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Überall in Europa laufen Prozesse gegen Hebammen. Ihnen werden Verstöße gegen Richtlinien, Kunstfehler, Totschlag und sogar Mord vorgeworfen – auch wenn sie eindeutig auf Wunsch der werdenden Eltern und auf der Basis derzeit geltender Evidenz gehandelt haben. Die 3. Human Rights in Childbirth Konferenz im belgischen Blankenberge hat zwei gegensätzlichen Denkmodelle in der europäischen Rechtsprechung offenbart.

Die junge Frau hält das Mikrofon mit beiden Händen umschlungen, wie um einen Halt zu finden. „Die Eltern hatten die vorgesehen Ultraschalluntersuchungen gemacht – nichts deutete darauf hin, dass dem Kind etwas fehlte. Es war eine schnelle und unkomplizierte Hausgeburt. So schnell, dass weder ich noch die Hebamme vor Ort waren. Ich kam erst zwei Stunden nach der Geburt hinzu; die Hebamme war kurz vor mir eingetroffen. Etwas schien nicht in Ordnung zu sein mit dem Kind. Ich bat die Hebamme, sich das Kind genauer anzusehen und sie verlegte es in die Klinik. Dort ist es sechs Stunden nach der Geburt gestorben – wegen einer unterentwickelten Lunge, sagen die Pathologen.” Die Frau ist Doula – eine der geburtserfahrenen Frauen, die anderen Gebärenden zur Seite stehen, um sie emotional durch Geburt und Wochenbett zu begleiten. Die Portugiesin erzählt ihre Geschichte auf der 3. Human Rights in Childbirth Konferenz (HRiC) im November 2013 in Blankenberge.

Doulas beanspruchen keine Kompetenz als medizinisches Fachpersonal, ihre Unterstützung ist rein emotional. Und dennoch: „Im Mai wurde ich von einer Journalistin informiert, dass gegen mich Ermittlungen laufen würden. Wegen Mordes. Mord an einem Kind, bei dessen Geburt ich nicht anwesend war.” Hausgeburten sind nicht üblich in Portugal, aber die Eltern hatten sich auch gegen Widerstand aus der eigenen Familie für diesen Geburtsort entschieden. Der Großvater des verstorbenen Kindes ist Arzt und führt seit dem Tod des Enkelkindes in den portugiesischen Medien einen Feldzug gegen die Hausgeburtshilfe. Er hat auch die Anklage erhoben. Bis heute werden die Ermittlungen in dem Fall fortgeführt. Die junge Doula weiß nicht, ob sie in einigen Jahren noch in Freiheit sein wird.

Kein Einzelfall in Europa

Auf der 3. Human Rights in Childbirth Konferenz war die Geschichte kein Einzelfall:

Eine britische Hebamme wurde jahrelang durch die britische Hebammenkammer Nursing and Midwifery Council für Geburten sanktioniert, bei denen sie lediglich zweite Hebamme war – während die erste Hebamme nicht belangt wurde, bevor die Anklage im Juni 2013 fallengelassen wurde. Die Hebamme wartet immer noch auf Rehabilitierung.

Eine niederländische Hebamme wurde von der Inspectie voor Gezondheidszorg, der niederländischen Aufsichtsbehörde für Gesundheitsberufe, offiziell verwarnt. Sie hatte einer mit Zwillingen Schwangeren ihre Unterstützung nicht verweigert. Zwillingshausgeburten sind in den Niederlanden nicht illegal, zudem wurden die Kinder gar nicht außerklinisch geboren. Aber die Richtlinien dort sehen vor, diese Frauen an einen Arzt zu überweisen. Die betreute Frau hatte die Überweisung aber abgelehnt und die Hebamme hatte sie ihren Wünschen entsprechend weiter betreut. Doch was gilt mehr: die Wünsche der Frau oder die Richtlinien?

Eine irische Hebamme wurde 15 Jahre lang immer wieder durch die irische Kammer oder auch formal-juristisch belangt, obwohl sie keinen einzigen kritischen Geburtsausgang für Mutter oder Kind in ihrer Bilanz hat. Die Eltern hatten sich für Hausgeburten mit ihrer Unterstützung entschieden, was in Irland nicht illegal war. Die Hebamme hatte sich in ihrer Betreuung nicht an klinische Leitlinien gehalten, sondern die Frauen individuell betreut und sich dabei beispielsweise nicht an Zeitvorgaben für den Geburtsfortschritt gehalten.

Eine tschechische Hebamme wurde zu einer Hausgeburt gerufen und traf zehn Minuten vor der raschen Geburt eines toten Kindes ein. Das Gericht machte sie für den Tod des Kindes mit der Begründung verantwortlich, sie hänge „alternativen Geburtspraktiken” an. Die Schwangerschaft war physiologisch verlaufen und das Kind wurde in der 39. Woche geboren. Im selben Jahr wurden in tschechischen Kliniken 24 Babys in derselben Schwangerschaftswoche nach ebenfalls unauffälligen Schwangerschaften tot geboren, ohne dass dies laut Informationen von Human Rights in Childbirth Untersuchungen oder Anklagen für die beteiligten GeburtshelferInnen nach sich gezogen hätte.

Diese Geschichten sind keine Ausnahmen: „Uns erreichen jeden Tag neue Fälle. GeburtshelferInnen werden überall für Entscheidungen und Entwicklungen zur Verantwortung gezogen, die nicht in ihre Kompetenz fallen”, sagt die US-amerikanische Anwältin Hermine Hayes-Klein, Veranstalterin der Tagung und Gründerin von Human Rights in Childbirth (HRiC), einer international agierenden Nicht-Regierungs-Organisation.

Die Gebärende entscheidet

Die Frage nach der letztendlichen Verantwortung bewegte die TeilnehmerInnen der belgischen Tagung: Wer hat die letzte Entscheidungsgewalt bei der Geburt? Trägt nur der Geburtshelfer beziehungsweise die Geburtshelferin die Verantwortung für das Wohlergehen des Babys?

Nach Ansicht der VeranstalterInnen, der AnwältInnen von HRiC, hat ein Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte diese Fragen 2010 im Urteil „Ternovsky gegen Ungarn” beantwortet: Es ist die gebärende Frau. Sie ist letztlich die Entscheidungsträgerin rund um die Geburt (siehe Seite 14ff.). GeburtshelferInnen und anderes medizinisches Personal können und müssen fachlich kompetent beraten, informieren, aufklären, genau wie es im aktuellen deutschen Patientenrecht vorgesehen ist. Aber die Entscheidungshoheit nach gründlicher Besprechung mit den von ihr gewählten DienstleisterInnen hat die Frau.

Die AnwältInnen von Human Rights in Childbirth nutzen das Ternovsky-Urteil auch im Fall der portugiesischen Doula: Der Europäische Gerichtshofs für Menschenrechte hat entschieden, dass europäische Staaten das Recht der Gebärenden auf eine freie Wahl des Geburtsortes und der Geburtsbegleitung zu wahren und zu garantieren haben. Laut Einschätzung der AnwältInnen von HRiC bedeutet dies andersherum: Die Rechte der Gebärenden werden unrechtmäßig eingeschränkt, wenn GeburtshelferInnen dafür sanktioniert werden können, dass sie Frauen bei der Ausübung ihres freien Willens unterstützen. Genau dies sei aber bei der Doula und den genannten Hebammen der Fall.

In all diesen Fällen ging es nicht um sogenannte Kunstfehler. Hermine Hayes-Klein präzisiert: „Geburtshelfer müssen für von ihnen begangene Fehler Rechtfertigung ablegen und haftbar sein. Aber doch nicht für die autonom und informiert getroffenen Entscheidungen anderer Leute! Wir müssen uns davon verabschieden, den Geburtshelfer für alle möglichen unerwünschten Vorfälle bei der Geburt verantwortlich zu machen: Geburt ist nicht sicherer als das Leben selbst. Auch wenn die moderne Überwachungsmedizin uns etwas anderes glauben macht: 100 Prozent Sicherheit gibt es nicht, nirgendwo.”

Kunstfehler, medizinischer Vorwand oder Folter?

Doch der laut Hayes-Klein zu ahndende Bereich der Kunstfehler ist nicht so eindeutig: In Griechenland wurde im Februar 2013 eine Hebamme in erster Instanz zu sechs Monaten Haft sowie drei Jahren Berufsverbot verurteilt. Die von ihr betreute Frau hatte eine Dammverletzung zweiten Grades erlitten, die von der Hebamme versorgt worden war. Als sie zwei Monate nach der Geburt Schmerzen während des Geschlechtsverkehrs hatte, verklagte sie die Hebamme, nach Rücksprache mit ihrem Gynäkologen und dem griechischen Hebammenverband. Sie waren der Meinung, die Schmerzen seien durch die unsachgemäße Wundversorgung beziehungsweise den ungenügenden Dammschutz von der Hebamme verursacht worden. Ein Kunstfehler also? Erst das Berufungsgericht sprach die Hebamme im November 2013 frei: Schmerzen beim Geschlechtsverkehr acht Wochen nach einer Entbindung seien nicht der Fehlversorgung durch die Hebamme anzulasten, sondern als durchaus normal anzusehen. Eine Fehlversorgung konnte nicht festgestellt werden.

Die gleiche Hebamme sowie 79 betroffene Eltern mussten sich 2013 auch in einem anderen Fall vor Gericht verantworten: Die Hebamme hatte nach Hausgeburten den Eltern die Plazenta überlassen und diese konnten bei der Anmeldung der Geburt das entsprechende Formular über die sachgemäße Entsorgung des Organs nicht beibringen. Die Anklage gegen die Eltern lautete auf Urkundenfälschung. Die Anklage gegen die Hebamme: Verklappung von gefährlichem medizinischem Sondermüll. Ist die Hebamme für die sachgemäße Entsorgung des Materials verantwortlich? Ja, das ist sie im Prinzip, entschied das Gericht – aber die für Krankenhäuser wegen Infektionsschutz geltenden Entsorgungsrichtlinien seien nicht auf Hausgeburten anzuwenden. Denn die Gefahr, einen Dritten zu infizieren, sei im häuslichen Kontext signifikant geringer und die Plazenta gehöre darüber hinaus der Mutter. Das Formular sei bei der Anmeldung der Geburt demnach nicht anzubringen. Am 10. Januar dieses Jahres, nach zwölf Monaten der Untersuchungen und der sozialen wie beruflichen Unsicherheit, wurde die Anklage als gegenstandslos fallen gelassen – sowohl gegen die Eltern als auch gegen die Hebamme.

Die griechische Hebamme hatte das grundlegende medizinische Postulat des „primum non nocere” beachtet: „Zuerst einmal nicht schaden”. Dieses Prinzip wird allerdings nach Einschätzung von HRiC allzu oft unter dem Vorwand der medizinischen Notwendigkeit missachtet. Derzeit sind einige Fälle vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zugelassen, in denen Frauen gegen ihre Länder wegen erlittener Interventionen und eines systematischen Verstoßes gegen eben jenes non-nocere-Prinzip klagen.

Einige der Klägerinnen waren auf der Konferenz anwesend und stellten ihre Fälle vor: Eine Italienerin ging vor Gericht, weil sie gegen ihren ausdrücklichen Willen eine Episiotomie erlitten hatte. Ihre Klage wurde in Italien mit der Begründung abgewiesen, der durchführende Arzt habe sicherlich zum Wohle des Kindes gehandelt, und dass eine Gebärende mit derartigen Interventionen zu rechnen habe, wenn sie sich zur Geburt begebe. Die Frau hatte sich während der Schwangerschaft ausführlich informiert und explizit nach einem Krankenhaus gesucht, das sie nicht schneiden würde. Sie war zur Entbindung in genau diese Einrichtung gegangen, weil ihr zugesichert wurde, dass keine Episiotomie durchgeführt werden würde. Aber ihr Damm wurde geschnitten: mehrfach und dazu noch ohne Anästhesie in der Wehenpause.

Eine Slowakin mit vorausgehendem Kaiserschnitt klagte wegen eines gegen ihren Einspruch gewaltsam durchgeführten Kristellermanövers, bei dem es zu deutlichen Hämatomen auf der Bauchdecke kam. Ihre slowakischen Anwälte bereiten derzeit außerdem eine Eingabe unter Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention vor, der sich auf den Tatbestand der Folter bezieht. Sie sind überzeugt: „Was mit den Frauen in der Slowakei routinemäßig während der Geburt geschieht, ist in der Tat Folter.”

Eine Irin klagte gegen das irische Gesundheitsministerium, weil ihr eine Hausgeburt nach Kaiserschnitt verwehrt wurde, obwohl sie in die niedrigste Risikokategorie eingestuft und ihr dies auch von renommierten Gynäkologen attestiert worden war. Anders als in Deutschland ist das Personenstandsrecht des Kindes allerdings in der irischen Verfassung von der Empfängnis an verbürgt. Das führt dazu, dass in Irland die Persönlichkeitsrechte des Kindes gegen die der Mutter aufgerechnet werden – bislang immer zu Gunsten des Kindes und keineswegs auf medizinischer Evidenz basierend. In Straßburg soll nun entschieden werden, inwiefern dies der europäischen Gesetzgebung entspricht. Wohlgemerkt: In allen diesen Fällen klagen die Frauen nicht gegen einzelne Dienstleister, sondern gegen übergeordnete Institutionen beziehungsweise systemische, nicht-evidenzbasierte Maßnahmen.

Absurde Anklagen

Bei den genannten Verfahren gegen Geburtshelferinnen waren nicht die betroffenen Eltern die Initiatoren der Beschwerde. Eine Ausnahme stellt hierfür lediglich der Fall der griechischen Hebamme dar – aber auch dort war die griechische Hebammenvereinigung an der Erhebung der Anklage beteiligt, im Fall der unsachgemäßen Plazentaversorgung sogar federführend.
Somit lassen sich zwei unterschiedliche Prozessarten unterscheiden: Zum einen werden disziplinarische Maßnahmen von Aufsichtsbehörden gegen die Geburtshelferinnen angestrengt, wie beispielsweise im Fall der Britin, der Irin oder der Niederländerin. Dies ist in Ländern möglich, in denen das Hebammenwesen in einer Art Kammerwesen organisiert ist, das eigenständig disziplinarische Maßnahmen durchführen kann. In anderen europäischen Ländern und auch in Deutschland ist dies so nicht möglich: Bei vermuteten Arztfehlern können die Schiedsstellen der Ärztekammern der Länder eingeschaltet werden, bei Hebammenfehlern gibt es eigentlich nur die zivilrechtliche oder die strafrechtliche Variante.

Auch in Deutschland läuft derzeit ein strafrechtlicher Prozess gegen eine Geburtshelferin (siehe auch DHZ 3, 4, 5, 6, 8, 10 und 11/2013 sowie DHZ 1/2014 und Seite 62ff.). Auch hier lautet die Anklage auf Totschlag, ähnlich wie in Portugal und Tschechien. Totschlag bedeutet, dass der Angeklagten vorgeworfen wird, willentlich und wissentlich den Tod verursacht zu haben. Bei Mord kommt noch das heimtückische und niedere Motiv hinzu. Schaut man sich die genannten Prozesse genauer an, mag gegebenenfalls unterlassene Hilfeleistung oder Fahrlässigkeit zutreffen, aber die Anklagen auf Mord oder Totschlag sind geradezu absurd: Die Portugiesin war zur Geburt gar nicht anwesend. In Tschechien verlief die Geburt sehr rasch nach völlig unauffälliger Schwangerschaft. Im deutschen Fall widersprechen sich die GutachterInnen: Ein Fachgutachten beschreibt massive, angeborene Organschäden, während der vom Gericht bestellte Hauptgutachter von der Verantwortung und somit Schuld der Angeklagten überzeugt ist. Somit steht Aussage gegen Aussage. Gilt nicht der Grundsatz: In dubio pro reo? Im Zweifel für die Angeklagte?

Dr. Jette Aaroe Clausen, Dozentin für Hebammenwissenschaft an der Universität Kopenhagen und Co-Autorin eines 2013 erschienenen Cochrane Reviews (Olsen& Clausen 2013), bemängelt im persönlichen Gespräch die Qualität der gerichtlichen Gutachten im Allgemeinen, nicht nur im Fall der deutschen Anklage (wo das Wort „Übertragung” für eine Schwangerschaft benutzt wird, die nach maximaler Berechnung ET+13 war und im gleichen Gutachten auch als eventuell ET+8 bezeichnet wird). Die Gutachter, meist angesehene Chefärzte mit Professorentitel, seien oft nicht auf dem neuesten wissenschaftlichen Stand, sondern beurteilten aufgrund ihrer eigenen, langjährigen Erfahrung, so Clausen weiter im Gespräch. Laut Rebecca Dekker, Wissenschaftlerin bei EvidenceBasedBirth, einer Internetseite, die Frauen und ihren Familien evidenz-basierte Informationen in verständlicher Form zur Verfügung stellen möchte, haben diese vermeintlichen Autoritäten „Schwierigkeiten, neue klinische Erkenntnisse anzuwenden; aus unterschiedlichen Gründen: Sie sind nicht informiert; sie glauben den Erkenntnissen nicht; sie ziehen die gegenwärtigen Praktiken vor; sie trauen sich eine Veränderung nicht zu oder sie wollen ihre Gewohnheiten nicht ändern.” (Dekker 2014) Diese aus langjähriger Erfahrung entwickelte Gewohnheit, die „gute klinische Praxis”, ist letztlich eine persönliche Meinung. Sie ist laut internationalen wissenschaftlichen Standards nur die unterste Evidenzklasse und gilt als nicht sehr zuverlässig. Trotz dieser Faktenlage fordern die Gerichte keine höherklassigen evidenzbasierten Gutachten, sondern räumen den GutachterInnen scheinbar allein aufgrund ihrer langjährigen Praxis eine große Autorität ein. Hinzu kommt noch, dass die Expertise nicht differenziert wird. Im Fall der Tschechin, im deutschen Fall und auch im international bekanntesten Fall, dem von Ágnes Geréb, wurden vom Gericht nur Gutachter der klinischen Geburtshilfe angefordert. Hier gelten aber andere Standards als für die außerklinische Geburtshilfe – wohlgemerkt, ohne dass diese zu schlechteren Ergebnissen führte (Loytved & Wenzlafff 2007).

Zwei Denkmodelle

In den Prozessen wurden außerklinische ExpertInnen entweder erst gar nicht herangezogen oder nicht beachtet, sondern als unverantwortliche Sonderlinge abgetan. Eine amerikanische Doktorarbeit hat dieses Phänomen untersucht. Cyd C. Ropp kam zu dem Ergebnis, dass hier zwei eklatant unterschiedliche Wissenssysteme aufeinandertreffen: das gesellschaftlich prägende technokratisch-medizinische Modell und das holistische Modell (Davis-Floyd & Cheyney 2009). Das eine zeichnet sich durch den Glauben an einen regelgeleiteten Rationalismus und die Überlegenheit der Technik aus, das andere durch den Glauben an achtsame Abwägung und das grundsätzliche Vertrauen in den weiblichen Körper. Während die AnhängerInnen des einen glauben, dass das Fehlen universeller Standards zu anarchischem Handeln führt, sind die anderen davon überzeugt, dass ein starres Regelwerk keinen Raum lässt, die individuell beste Lösung für die gegebene Situation zu finden. Erstere sind der Meinung, dass der Arzt als Autoritätsperson und Experte zu entscheiden hat, wie eine Geburt ablaufen darf. Letztere sehen sich als Begleiter und Partner der Eltern, als Werkzeuge, um deren Wünsche und Vorstellungen zu realisieren, wo immer möglich (Ropp 2013). Durch die Hegemonie des technokratisch-medizinischen Modells besteht in der Gesellschaft ein grundlegendes Unverständnis gegenüber dem alternativen Wissensmodell. Die beschriebenen Rechtsfälle sind ein anschauliches Beispiel dafür.

Problematisch wird es, wenn das Rechtssystem die Mündigkeit des Individuums höher ansiedelt als das starre Festhalten an Richtlinien und medizinischen Protokollen – die handelnden JuristInnen aber Teil eines technokratischen Wissensmodells sind: Sie können von ihrer Prägung her gar nicht anders, als nur den professoralen „Ikonen” Glauben zu schenken. Es stellt sich die Frage, warum die oben genannten GeburtshelferInnen überhaupt mit Anklagen auf Totschlag und Mord konfrontiert sind. Fahrlässige Tötung oder unangemessene Risikoaufklärung erscheinen hier das juristische Maximum zu sein. Denn laut Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte, unter Bezug auf den Artikel 8 der europäischen Menschenrechtkonvention („Recht auf Privatsphäre”), ist die Frau die Entscheiderin. Vorausgesetzt, es erfolgte eine gründliche und fundierte Aufklärung über die Risiken. Warum sind dann die Eltern als mündige Entscheider nicht Teil der Untersuchungen? Warum werden Eltern nicht wegen beispielsweise Totschlag oder Fahrlässigkeit angeklagt? Warum gibt es noch nicht mal juristische Untersuchungen in ihre Richtung? Warum sind die Entscheidungsfindung und die Verantwortung für das eigene Handeln kein Thema? Es scheint juristisch zu kurz gedacht, die Verantwortung allein den GeburtshelferInnen aufzubürden.

Bemerkenswert ist auch, dass die beschriebenen Fälle der GeburtshelferInnen außerklinische Geburten betreffen – die Fälle hingegen, in denen die Mütter die Klägerinnen sind, Geburten in klinischen Kontexten.

Die Frau scheint, trotz anderslautender Rechtslage, in unserer Rechtssprechung immer noch Objekt zu sein. Einerseits ist sie der egoistische Geist, vor dessen leichtsinnigen Entscheidungen das Kind durch externe Autoritäten geschützt werden müsse – wie im Falle der Wahl einer außerklinischen Geburt. Andererseits wird sie als ein Behälter betrachtet, der mit der pauschalen Begründung des Kindswohles ungefragt und selbstverständlich beziehungsweise auch gegen ein klares „Nein!” verletzt wird.

Der Wert des Selbstbestimmungsrechtes der Frau spielt für die Zukunft der Geburtshilfe eine zentrale Rolle. Zu hoffen bleibt, dass die noch ausstehenden Urteile des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte die derzeitige Tendenz der Rechtslage im Sinne der Selbstbestimmung der Frau, den Ort und die Umstände der Geburt ihres Kindes wählen zu können, weiter bestärkt. Auf die Umsetzung in der alltäglichen Rechtssprechung werden wir vermutlich noch so lange warten müssen, bis sich auch in den Köpfen der agierenden JuristInnen und GutachterInnen ein Wertewandel vollzogen hat.

Vorgestellt

Human Rights in Childbirth (HRiC) ist eine internationale Nicht-Regierungsorganisation. Sie wurde nach der ersten Konferenz zum Thema „Menschenrechte unter der Geburt”, die 2012 in Den Haag stattfand, von der US-amerikanischen Anwältin Hermine Hayes-Klein gegründet. Die Aufgabe der Organisation ist es, die grundlegenden Menschenrechte schwangerer und gebärender Frauen weltweit zu klären, zu schützen und zu stärken.

Die Arbeit von HRiC beruht auf drei Säulen:

Vernetzung: Menschen, die sich für die Rechte der Gebärenden vor Ort und die Umsetzung dieser Rechte einsetzen, finden über HRiC internationale Unterstützung.

Information: Die AktivistInnen sammeln legale, politische und wissenschaftliche Belege und geben diese Informationen an Familien, DienstleisterInnen und AnwältInnen weiter.

Veränderung: Mit der Unterstützung von Betroffenen und juristischen BeraterInnen, Pressearbeit sowie durch Einflussnahme auf politische und juristische EntscheiderInnen werden die Rechte der schwangeren und gebärenden Frauen aktiv gestärkt.

Human Rights in Childbirth Deutschland befindet sich derzeit noch im Aufbau. Die deutsche Koordinatorin Katharina Hartmann wird in Kürze über die Homepage www.humanrightsinchildbirth.com zu kontaktieren sein.

Zitiervorlage
Hartmann K: Prozesse gegen Hebammen: Wer hat die Entscheidungsmacht? DEUTSCHE HEBAMMEN ZEITSCHRIFT 2014. 66 (5): 44–48 
Literatur

Davis-Floyd, R.; Cheyney, M.: Birth and the big bad wolf: an evolutionary perspective. In: Childbirth across Cultures: Ideas and Practices of Pregnancy, Childbirth, and the Postpartum. Hrsg. Helaine Selin und Pamela K. Stone. 1–22. Springer. Dordrecht. Heidelberg. London. New York http://davis-floyd.com/birth-and-the-big-bad-wolf-an-evolutionary-perspective/ (2009)

Dekker, R.: EvidenceBasedBirth. February Newsletter vom 27.2.2014. www.evidencebasedbirth.com

Loytved, C. ; Wenzlaff, P.: Außerklinische Geburt in Deutschland/German Out-Of-Hospital Birth Study 2000–2004. Gesellschaft für Qualität in der außerklinischen Geburtshilfe e.V. (Hrsg.).
 Unter Mitarbeit von Anke Wiemer. Huber. Bern (2007)

Olsen, O.; Clausen, J.A.: Planned hospital birth versus planned home birth. Cochrane Database of Systematic Reviews. Issue 11 (2013)

Ropp, C.: Midwifery On Trial: The Criminalization of Traditional Women‘s Ways. Manuskript via persönlicher Kommunikation, basierend auf The Rhetoric of Childbirth. The Trial of a California Midwife. E-Book 2013. Dissertation University of Memphis (2001)

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