Vom 16. bis 20. August fand online der 20. Kongress der International Society for Research on Human Milk and Lactation (ISRHML) statt (> www.isrhml.com). Die Tagung war ursprünglich schon im Jahr zuvor als Präsenzveranstaltung in Stockholm geplant, wurde aufgrund der Pandemie aber verschoben. Schließlich wurde sie aufgrund der weltweit eingeschränkten Reisemöglichkeiten als »Live online«-Kongress abgehalten. Dieser wurde in englischer Sprache aus der schwedischen Stadt Umeå übertragen, überwiegend moderiert von den beiden Co-Organisatoren: Prof. Dr. med. Magnus Domellöf, der als Neonatologe die Kinderklinik an der Universität Umeå leitet und daneben zu Kinderernährung forscht, sowie Prof. Dr. Berthold Koletzko, Seniorprofessor für Kinderheilkunde und Leiter der Abteilung Stoffwechsel- und Ernährungsmedizin am Dr. vom Haunerschen Kinderspital der Universität München. Koletzko ist Präsident der ISHRML und wurde im August 2021 als führender »Word Expert« in der Muttermilchforschung ausgezeichnet.
Award für die Erforschung einer Lipase
Domellöf und Koletzko verliehen gleich zu Beginn den ISRHML Macy-György-Award, einen Preis, der benannt wurde nach der Chemikerin Icie Gertrude Macy-Hoobler (1892–1984) und dem im Dritten Reich aus Deutschland vertriebenen Kinderarzt und Ernährungswissenschaftler Paul György (1893–1976). Beide waren Pioniere der Muttermilchforschung, die viele Wissenschaftler:innen inspirierten. György kreierte etwa den Begriff des Bifidofaktors als Wachstumsfaktor für Bifidobakterien in der Muttermilch und identifizierte 1950 Oligosaccharide in dieser Rolle.
Der diesjährige Award ging an den Kinderarzt Prof. Olle Hernell, MD PhD, emeritierter Professor der Klinischen Forschung in der Kinderheilkunde an der Universität Umeå. Zur Vorgeschichte: Hernell konnte bereits in den 1970er Jahren zeigen, dass die Muttermilch gleich zwei verschiedene fettspaltende Enzyme, sogenannte Lipasen, mitliefert, die Triglyceride spalten. Diese Triglyceride bilden den Hauptbestandteil der Milchkügelchen und liefern mit 40–60 % die Hauptenergie für den Säugling. Eine der beiden Lipasen befindet sich hauptsächlich im fettfreien Anteil der Milch (Skim Milk) und wird im Körper des Neugeborenen durch Gallensalze stimuliert (Bile Salt-stimulated Lipase/BSSL). Die andere Lipase befindet sich hauptsächlich in der fettreichen Milch (Cream). Sie wird durch Gallensalze gehemmt, aber durch Serum stimuliert. Hernell stellte noch eine weitere Lipase vor, das Pancreatic Lipase-Related Protein (PLROP2), die einen synergistischen Effekt mit BSSL hat und Fett so zerlegt, dass der Körper es aufnehmen kann. Später im Laufe seiner Forschung entdeckte er, dass sich BSSL auch im Blut befindet und eine wichtige Rolle bei Entzündungen spielt. Er begann, mit einem Antikörper zu experimentieren, der im kommenden Jahr in klinischen Studien getestet wird. Für diese Forschung, die im Grunde nicht mehr direkt mit der Muttermilch zu tun hat, bekam er nun den Preis. Denn sie könnte zu einer alternativen Behandlung für Kinder mit der Autoimmunerkrankung einer juvenilen idiopathischen Arthritis führen.
Ein ISRHML-Preis für Nachwuchswissenschaftler, der Ehrlich-Koldovsky-Award, ging an die junge Forscherin Bridget E. Young, PhD, CLC. Als Assistant Professor an der University of Rochester School of Medicine & Dentistry, New York, befasste sie sich mit Markern von oxidativem Stress in der Muttermilch bei Übergewicht der Mutter sowie mit der Zusammensetzung der Hormone in der Milch bei Diabetes Typ 2.
Deep Learning
Hernells Arbeit macht deutlich, dass ein langer Atem in der Forschung nötig ist – wie mehrfach auf dem Kongress betont wurde. Für den Kongress selbst brauchte man auch etwas von diesem Atem. Fünf Tage lang von 14.30 bis 20.20 Uhr – das günstigste Zeitfenster für die meisten Teilnehmer:innen in den verschiedenen Zeitzonen – gab es ein volles Programm mit nur kurzen Pausen zum Thema Inhaltsstoffe in der Muttermilch. Dieses erlaubte einen globalen Blick auf Studien sowie auf Projekte und Politik rund um das Stillen. Schon beim ersten Blick auf das Programm und bei den ersten Vorträgen kam einem angesichts der Tabellen von Mengenangaben zu Inhaltsstoffen, die weltweit erfasst und verglichen werden, die Künstliche-Intelligenz-Forschung (KI-Forschung) in den Sinn. Für das Verständnis von immer größer werdenden statistischen Größen wird sich immer häufiger des »Deep Learning« bedient. Letzteres nutzt neuronale Netze, um große Datensätze zu analysieren. Diese Methode scheint angesichts der explodierenden Datenmengen in der zunehmenden Milchforschung notwendig zu sein. In einer Art »Deep Thinking« fragte ich mich, wie man selbst alles aufnehmen, bewerten und sinnvoll nutzen könnte. Da auch Hebammen, zu deren Handwerk immer originär die Stillberatung gehörte, die Ergebnisse dieser weltweiten Community teilen sollten, schien es sinnvoll, sich auf dieses alle zwei Jahre stattfindende Mammut-Event einzulassen. Die Laktationsforschung ist ein verhältnismäßig junger eigener Forschungszweig, der sich in den 1980er Jahren etabliert und inzwischen viele Institute hervorgebracht hat. Es gibt verschiedene Beweggründe für die Forschung: ein besseres physiologisches Verständnis, um etwa Muttermilch durch eine andere Ernährung oder Einnahme von Nahrungsergänzungsmitteln auf Seiten der Mutter zu »tunen«, aber auch zur Optimierung von Formula oder Fortifier, mit denen Muttermilch beispielsweise für Frühgeborene ergänzt wird.
Milk Data
Tatsächlich erklärte bereits am ersten Tag des Kongresses Dr. Meghan Azad, Associate Professor of Pediatrics and Child Health in Kanada, dass für die Milchforschung inzwischen Machine Learning auf jeden Fall dazu gehöre. Dabei werden Daten transfomiert und zusammenhängende Muster erstellt, was die Interpretation vereinfacht. Azad machte deutlich, mit welcher Manpower in einigen Instituten der USA die Forschung vorangetrieben werde: Als Co-Direktorin des Interdisziplinären Laktationszentrums (MILC) in Manitoba leitet sie das neue International Milk Composition (IMiC) Consortium. Die Forschung im Azad Lab wird von den Canadian Institutes of Health Research, der Canada Foundation for Innovation und der Bill & Melinda Gates Foundation finanziert. Mit ihrer Arbeit untersucht Azad etwa, wie die Inhaltsstoffe miteinander agieren und welches die Determinanten für die globale und individuelle Variationsbreite der Zusammensetzung der Muttermilch sind. Faktoren auf Seiten der Mutter sind beispielsweise Ernährung, Infektionen, Stress, genetische Veranlagung, Kontrazeptiva, Alter und Mikrobiom.
Von 2019 bis 2023 wird in einer von Azad geleiteten großen Studie untersucht, wie Muttermilch von außen beeinflusst werden kann und damit den Bauplan (Blueprint) des Kindes bestimmt. Vier Länder sind involviert mit unterschiedlichen Kohorten: In Kanada werden gesunde am Termin geborene Kinder eingeschlossen, in Burkina Faso, Tansania und Pakistan sind es Kinder, die selbst oder deren Mütter in der Schwangerschaft oder Stillzeit jeweils unterschiedliche Nahrungsergänzungsmittel, Probiotika und Antibiotika erhalten haben.
Bewertet werden sollen etwa das Größenwachstum des Kindes sowie dessen Hirnwachstum, Darmgesundheit und Entwicklung der Immunabwehr.
Ernährung, Schutz, Kommunikation
Am dritten Tag gab es zum »Machine Learning« in der Muttermilchforschung einen erhellenden Vortrag von Prof. Dr. med. Lars Bode, ehemals in seiner Heimat Deutschland tätig als Biochemiker, der nun als Stiftungsprofessor den Bereich Collaborative Human Milk Research an der Universität von Kalifornien in San Diego leitet. Sein Vortrag hieß: »Omic´s and Machine Learning Tools to understand the Mother-Milk-Infant Triade”. Er erläuterte den Umgang mit Datenmassen und machte in seinem Vortrag klar, dass KI für deren Interpretation sehr helfen könnte. Zunächst erklärte er, dass die Bioaktivstoffe in der Milch viel mehr seien als die Summe der Einzelstoffe. Vielmehr bildeten sie ein variables ineinandergreifendes biologisches System, das für Ernährung, Schutz und Kommunikation sorge. Das wiederum sei Teil eines Systems der sich gegenseitig beeinflussenden Triade von Mutter, Milch und Kind.
Um dieses System besser zu verstehen, bedienten sich Wissenschaftler:innen in ihren Studien verschiedener Methoden: Laboranalysen (In-vitro-Modelle), Tierversuche (In-Vivo-Modelle), Kohortenstudien mit Menschen rund um die Mutter-Kind-Triade und Interventionsstudien. Genutzt würden dabei auch alle »Omics-Technologien«: Genomics, Transcriptiomics, Proteomics, Metabolomics, Glycomics und HMOmics.
Die Menge der sich dabei ergebenden Daten könne man sich besser vorstellen, wenn man bedenke, dass es allein über 150 verschiedene Oligosaccharide in der Muttermilch gebe. Dazu kämen die vielen Bakterienarten, die einem großen Zoo ähnelten. Die Analysemethoden für die Charakterisierung und Quantifizierung würden immer detaillierter und umfangreicher, so dass eine Interpretation der Big Data sehr aufwendig sei, um Vorhersagen zu ermöglichen und Entscheidungen treffen zu können, so Bode. Für die Sinnfindung ziehe er inzwischen Mathematiker:innen und Computerwissenschaftler:innen hinzu, die aus allen gesammelten Daten holistische Modelle und sogenannte Ergebnis-Korrelations-Netzwerke (Outcomes Correlation Networks) erstellen.
Dabei werde die Topologie ausgewertet, die Anordnung und Vernetzung der Neuronen in diesem Netzwerk. So erlange man Vergleichsmaßstäbe (Benchmarks) für die Evaluation von Algorithmen. Man könne nun alle möglichen Werte von Milchinhaltsstoffen, Lebensumständen, Krankheiten mit dem Kopfumfang von Säuglingen einer bestimmten Kohorte ins Verhältnis setzen. Solche Analysen kosten viel Geld und brauchen Unterstützer:innen. Bodes Stiftungsprofessur wird finanziert von der Larsson-Rosenquist Foundation (Familienstiftung der Gründer:innen der Firma Medela). Zugleich ist er Direktor von deren Mother-Milk-Infant Center of Research Excellence. Bode sagte deutlich, dass die Erforschung der Muttermilch ein Marathon und kein Sprint sei. Und es sei nötig, dafür eine gemeinsame Sprache aller beteiligten Sparten zu finden.
MILQ Study
Eine der Studien mit besonders großen Kollektiven ist die Mother, Infants and Lactation Quality Study (MILQ), die seit 2016 läuft. Sie wird von Lindsay H. Allen, PhD, geleitet, die im Western Human Nutrition Research Center (WHNRC) an der Universität von Kalifornien in Davis tätig ist. In vier Ländern, nämlich Bangladesch, Brasilien, Dänemark und Gambia, sitzen ihre Teams und sammeln Daten zu den Inhaltsstoffen der Milch von gut genährten Frauen in den ersten drei Monaten post partum. Die Bill & Melinda Gates Foundation unterstützt das Projekt. Es wurden bereits 4.000 Muttermilchproben gesammelt. Analysiert wurden die Menge der Vitamine sowie deren Vorstufen, die Menge der Makromineralien und über 40 Spurenelemente.
Allen stellte fest, dass es zwischen den vier Ländern große Unterschiede bei den Milchinhaltsstoffen gebe. Doch lägen die Mengen häufig unterhalb des bisher angenommenen physiologischen Grenzwertes. Die Forscherin möchte allgemeingültige Referenzwerte finden und interessiert sich für wirksame Interventionen zur Erhöhung niedriger Konzentrationen in der Milch. Was sie in dem Zusammenhang festhielt: Die Vitamine B1, B2, B6, B12, C, A, D, E, K sowie Cholin, Jod und Selen könnten von Ernährung und Nahrungsergänzungsmitteln beeinflusst werden. Folsäure, Calcium, Eisen, Kupfer und Zink könnten dagegen nicht dadurch beeinflusst werden.
Allen betont insbesondere die weltweit hohe Prävalenz von Vitamin-B12-Mangel, dessen negative Folgen und die Reaktion auf nahrungsmittelbasierte und ergänzende Interventionen. Die Expertin verwendet neuartige Methoden, um die Vitamin-B12-Absorption und die funktionellen Auswirkungen der B12-Supplementierung zu messen. Allen erklärte, dass ihre »MILQ-Studie« Ende des Jahres beendet sei und dann die nur ein halbes Jahr dauernde EMILQ-Studie beginne. Letztere befasse sich ausschließlich mit den Milchinhaltsstoffen im ersten Lebensmonat.
Kelley Baumgartel, PhD RN, Präsidentin der Non-Profit-Organisation Human Milk Science Institute & Biobank, untersuchte am College of Nursing der University of South Florida den zirkadianen Rhythmus der Muttermilch in Bezug auf Produkte des Stoffwechsels. Sie forscht daran, ob und wie der zirkadiane Rhythmus die Milchzusammensetzung verändert und wie sich dies auf den Säugling auswirkt. Sie fand heraus, dass tagsüber eher die Aminosäuren Lysine und Arginine in der Milch zu finden seien und nachts eher das schlaffördernde Tryptophan.
An der anderen Seite der Welt, an der University of Western Australia, befasst sich Prof. Donna Geddes, Leiterin der Geddes Hartmann Human Lactation Research Group, zeitgleich damit, welche Inhaltsstoffe innerhalb von 24 Stunden im Tagesverlauf variieren: Dazu gehörten beispielsweise Fett und Proteine – auch Corticosteroide bei Stress.
Ökonomie und Politik
Am Ende des Milch-Marathons freute man sich noch über eine Hebamme aus Deutschland: Wibke Jonas, die derzeit als Associate Professor am Department of Women‘s and Children‘s Health am Karolinska-Institut in Stockholm arbeitet. Sie moderierte die Session zum Thema Breastfeeding and Society. In dieser Sitzung sprach etwa die Ökonomin Anne Ardial Brenø. Sie befasst sich am Center for Economics of Breastfeeding der Universität Zürich damit, wie sich Lebensbedingungen in der Kindheit auf das Humankapital auswirken, also auf die Summe der Kompetenzen und Kenntnisse. Ein besonderes Augenmerk richtet sie dabei auf die Rolle des Stillen, was generell als wichtiger Faktor für das Humankapital betrachtet werden könne, da sich Muttermilch positiv auf die Gehirnentwicklung auswirke. Brenø betrachtet Stillen als Investition und betonte, dass sie als Ökonomin generell kausale Evidenz benötige, um das Verhältnis von Kosten (etwa für die Ausbildung von professionellen Stillunterstützer:innen) gegenüber dem Nutzen (etwa auf lange Sicht gesündere Kinder und Mütter sowie eine bessere Schulbildung) eindeutig zu berechnen. In Bezug auf das Stillen erklärte sie, dass es schwierig sei, eindeutige Kausalitäten herzustellen.
Jonas stellte die Frage, wie groß denn der Effekt sein müsse, um Stillen als ökonomisch günstig einzustufen. Immerhin sei es ja auch möglich nachzuweisen, dass etwa Aspirin bei einer flächendeckenden Einnahme zu einer niedrigeren Herzinfarktrate in der Population führen würde. Doch Brenø betonte erneut, wie schwierig es sei, eine Kausalität in ökonomischer Hinsicht herzustellen. Man müsse eben unterscheiden, ob man das Outcome des Stillens mit dem Outcome nach Milchersatznahrung vergleiche, die mit schmutzigem Wasser zubereitet sei, oder ob man sie vergleiche mit hochwertiger Formula in Industrieländern. Denn zwischen Stillen und guter Formula gebe es keine einfach darzustellenden Unterschiede in der langfristigen Gesundheit der Kinder. Der Benefit dieses Vortrages erschloss sich nicht so leicht.
In der von Jonas betreuten Session sprach auch Laurence Grummer-Strawn, PhD, Leiter des Departments of Nutrition and Food Safety bei der WHO in Genf. Er koordiniert weltweit Projekte rund um die Ernährung von Kindern. Und erhofft sich in vielen Ländern mehr Unterstützung von der Gesundheitspolitik und eine bessere Ausbildung der beteiligten Berufsgruppen.
Er wünschte sich, dass der Internationale Code zur Vermarktung von Formula voll implementiert werde, und er ermunterte zu einer idealisierenden Bildersprache, um das Stillen noch besser zu fördern. Er ging in jeder Hinsicht eindeutig von einem großen Nutzen des Stillens aus – für Mutter und Kind gleichermaßen.