Sabiha Husic, Direktorin von Medica Zenica, spricht bei der Fachtagung „Langzeitfolgen von Kriegsvergewaltigungen: Herausforderungen für Gesellschaft, Politik und Fachwelt“ im November in Berlin, bei dem die Ergebnisse der Studie vorgestellt wurden. Foto: © Marisa Reichert/medica mondiale

Welchen Einfluss haben Vergewaltigung und sexualisierte Gewalt im Krieg auf das Leben der Überlebenden, auf ihr psychisches Wohlbefinden, ihre Gesundheit, ihre Beziehungen und auf Familiensysteme? Antworten liefert eine neue Studie zu Langzeitfolgen von Kriegsvergewaltigungen und zu Bewältigungsstrategien von Überlebenden in Bosnien und Herzegowina.

Die Prävalenzraten für Posttraumatische Belastungsstörungen nach einer Vergewaltigung liegen zwischen 50 und 65 Prozent. Das zeigen die meisten Forschungsarbeiten weltweit (Perkonigg & Wittchen 1999; Kessler et al. 1995). Das heißt, dass 50 bis 65 Prozent der Überlebenden einer Vergewaltigung nach dieser Erfahrung im Laufe ihres Lebens eine Posttraumatische Belastungsstörung entwickeln.

Die Posttraumatische Belastungsstörung zählt zu den häufigsten Traumafolgestörungen. Sie ist gekennzeichnet durch sich aufdrängende und wiederkehrende belastende Erinnerungen an das traumatische Ereignis, zum Beispiel in Form von Flashbacks oder Alpträumen, Vermeidung von allem, was diese Erinnerungen hervorrufen könnte, emotionaler Abstumpfung und Teilnahmslosigkeit und schließlich vegetativer Übererregung, beispielsweise in Form von Reizbarkeit und Konzentrationsstörungen.

Die Frauenorganisationen Medica Zenica und medica mondiale (siehe: Vorgestellt, Seite 21) haben eine Studie zu den Langzeitfolgen von Kriegsvergewaltigungen und zu Bewältigungsstrategien von Überlebenden in Bosnien und Herzegowina erstellt: „We are still alive. Wir wurden verletzt, doch wir sind mutig und stark.” In Bosnien wurde die Studie erstmals im Herbst 2014 vorgestellt. In Deutschland wurden die Ergebnisse im Mai 2015 in einer Pressemitteilung und im Detail beim Fachtag von medica mondiale im vergangenen Herbst vorgestellt (siehe auch Seite 20f.).

Nach den Ergebnissen einer Stichprobe leiden rund 20 Jahre nach den Kriegsvergewaltigungen immer noch 57 Prozent der Überlebenden an der Posttraumatischen Belastungsstörung. Die empfundene psychische Belastung erwies sich ebenfalls bei allen Teilnehmerinnen im Durchschnitt als extrem hoch. Dabei zeigten sich vor allem ausgeprägte Probleme in den Bereichen Somatisierung und Angststörungen.

76 Prozent der Teilnehmerinnen berichteten von starken Schlafproblemen. 40 Prozent beschrieben häufige Gedanken an Tod und Sterben, was auf depressive Verstimmungen hindeuten könnte. Diese Resultate zeigen klar die destruktiven Langzeiteffekte von Kriegsvergewaltigungen für Überlebende. Sie erscheinen besonders deshalb alarmierend, da es sich bei den Studienteilnehmerinnen um Frauen handelt, die alle von einer Vielzahl von psychosozialen Unterstützungsangeboten durch Medica Zenica profitiert und diese als sehr hilfreich beschrieben hatten.

Die statistische Analyse ergab, dass der Faktor, einen Arbeitsplatz nach dem Krieg zu haben, eine Schutzfunktion zu haben scheint: Arbeitslose Teilnehmerinnen berichteten mehr erlebte psychische Belastung und eine höhere Intensität von Störungssymptomen im Vergleich zu jenen, die arbeiteten. Teilnehmerinnen, die arbeiten, schätzten zudem ihre Gesundheit als besser ein als jene, die arbeitslos oder in Rente waren.

Die Zeit heilt nicht die Wunden

Nach den Studienergebnissen scheint bei den meisten Überlebenden aus der Stichprobe die Zeit die psychischen Wunden der Kriegsvergewaltigung nicht zu heilen: Mehr als 70 Prozent der Teilnehmerinnen gaben an, dass die Vergewaltigung immer noch ihr Leben vollständig beeinflusse, vor allem in Form ständiger belastender Erinnerungen an die Ereignisse, emotionaler Probleme wie Angst oder Nervosität, gesundheitlicher Herausforderungen und ernsthafter Probleme in engen zwischenmenschlichen Beziehungen. Viele Frauen beschrieben auf beeindruckende Art und Weise die typische posttraumatische Dynamik des ständigen Erinnertwerdens an die Erfahrungen und zugleich den Versuch, diese Erinnerungen zu vermeiden. Dabei erlebten sie die Ereignisse in ihrer Erinnerung immer noch so lebendig wieder, als ob sie erst vor kurzem passiert wären.

Eine Teilnehmerin beschrieb dies auf eine offene Frage im Fragebogen beispielsweise so: „Ich kann meinen Kaffee nicht im oberen Stockwerk trinken, weil ständig das Bild zurückkommt, wie ich immer wieder vergewaltigt wurde, wann immer sie es wollten.” Eine andere Teilnehmerin sprach von ihrer Unfähigkeit zu „vergessen” oder sich an das zu „gewöhnen”, was sie erlebt hatte. Denn jeder Tag sei immer noch voller Erinnerungen: „Kein Tag vergeht, an dem ich nicht daran denke, denn jeden Tag sehe ich die Schule, wohin man mich gebracht hat.”

Aus der Analyse der Gesundheitssituation und der gynäkologischen Probleme der Teilnehmerinnen ergeben sich weitere deutliche Hinweise auf eine Chronifizierung der Langzeitfolgen von Kriegsvergewaltigung: 85 Prozent der Teilnehmerinnen gehen nach eigenen Angaben auch heute noch regelmäßig zu ÄrztInnen, davon am meisten zu GynäkologInnen, PsychiaterInnen oder NeurologInnen und zu PsychologInnen. 65 Prozent nehmen regelmäßig Medikamente, die Hälfte von ihnen bereits seit Ende des Krieges. 91 Prozent derer, die regelmäßig Medikamente nehmen, konsumieren Psychopharmaka. Mehr als 50 Prozent von ihnen nehmen diese Medikamente in Kombination mit kardiovaskulären Medikamenten und 27 Prozent mit Hormonregulatoren. Die hohe Rate an kardiovaskulären und hormonellen Medikamenten unter den Überlebenden könnte ein starker Hinweis auf die schädigenden gesundheitlichen Folgen von kumulativem und andauerndem posttraumatischem und allgemeinem Lebensstress auf das Körpersystem sein. Dies kann wiederum zu chronischen Erkrankungen führen.

Die alarmierende Häufigkeit von gynäkologischen Problemen stellt ebenfalls eine große Herausforderung für die Gesundheit der Überlebenden in der Studiengruppe dar: 93,5 Prozent der Frauen berichteten gynäkologische Probleme. Mehr als 58 Prozent der Frauen gaben an, immer noch unter vier und mehr gynäkologischen Symptomen zu leiden, selbst 20 Jahre nach dem Krieg und trotz gynäkologischer Behandlung. Die Symptome, die am häufigsten genannt wurden, sind unkontrollierbares Wasserlassen (53 Prozent), Schmerzen im Unterbauch (49 Prozent) und Vaginismus (44 Prozent). Fast 20 Prozent der Frauen berichteten, dass sie Schwierigkeiten gehabt hätten, nach der Vergewaltigungserfahrung schwanger zu werden. Mehr als 10 Prozent hatten Krebs; einige der ehemaligen Klientinnen waren auch an Krebs gestorben.

In der Studie berichteten 75 Prozent der Frauen, dass die Vergewaltigungserfahrung ihr Leben mit Ehemännern oder Männern im Allgemeinen beeinflusst. Bei 30 Prozent sei es zu einem gewissen Maß beeinträchtigt, bei 45 Prozent sogar vollständig. 56,5 Prozent der Frauen sagten, dass ihre Ehemänner oder Partner von den Vergewaltigungen wussten. Die im Zusammenhang mit Männern beschriebenen Hauptprobleme bezogen sich auf Schwierigkeiten mit der Sexualität mit Ehemännern und Partnern, die sich als Gefühle des Abgestoßen-Werdens, der Wut und des Misstrauens Männern im Allgemeinen gegenüber äußerten. Sexualität wurde oft komplett vermieden oder war mit Gefühlen von Ekel und Angst verbunden, wie die folgenden Zitate verdeutlichen: „Ich will mich umbringen, wenn er Geschlechtsverkehr haben will.” Oder: „Nach der Vergewaltigung konnte ich nie wieder intim mit meinem Mann werden. Ich habe Angst vor Männern.”

Beziehungen sind schwierig

In Lebensgeschichtlichen Interviews berichteten einige Frauen jedoch auch von der Unterstützung, die sie von ihren Ehemännern dadurch erlebt hatten, dass diese sie und ihre Beziehungsprobleme akzeptierten. Diese Erfahrungen widersprechen dem Stereotyp des Ehemannes, der seine vergewaltigte Frau ablehnt. Eine Überlebende, die ein Kind durch die Vergewaltigung empfangen hatte, unterstrich beispielsweise die Geduld und Akzeptanz ihres Ehemannes: „[S]eine Bewegung, seine Berührung konnte mich wahnsinnig machen, aber er ertrug alles stoisch. […] Ich muss irgendwie etwas Gutes irgendwo getan haben, dass ich solch einen Ehemann bekommen habe. Ich weiß nicht, was ich getan habe, um ihn zu verdienen. Der Mann war vorher nie verheiratet, er brachte mich und unser Kind in seine Familie; jeder akzeptierte mich so gut; es brauchte viel Kraft”.

Mehr als die Hälfte der Teilnehmerinnen berichtete davon, dass die Vergewaltigungserfahrung ihre Beziehungen zu ihren Kindern entweder vollständig oder teilweise beeinflusst habe. Sie beschrieben diese Dynamiken auf unterschiedliche Weise. Einige Frauen führten die Probleme der Kinder auf die eigene Kriegsvergewaltigung zurück: „Meinem jüngsten Kind fiel das Haar aus; der Arzt sagte mir, dass das wegen Stress passierte.” Oder: „Mein Kind ist in einer psychiatrischen Anstalt wegen all dem, was ich durchgemacht habe.”

Einige erzählten von großen Schwierigkeiten, ein emotional stabiler und präsenter Elternteil zu sein: „Ich kann keine Liebe oder Gefühle ihnen gegenüber zeigen. Alles in mir ist gestorben.” Oder: „Meine Stimme wird laut, wenn die Erinnerung kommt, ich werde nervös.”

Andere machten auf ihre ständige Angst aufmerksam, dass den Kindern etwas zustoßen könnte: „Ich bin überbehütend in Bezug auf meine Kinder, ich lasse sie keine Zeit mit anderen Menschen verbringen. Ich vertraue Menschen nicht.”

In den Interviews tauchten noch weitere Formen von Sorge auf: Einige Mütter antizipierten, dass sie einen negativen Einfluss auf ihre Kinder haben könnten, entweder aufgrund ihrer emotionalen Instabilität oder weil sie sich durch die Vergewaltigungserfahrung als „ungenügend” oder nicht „intakt” erlebten. Eine andere Sorge der Frauen war, dass ihre Töchter vielleicht die gleiche Erfahrung machen könnten, weshalb sie das Aufwachsen der Töchter zu jungen Frauen nicht positiv erleben konnten. Diese ausgeprägte Antizipation von „bösen Dingen”, die passieren können, kann als eine Form typischer posttraumatischer Denkmuster bei Überlebenden von Trauma interpretiert werden. Und diese Denkmuster können wiederum stark beeinflussen, wie die Kinder von traumatisierten Eltern lernen, die Welt, sich selbst und andere Menschen zu sehen. Daran hängt auch, in welchem Maße es ihnen überhaupt möglich sein wird, als Heranwachsende unabhängig zu werden.

Das Wissen der anderen

46 Prozent der Frauen gaben an, dass ihre Kinder wussten, was den Müttern im Krieg widerfahren war. Viele Frauen berichteten, dass sie durch das immer noch vorherrschende Schweigen Angst hätten, den Kindern ihre Geschichte zu erzählen. Das Schweigen halte ihre Kinder wiederum davon ab, den Müttern Fragen zu stellen. Dieses Schweigen zwischen Müttern und Kindern ist besonders stark bei den Kindern, die aus Vergewaltigungen entstanden sind, aber es spielt auch bei anderen eine Rolle.

Die Teilnehmerinnen berichteten ebenfalls davon, dass sie mit dem Schweigen ihre Kinder beschützen wollten, dass sie aber gleichzeitig vermuteten, dass ihre Kinder „es” sowieso „wissen” oder „spüren”, dass etwas mit ihren Müttern „nicht stimmte”. Eine Frau beschrieb dies im lebensgeschichtlichen Interview so: „Ich könnte niemals mit ihnen [meinen Kindern] über das sprechen, was ich durchgemacht habe, ich möchte sie nicht belasten, aber unsere Kinder haben sowieso überall Traumata nur davon, dass sie uns anschauen.”

Das Schweigen wird besonders durch die Vorstellung aufrechterhalten, dass die Kinder ihre Mütter möglicherweise ablehnen oder verlassen könnten, wenn sie einmal von den Kriegsvergewaltigungen erfahren würden. Dieser Gedanke weist auf starke Schamgefühle und auf eine Selbstwahrnehmung bei vielen Überlebenden hin, für immer das unauslöschliche Mal der Kriegsvergewaltigung zu tragen. Aber die Kinder können den Frauen auch Kraft geben: „Am meisten haben mir meine Kinder geholfen. Sie sind der Sinn meines Lebens. Sie haben mich alle Entbehrungen und all mein Leid vergessen lassen. Sie gaben mir die Kraft zu kämpfen und den Willen weiterzuleben.”


Hinweis:

Bei diesem Beitrag handelt es sich um einen Auszug aus den Ergebnissen der Studie. Diese wurden für die DHZ redaktionell überarbeitet. Eine Zusammenfassung der Studie „We are still alive. Wir wurden verletzt, doch wir sind mutig und stark” zu Langzeitfolgen von Kriegsvergewaltigungen und zu Bewältigungsstrategien von Überlebenden in Bosnien und Herzegowina sowie ein Video über die Ergebnisse der Studie können heruntergeladen werden unter dem Link http://www.medicamondiale.org/was-wir-tun/aktuelles/nachrichten-details/wir-wurden-verletzt-doch-wir-sind-mutig-und-stark.html.

Hier sind auch Videoeindrücke zu finden vom Fachtag „Langzeitfolgen von Kriegsvergewaltigungen: Herausforderungen für Gesellschaft, Politik und Fachwelt” am 30. November 2015 in Berlin und von der Eröffnungsrede von Monika Hauser.


Zitiervorlage
Husic S et al.: “Das Wichtige ist, dass ich lebe.”. DEUTSCHE HEBAMMEN ZEITSCHRIFT 2016. 68 (3): 22–24
Literatur
Medica Zenica & medica mondiale (Hrsg.): „We are still alive. Wir wurden verletzt, doch wir sind mutig und stark.” Eine Studie zu Langzeitfolgen von Kriegsvergewaltigungen und zu Bewältigungsstrategien von Überlebenden in Bosnien und Herzegowina. Zusammenfassung. Köln 2014. DOI: http://dx.doi.org/10.15498/89451.2
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