Foto: © semainedelacritique.com
Es begab sich zu einer Zeit, als nur getaufte Kinder auf einem Kirchhof begraben werden konnten, als Stillgeborene keinen Namen erhielten, kein Teil der Gemeinde wurden und niemals die Gnade Gottes erfahren konnten. Aus dieser Zeit stammt die Tradition, tote Kinder scheinbar erneut zum Leben zu erwecken, um sie taufen und anschließend begraben zu können.
Wir befinden uns auf einer Insel in Italien im Jahr 1900. Eine junge Schwangere wird verschleiert an den Strand gebracht, von der Dorfgemeinde begleitet. Dort schneidet eine alte Dame mit einem Messer in ihre Hand und murmelt ein Gebet, um Unglück abzuwenden. Sie gebiert ihr Kind dennoch still.
Eine der Frauen versucht noch vergeblich das Kind zu reanimieren. Während die Frau im Wochenbett liegt, begräbt ihr Mann das Kind ungetauft im Wald. Wenige Tage später wird ein alter Herr der Gemeinde mit einem starken Ritual zu Grabe getragen. Der Priester spricht davon, dass seine Seele nun gerettet und im Hause des Herrn angekommen sei. All dies wird dem stillgeborenen Kind verweigert, obwohl es in seinem vorgeburtlichen Leben niemals gefehlt haben kann. Auf Nachfrage der Mutter verweigert der Priester die Taufe mit der Begründung, dass Kinder, die keinen Atemzug getan haben, keinen Namen erhalten können.
Während der trauernde Vater sich der täglichen Arbeit zuwendet, erhält die trauernde Mutter den Hinweis, dass es eine Kirche hoch in den Alpen gibt, in der Kinder zum Leben erweckt werden können. Ihr ist schon klar, dass dieses Kind nicht leben wird, aber die Chance auf eine christliche Taufe bestehen könnte.
Die Frau gräbt nachts ihr Kind aus und begibt sich mit dem Sarg auf dem Rücken auf den Weg. Auf diesem Weg hat sie nicht nur mit den körperlichen Herausforderungen einer frischen Wöchnerin zu kämpfen, sondern auch damit, dass sie ihr Insel-Universum nie zuvor verlassen hat, dass Wegelagerer sie bedrohen, Frauen ihr unterwegs nicht uneigennützig helfen und ihr mit auf den Weg geben: »Dein Körper wird es vergessen! Und deine Seele auch!«
Hebammen wissen, dass das nicht stimmt. Und doch konnte in einer Zeit, als die Sterblichkeit bei Neugeborenen bis zu 20 % betrug, nicht jedem stillgeborenen Kind die gleiche Aufmerksamkeit zugestanden werden wie heute. Es gehörte zu einem Frauenleben dazu.
Rituale sind in allen Bereichen jeder Gesellschaft – und nicht nur in der Religion – zu finden. Sie sind stereotype und häufig wiederholte Verhaltensweisen, die für alle Betroffenen eine bestimmte Bedeutung haben. Machtvolle Rituale finden sich in vielen Kulturen vor allem bei den Statusübergängen im Verlauf eines menschlichen Lebens, die oft als problematisch eingeschätzt werden – so auch bei Schwangerschaft und Geburt. Die meist als Feiern inszenierten Rituale kanalisieren die Gefühle, indem sie die Ängste mindern und Sicherheit geben. Nicht alle Praktiken sind für unser heutiges Verständnis noch vorstellbar.
Die im Film »Piccolo Corpo« thematisierte Praxis der mittelalterlichen Wallfahrt ist für mehrere Orte in Europa durch archäologische und historische Funde wissenschaftlich belegt.
Der Wallfahrtsort Oberbüren in der Schweiz erlangte im Mittelalter überregionalen Ruhm. Dank eines wundertätigen Marienbildes in der Wallfahrtskirche konnten Tausende von totgeborenen Kindern angeblich wieder zum Leben erweckt werden. Die Frauen hielten ihre Kinder unterhalb des Bildes über glühende Kohlen oder Kerzen und die warme Luft umstrich den Körper der Kinder.
»Dem warm gewordenen todten Kinde oder der Frühgeburt wird eine ganz leichte Feder über die Lippen gelegt und wenn die Feder zufällig durch die Luft oder die Wärme der Kohlen von den Lippen wegbewegt wird, so erklären die Weiber, die Kinder und Frühgeburten atmeten und lebten und sofort lassen sie dieselben taufen unter Glockengeläute und Lobgesängen«, so wird Bischof Otto von Sonnenberg in einem Brief (zwischen 1481 und 1491) an den damaligen Papst zitiert.
Die ungewöhnlich vielen Früh- und Neugeborenen im Kirchhof sind der Beleg eines Bestattungsbrauchtums für diese wiedererweckten und nach der Taufe alsbald wieder gestorbenen Kinder. Die Ausrichtung und auch die Körperhaltung der Kinder in ihren Grabstellen galten als Beleg, dass sie als Getaufte begraben wurden (Ulrich-Bochsler 1998).
Der Grund, sich aus der dörflichen Gemeinschaft in diese oft entlegenen Wallfahrtsorte zu begeben, war größer als die Mühsal, dorthin zu gelangen. Die Seele des Kindes wäre ohne Taufe unfähig, zur Ruhe zu kommen und hätte sie heimsuchen können.
Mit der Einführung der Reformation im 16. Jahrhundert wurde die Taufe nicht mehr als notwendig für die Rettung der Seele des Kindes angesehen. In Oberbüren wurde die Wallfahrtskirche 1528 konsequenterweise abgerissen, um diesem »Aberglauben« ein Ende zu setzen. Dennoch war damit das Bedürfnis, auch stillgeborene Kinder zu taufen, nicht aus der Welt. Noch lange wurden ungetaufte Kinder heimlich unter der Traufe, dem Dachvorsprung von Kirchen begraben, damit sie vom herabrinnenden Regenwasser getauft würden. In Oberbüren verweist heute das Kunstwerk »Die Feder« von Gunter Frentzel auf den Platz, wo einst die Kirche stand.
Bis heute ist es eine christliche Tradition, sterbenden Neugeborenen eine Nottaufe zu gewähren (siehe auch Köhler & Hoffmann, DHZ 4/2015). Jüdische Kinder werden auch nach ihrem Tod noch getauft (siehe Baumel, DHZ 05/2017).
Viele Szenen des Films sind mit einer Handkamera gefilmt, die das Gefühl verstärkten, direkt in den Situationen anwesend zu sein. Neben der Tragik, den kleinen Sarg ihres toten Kindes auf dem Rücken zu transportieren, wird einmal mehr klar, dass es nicht ungefährlich war zu reisen. Ebenso wie die Hilfe derjenigen, die in der Nähe der Wallfahrtsorte wohnten, eben nicht gratis war, sondern sich zum Geschäftsmodell entwickelt hatte.
Der Film »Piccolo Corpo« ist der erste Film der Regisseurin Laura Samani und hatte seine Premiere am 13. September 2021 im kanadischen Toronto. Er ist eine italienisch-slowenisch-französische Koproduktion. Die deutsche Premiere fand am 8. Oktober 2021 beim Hamburger Filmfest statt. Ein sehenswerter Film für Hebammen!
Baumel Ch: Stille Geburt im Judentum: In Gottes Händen. Deutsche Hebammen Zeitschrift 2017. 5: 63–64
Köhler S, Hoffmann H: Die Nottaufe. Deutsche Hebammen Zeitschrift 2015. 4: 48