Die Kinderpathologin widerspricht
Um 11.15 Uhr geht es weiter – inzwischen haben sich auch die Sachverständigen eingefunden. Die beiden Kinderpatholog:innen: Dr. Helga Göcke aus Bonn, seit fünf Jahren im Ruhestand, und Prof. Dr. Ivo Leuschner aus Kiel – sie von der Verteidigung gestellt, er vom Gericht bestellt. Außerdem der Dortmunder Gerichtsmediziner Dr. Ralf Zweihoff sowie der Geburtshelfer Prof. Dr. Axel Feige aus Nürnberg, als ehemaliger Chefarzt ebenfalls im Ruhestand. Der Vorsitzende bittet Dr. Göcke, ihre fachlichen Ausführungen in Grundzügen zu wiederholen, er sei beim letzten Mal abgelenkt gewesen. Die Ärztin setzt zu einem detaillierten Vortrag an (siehe DHZ 10/2013). Die besondere Form des Herzens sei ihr aufgefallen, berichtet sie beispielsweise, die Herzspitze habe eine Doppelung aufgewiesen. Sie habe eine Anomalie bei einem Gefäß am Herzen festgestellt, die im Obduktionsbericht nicht erwähnt gewesen sei. Sie widerspricht Einschätzungen der anderen Gutachter, wonach alle Organe des kleinen Mädchens regelrecht entwickelt gewesen seien. Auch dass manche Untersuchungen nicht durchgeführt worden seien, die sie für erforderlich halte, kritisiert sie – ebenso, dass Befunde von kleineren Abweichungen fehlten. »Auch diskrete Veränderungen müssen dokumentiert werden«, fordert sie – Dr. Zweihoff habe mangelhaft gearbeitet. Auf die Lungenanlage geht sie ausführlicher ein, die nach ihrer Einschätzung zu wenig Substrat enthalten und damit eine Organschwäche aufgewiesen habe. Deshalb habe sie sich bei der Reanimation nicht entfalten können, so dass das Kind nach 26 Minuten gestorben sei. »Ich kann nur darauf hinweisen, dass im Gutachten steht: überwiegend Atelektasen mit keinem Nachweis entzündlicher Infiltrate«, bremst der Vorsitzende ihre weiteren Ausführungen zur Lunge und fragt: »Warum ist das im Gutachten nicht rausgekommen?« »Weil Dr. Zweihoff das nicht kann«, entgegnet die Kinderpathologin kritisch: »Sie müssen eine Menge Schnitte machen, um das zu beurteilen.« Zweihoff hatte nur drei oder vier histologische Befunde der Lunge erhoben.
Ihre Vermutung sei, dass das Kind an einer seltenen genetischen Erkrankung gelitten habe. Sie erklärt: »Ich muss eine Ausschlussdiagnostik machen. Darf ich mir die Bilder ansehen? Wo liegen die Brustwarzen?« Der Vorsitzende lädt sie nach vorne ein und legt ihr Aufnahmen der Kriminalpolizei vom damaligen »Tatort« vor. Sie sieht ihre Vermutung bestätigt und erklärt dem Richter genau, wo sie die Mamille des Kindes erwarten würde und wo sie sie stattdessen auf der Fotografie vorfinde. »Das sind alle Bilder?«, fragt sie nach. »Ja, die sind von der Polizei gefertigt worden«, erklärt ihr der Vorsitzende. »Keines von Pathologen?«, fragt sie weiter und dann verbindlicher: »Ich freue mich sehr, dass es wenigstens ein Bild vom Kind gibt.« Das Krankheitsbild, das sie als Diagnose vermute, nenne sich »asphyxierende Thoraxdysplasie«. »Es wäre hilfreich gewesen, wenn man ein Röntgenbild gehabt hätte«, bemängelt sie. »Haben Sie Fotos der Organe, Herr Richter Meyer – darf ich mir die angucken?«, bittet sie. »Wir haben Zweifel… woher wissen Sie, dass Sie dieselben Organe vorgelegt bekommen haben?«, fragt der Vorsitzende skeptisch. Die Kinderpathologin antwortet: »Nun kommt man ja nicht gerade leicht an Organe von Feten.« Die »asphyxierende Thoraxdysplasie« werde autosomal-rezessiv vererbt und sei sehr selten – mit einer Häufigkeit von 1 zu 70.000, in Deutschland 9 Fälle pro Jahr. Sie habe in 35 Berufsjahren 6 Kinder mit einer solchen Erkrankung obduziert, die bei der Geburt verstorben seien – teilweise nach einem Kaiserschnitt.
Als der Richter seine Vernehmung beendet hat, fragt Oberstaatsanwältin Susanne Ruland, wie der Kontakt mit der Angeklagten zustande gekommen sei. Dr. Göcke beschreibt, wie Dr. Eldering, den sie beruflich lange kennt, sie am Karfreitag angerufen habe. Sie sei zwar nicht mehr tätig, stelle ihre Kenntnisse aber zur Verfügung, habe sie angeboten. Die hier angeklagte Ärztin und Hebamme habe sie am 10. Mai erstmalig in Bonn getroffen. »Hatten Sie da schon Schriftstücke?«, möchte die Oberstaatsanwältin wissen. An dem Tag noch nicht, erklärt Göcke. Sie habe dann alle Gutachten eingesehen und dann das Obduktionsprotokoll von Dr. Zweihoff und ein Blatt aus dem Gutachten des Neuropathologen mit nach Hause genommen. Am folgenden Wochenende habe sie sich mit den Befunden auseinandergesetzt.
»Jetzt wird es Zeit, dass ich Ihnen zeige, wie ich das mache«, wendet sich die Pathologin dem Richter zu und zeigt ihm eine Tabelle: In einer Spalte stehen die Normwerte, in einer anderen die erhobenen Befunde und in einer weiteren das Ausmaß der Abweichungen von der mittleren Perzentile. »So verschaffe ich mir den ersten Überblick.« In diesem Fall mit den Werten des verstorbenen Mädchens, die sie den Gutachten entnommen habe.
Die Oberstaatsanwältin möchte diese Details nicht wissen, sondern ob sie gewusst habe, dass sich Organe im Besitz der Ärztin und Hebamme befänden. »Zu dem Zeitpunkt noch nicht«, antwortet sie und geht ihren Terminkalender durch. Sie habe am 23. Mai einen Brief von der Ärztin und Hebamme erhalten. Am 28. Mai habe sie Prof. Dr. Lilie ihre Einschätzung zur Todesursache, zu den Grund- und Nebenleiden nach Aktenlage mitgeteilt. Am 3. Juni habe Rechtsanwalt Sendowski sie informiert, dass sie zu den nächsten Prozessterminen nicht zu kommen brauche. Am 8. Juli habe man sich in Bonn getroffen. »Da habe ich zum ersten Mal die Organe gesehen«, gibt die Kinderpathologin an. »Ihnen wurde gesagt, das sind die Organe«, betont Ruland und erkundigt sich: »Ist Ihnen bekannt gewesen, dass im Tiefkühlfach der Angeklagten ein Paket mit Organen mit der Aufschrift ›giftig‹ vorhanden war?« »Ich habe vorgeschlagen, dass wir das Genitale und den Darm für Fotografien nicht mehr brauchen…«, beginnt die Pathologin die Sachlage zu erklären. Doch die erregte Oberstaatsanwältin unterbricht in scharfem Ton, sie habe dies in der Vernehmung am 5. September nicht ausgesagt, das sei also eine Falschaussage gewesen. »Jetzt möchte ich die Protokollantin bitten…«, versucht Dr. Göcke die damalige Befragung zu rekonstruieren. Auch der Vorsitzende Richter pflichtet der Oberstaatsanwältin streng bei: »Sie müssen die richtigen Antworten geben.« »Das lasse ich nicht gelten, Herr Richter Meyer!«, wehrt sich Dr. Göcke entschieden. »Sie haben unvollständig ausgesagt«, maßregelt der die Gutachterin. »Sie haben mich gar nicht ausreden lassen! Wenn ich an dem Tag noch hätte weiter sprechen dürfen…« Es entwickelt sich ein Wortgefecht.
»Wie ist es dann weitergegangen?«, fragt die Oberstaatsanwältin schließlich: »Weitere Aktenstücke haben Sie nicht gesehen?« Am 30. August habe sich die Hebamme und Ärztin mit ihr und Rechtsanwalt Sendowski in Bonn verabredet. Dort seien ihr das Gutachten von Prof. Dr. Leuschner, zwei Blätter des Notarztprotokolls und die Fotokopie eines Briefes über die Plazenta übergeben worden.
Die Oberstaatsanwältin spricht noch einmal die Organe im Tiefkühlfach an. Dr. Göcke berichtet, am Abend des 8. Juli habe sie die Organe aufgeteilt – das eine seien Gewebeteile gewesen, die für weitere Untersuchungen nicht benötigt worden seien. Die anderen Gewebe habe sie für den Transport zur Uniklinik nach Bonn in sechs kleinere Gläser umgefüllt. »Warum haben Sie die Organe nicht selbst untersucht?« fragt die Oberstaatsanwältin. »Weil ich kein eigenes Labor mehr habe«, erklärt Dr. Göcke. »Sind Ihres Wissens die Organe in Bonn angekommen?«, wird sie gefragt. Sie sei Zeugin gewesen, wie die Ärztin und Hebamme mit der Kinderpathologin Frau Prof. Müller in Bonn telefoniert habe. »Es wurde dabei vereinbart, dass sie die Untersuchung vornimmt.« »Wie kommt es, dass Sie immer so hoch- emotional engagiert sind?«, möchte die Oberstaatsanwältin wissen. »In diesem Fall, weil ich der Auffassung bin, dass Kinder das schwächste Glied in unserer Gesellschaft sind. Es ist mir unerträglich, dass den Eltern die Trauerarbeit verweigert wird«, begründet die 70-Jährige ihren Einsatz, die Todesursache herauszufinden. Auf die Frage des Vorsitzenden, warum sie die Organe nicht an das gerichtsmedizinische Institut übergeben habe, antwortet sie: »Ich habe gewusst, dass die Organe durch die Hände des Gerichtsmediziners gegangen waren. Welche Gründe hätte ich gehabt, sie an die Gerichtsmedizin zurück zugeben? Sie hatten dort alle Möglichkeiten gehabt.«
Als Prof. Dr. Feige beginnt, der Gutachterin Fragen zu stellen, wendet sich die Oberstaatsanwältin gereizt an den Vorsitzenden: »Der zeichnet da immer noch!« Der Gerichtszeichner muss ihm alle Skizzen vorlegen. »Frau Oberstaatsanwältin, es gibt tatsächlich keine weitere Ausführung«, beruhigt Meyer. Nur die erste Zeichnung vom Morgen, wo ihre Figur im Umriss angedeutet ist, erbittet Meyer höflich, um sie zu vernichten. Mit einigen Fragen von Prof. Dr. Feige – Prof. Dr. Leuschner und Dr. Zweihoff verzichten auf Fragen – ist die Vernehmung von Dr. Göcke gegen 13.20 Uhr abgeschlossen.