zu beraten. Sie sprechen mit den Eltern über ihre Werte, weil sie davon ausgehen, dass eine Werteneutralität im Kontext von PND nicht möglich ist.

Das Unsprechbare sagen, heißt auch, dafür zu streiten, dass es gesetzliche Regelungen gibt, die transparent machen, was tatsächlich stattfindet. Für Statistiken, die die Wirklichkeit abbilden. Als wissende ZeugInnen des Geschehens ist es unsere Pflicht, Fragen zu stellen und Transparenz zu fordern, damit wir überhaupt wissen können, worüber zu sprechen ist.

  • Wie kann es sein, dass die offizielle Statistik zu späten Abbrüchen so weit von der Wirklichkeit entfernt ist?
  • Warum wird das nicht strenger überprüft?
  • Wer kontrolliert die Zahl der in einer Klinik vorgenommenen späten Schwangerschaftsabbrüche?
  • Wie kann es sein, dass Kinder nach späten Schwangerschaftsabbrüchen als Fehl- oder als Totgeburt gemeldet werden?
  • Warum kommt der Fetozid im Gesetz nicht vor?
  • Warum werden die pränatalen Diagnosen bei den späten Schwangerschaftsabbrüchen nicht erfasst?
  • Darf es sein, dass der Gesetzgeber bei Veränderungs- und Nachbesserungsvorschlägen immer nur abwehrt mit dem Verweis, dass man den § 218 nicht anfassen sollte?
  • Sollte es eine zeitliche Begrenzung des späten Schwangerschaftsabbruchs geben, weil nach dem Wegfall der embryopathischen Indikation die Ausweitung der sogenannten „medizinisch-sozialen“ Indikation immer wieder zu Grenzüberschreitungen führt?
  • Warum kann ein Fetozid straffrei durchgeführt werden, obwohl er den Artikel 10 der UN-Behindertenrechtskonvention unterläuft, wonach dies eine Diskriminierung von Menschen darstellt?
  • Wo sind die Grenzen dessen, was man als eine ethisch-verantwortliche Entscheidung bezeichnen kann?

Es darf nicht sein, dass über alltägliche Grenzüberschreitungen nur in Nischen gesprochen wird. Das Unsagbare sprechbar machen, heißt auch, den Gesetzgeber nicht aus der Verantwortlichkeit zu entlassen.

Glaubwürdig bleiben

Als Berufsgruppe sind Hebammen direkt involviert in ein Grenzen überschreitendes, ethisch hoch konfliktbehaftetes Geschehen. Es ist unsere Aufgabe, niemals aufzuhören, darüber zu sprechen – untereinander, mit den Eltern, im interprofessionellen Team in den Kliniken, in der Ausbildung der beteiligten Fachkräfte und in der Öffentlichkeit. Es ist unsere Verantwortung als Wissende, Beteiligte und Betroffene, den gesellschaftlichen Diskurs mitzuprägen. Wir sind es uns selbst schuldig, unseren Werten und denen, für die wir Sorge tragen – damit wir glaubwürdig bleiben.

Zitiervorlage
Ensel A: Unsprechbares sagen. DEUTSCHE HEBAMMEN ZEITSCHRIFT 2016. 68 (2): 26–27
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