Tagungsort mit Weitblick: Die Midwifery Today Conference fand im vergangenen Herbst im belgischen Nordseeküstenort Blankenberge statt. Foto: © imago/blickwinkel

„Autonomous Midwifery: The Key to the Future”, war der Titel einer internationalen Konferenz, die im vergangenen Herbst im belgischen Blankenberge stattfand. Der Schlüssel zukünftiger Hebammenarbeit liegt demnach in der richtigen Mischung aus traditionellem Wissen und Evidenz.

Die Konferenzen, die die Herausgeber des amerikanischen Midwifery Today Magazine inzwischen weltweit organisieren, gehören zu den spannendsten für die ganzheitlich arbeitende Hebamme – hier wird wirklich mit Herz, Hand und Verstand gelebt und gelernt. Die Hierarchien sind so „flach“, die Kommunikation derart barrierefrei, dass es völlig selbstverständlich ist, sich mit den international renommierten ReferentInnen beim Mittagessen zu unterhalten, wie mit der amerikanischen Anthropologin Robbie Davis-Floyd oder der italienischen Hebamme Verena Schmid. Den französischen Geburtshelfer Michel Odent können Hebammen abends beim Bier zu seiner ersten Hausgeburt befragen.

Die jüngste europäische Midwifery Today Konferenz fand unter dem Titel „Autonomous Midwifery: The Key to the Future“ vom 30. Oktober bis 3. November 2013 im belgischen Nordseebad Blankenberge statt: fünf Tage intensiver Auseinandersetzung mit neuester und altbewährter Hebammenkunst mit über 250 GeburtshelferInnen, Doulas, MedizinerInnen, GeburtsaktivistInnen aus 43 Nationen – von Kambodscha über Südafrika bis Brasilien.

Das Gesamtprogramm umfasste 26 Kurse und Workshops – unter anderem zu Steißlagengeburten (zu Lande und zu Wasser), Notfallmaßnahmen bei der Geburt, physiologische Schmerztherapie, Salutogenese, Plazentamedizin und Wassergeburten. Daneben gab es eher politische Themen, wie beispielsweise den globalen Trend in der Hebammenkunst, traditionelles Wissen mit neuesten evidenzbasierten Erkenntnissen zu verbinden und sich dadurch auch rechtlich abzusichern. International unterschiedliche Ansätze der Hebammenausbildung wurden verglichen und die Figur der postmodernen Hebamme im globalen Kontext beleuchtet: die Hebamme als internationale Netzwerkerin, die sowohl Kräutertinkturen als auch wissenschaftliche Studien berücksichtigt, ihr Wissen dem jeweiligen Betreuungsverhältnis anzupassen weiß und bei Bedarf vorurteilsfrei mit anderen GeburtshelferInnen (ÄrztInnen, Doulas, traditionellen GeburtshelferInnen …) kooperiert.

Eine britische Kollegin schüttelte beim Abendessen am zweiten Tag erschöpft den Kopf: „Normalerweise geht man auf eine Fortbildung und ist froh, wenn man überhaupt etwas Neues mitnehmen kann. Hier fliegen einem die hilfreichen Tipps nur so um die Ohren  – mein Gehirn beschwert sich schon!“

„Spinning Babies“

Sehr praktisch ausgelegt war der Tageskurs der amerikanischen Hebamme Gail Tully. Sie ist die Verfechterin der sogenannten „Spinning Babies“-Techniken, was soviel bedeutet wie „drehende/herumwirbelnde Babys“. Als sehr erfahrene Geburtshelferin, die zu Hause in Minneapolis oft zu „Problemgeburten“ (Beckenendlagen, Fehleinstellungen, Mehrlingsgeburten) hinzugezogen wird und auch Fortbildungen zu Schulterdystokien gibt, ist sie zudem eine begabte Lehrerin. Besser als jeder Anatomieprofessor lehrte Tully mit ihren eigenen, kreativen Lehrmaterialien (Tera-Bänder, Luftballons, Rollenspiele, Turnübungen…) die weibliche Anatomie – nicht nur die des weiblichen Beckens und seiner Dynamiken, sondern auch und vor allem die der Muskelschichten und Weichteile. Mit Hilfe dieser Erkenntnisse leuchten ihre Maßnahmen und Übungen sofort ein, die sie zur Unterstützung von Fehleinstellungen wie hintere Hinterhauptslage (Sternengucker), Scheitelbeineinstellung, aber auch Lagevarianten wie Beckenendlagen lehrt. Laut Tullys 30-jähriger Erfahrung nehmen die Fehleinstellungen kontinuierlich zu. Schuld seien ihrer Ansicht nach veränderte Bewegungsmuster: Eine Frau, die ihr halbes Leben lang sehr viel Auto gefahren sei, ohne ausgleichenden Sport zu machen, habe fast unweigerlich einen schiefen Muskelaufbau bis ins Becken hinein, anders als eine Frau, die grundsätzlich zu Fuß geht oder Fahrrad fährt. Und wenn die Beckenmuskulatur schief sei, dann könne das knöcherne Becken noch so vorbildlich gebärfreudig sein: Das Kind werde trotzdem größte Schwierigkeiten haben, symmetrisch ins Becken einzutreten und zu rotieren. Tully plädiert dafür, nicht nur Beckenformen während der Schwangerschaft zu ertasten und bei der Geburt zu berücksichtigen, sondern auch die Bewegungsabläufe der Schwangeren, deren Weichteile und Muskeln zu beobachten und gegebenenfalls durch präventive Maßnahmen auf die Geburt vorzubereiten (siehe auch www.spinningbabies.com).

Die Vorbereitung während der Schwangerschaft besteht nach ihrem Konzept aus drei Grundelementen, die dem Körper helfen sollen, die Beckenmuskulatur aufzulockern und symmetrisch zu strecken. Das erste Element bestehe aus leichten Rebozo-Massagen des Bauches und des Beckens im Vierfüßlerstand. Bei dieser Technik wird mit Hilfe eines straff gewebten Tuches, das der Mutter umgelegt wird, die Tiefenmuskulatur gelockert. Durch die minimalen und schüttelnden Bewegungen würden „verklebte“ Muskelfaszien aufgelockert. Das zweite Element sei eine vorwärtsgelehnte Umkehrhaltung (Anleitung siehe unter genanntem Link: „forward leaning inversion“), die unter anderem die Mutterbänder gleichmäßig streckt und dehnt – und daher auch hervorragend gegen Beschwerden in diesem Bereich helfen würden.

Das dritte Element ist eine Übung, die die gesamte Beckenbodenmuskulatur dehnt: die „Lösung in Seitenlage“ (siehe ebenda unter „side-lying release“). Würden diese drei Elemente schon während der Schwangerschaft regelmäßig angewandt, so ließen sich laut Tully viele muskelbedingte Fehleinstellungen zu Geburtsbeginn vermeiden. Auch bei Fehleinstellungen könne den Babys noch geholfen werden: Tullys persönliche Statistik besagt, dass etwa 65 Prozent der Kinder, die bei Geburtsbeginn in hinterer Hinterhauptslage lägen, ohne Hilfe geboren werden – entweder weil sie selbstständig eine anteriore Einstellung einnähmen oder aber weil sie posterior geboren werden könnten. Demnach benötigten aber immerhin noch 35 Prozent der sogenannten Sternengucker Hilfe. Hier habe sich, auch bei der Geburt, vor allem die „Lösung in Seitenlage“ als hilfreich erwiesen: Drei Wehen auf der rechten Seite, drei Wehen auf der linken Seite würden vielen Babys helfen, ihren Weg durch verspannte Muskelschichten zu finden.

Vorgehen bei Hämorrhagien überdenken

Die US-Amerikanerin Gail Hart ist seit 1977 Hausgeburtshebamme (Certified Professional Midwife) und hat viele Jahre lang im US-Staat Oregon gearbeitet. Ihr besonderes Interesse liegt auf der Verbindung von traditionellem ganzheitlichem Hebammenwissen mit evidenzbasierten wissenschaftlichen Erkenntnissen. Diese Vorliebe merkte man ihrem Kurs zu postpartalen Hämorrhagien und möglichen Präventionsmaßnahmen deutlich an. Zuerst lud sie ein, die gängige Definition von „Hämorrhagie“ zu überdenken. Die aktuelle Definition von mehr als 500 Milliliter postpartalem Blutverlust ist ihrer Meinung nach zu kurz gedacht: Wenn einem normalen Erwachsenen pro Blutspende die gleiche Menge Blut entnommen wird, um ihn sodann mit einem Eibrötchen in der Hand zu entlassen, kann bei einer Schwangeren, deren Blutvolumen signifikant größer ist, nicht per se die gleiche Menge Blut als pathologisch gelten. Die Hausgeburtshebamme plädierte aufgrund ihrer über 30-jährigen Erfahrung dafür, die jeweilige Situation individueller zu bewerten: Es gebe Frauen, die deutlich mehr Blut verlören und denen es trotzdem gut ginge – vor allem größere und kräftigere Frauen. Andere Frauen würden geschätzte zwei Esslöffel Blut verlieren und zeigten die für Hämorrhagien typischen Begleiterscheinungen (erhöhter Pulsschlag, Blässe, …) und müssten beispielsweise durch kreislaufstabilisierende Maßnahmen oder Elektrolytzufuhr entsprechend unterstützt werden. Da erwiesen sei, dass das medizinische Personal meist nicht in der Lage sei, die Blutmenge überhaupt zuverlässig zu schätzen, empfiehlt Hart regelmäßige „Blutschätz-Workshops“: Auf Schlachthöfen könne medizinisches Personal in den meisten Ländern größere Mengen Blut vorbestellen, die dann für Schätzaufgaben genutzt werden könnten, bei Bedarf auch im Wasser.
Bei Auftreten einer tatsächlichen Hämorrhagie wünschte Hart sich die Rückbesinnung auf sofortige manuelle Hilfe: Die übliche Sofortmaßnahme, die Gabe von zehn Internationalen Einheiten Oxytocin, wirke als Kurzinjektion oder Tropf im Schnitt nach vier wertvollen Minuten. Eine manuelle Uterusmassage zeige hingegen sofort Wirkung. Ebenso notwendig sei ihrer Meinung nach die Beherrschung invasiver Techniken bei massiven Atonien, wie beispielsweise des Brandt-Andrews-Manövers. Dabei wird nach der Geburt der Plazenta mit einer Hand der Uterus von außen am oberen Fundus gehalten, die andere Hand wird als Faust in die Vagina eingeführt und drückt den Uterus flach von unten gegen die gewölbte obere Hand. Durch den entstehenden Druck wird die Blutung gemindert und die obere Hand kann durch kreisende Bewegungen Nachwehen anregen. Ebenso lebensrettend könne das Wissen sein, wie eine versteckte Hämorrhagie zu entdecken sei, wenn also die bereits gelöste und vor dem Ausgang liegende Plazenta den Blutfluss verdeckt. In diesem Fall sei zu beobachten, wie die Gebärmutter größer werde und sich aufblähe – die Bauchform der Mutter verändere sich und meist träten massive Schmerzen auf. Auch in diesem Fall plädiert Hart für manuelle Sofortmaßnahmen: die aktive Entfernung der Plazenta sowie Uterusmassage und gegebenenfalls das oben beschriebene Brandt-Andrews-Manöver, gefolgt von intravenös oder intramuskulär gegebenem Oxytocin.

Aktuell diskutiert werde die Gabe von Misoprostol sublingual, sobald die Plazenta geboren sei – diese Maßnahme eigne sich auch für die sogenannten Entwicklungsländer. Zum einen habe sie sich als besonders effektiv und rasch wirksam erwiesen, zum anderen seien die Kosten gering und die orale Verabreichung im Gegensatz zum intravenösen Oxytocin unproblematisch. Eine Gabe von 600 Milligramm Misoprostol scheine ausreichend zu sein und weise geringere Nebenwirkungen auf als höhere Dosierungen (Tunçalp et al. 2012).

Neben diesen modernen, evidenzbasierten Medikationen empfiehlt Hart im Notfall auch traditionelle Maßnahmen: Sowohl die Plazenta als auch Nabelschnur und Eihäute enthielten Prostaglandine in bemerkenswerten Mengen. Wenn nichts anderes zur Hand sei, sollte der Frau ein kleines Stück dieser Gewebe angeboten werden und entweder ganz geschluckt oder, zur besseren Aufnahme des Hormons, unter die Zunge gelegt werden. Als wichtigstes Referenzwerk verwies Hart auf das Handbuch der WHO zur postpartalen Hämorrhagie aus dem Jahr 2012.

Gute Mikroben?

Michel Odent stellte in seinem Vortrag die neuesten Erkenntnisse der Mi­krobiomforschung dar (Odent 2013, Kap. 5). Das Mikrobiom ist die Summe der den Menschen besiedelnden Mikroben: Der Organismus ist von Millionen von ihnen besiedelt, sowohl innerlich als auch äußerlich. Die wesentliche Besiedlung des Menschen finde erst mit dem Eintritt in das extrauterine Leben statt: Hierbei scheine das Prinzip der Erstbesiedlung eine entscheidende Rolle zu spielen – wer gewinnt das Rennen? „Gute“ Mi­kroben oder weniger gute? Das Resultat scheint uns ein Leben lang zu begleiten.

Bei vaginalen Geburten bestimme die vaginale und rektale Flora der Mutter die Erstbesiedlung des Kindes: Dem Kind werde eine hohe Varianz unterschiedlicher Mikroben mitgegeben, die ihm helfen würden, eine eigene gesunde, variantenreiche Besiedlung aufzubauen (siehe auch Seite 67ff.).

Dieser Ansatz liefere endlich eine mögliche Erklärung für die erhöhten Asthmaraten von Kaiserschnittbabys, denn diese hätten eine völlig andere Erstbesiedlung: Im OP werde das Kind von der Hebamme in einem sterilen Tuch in Empfang genommen. Je nach Krankenhauspraxis werde es unterschiedlich schnell auf einen nicht mehr sterilen Untersuchungstisch gelegt und von der Hebamme und gegebenenfalls vom Anästhesisten untersucht. Der erste mikrobische Kontakt des Neugeborenen bestehe somit nicht mit der Vagina der Mutter, sondern in der Regel mit einer Krankenhausauflage oder vorher bereits in geringerem Maße mit der nicht sterilen Klinikluft. Danach stamme die Besiedlung vor allem von der Hautoberfläche beziehungsweise der Milch der Mutter.
Erste Erkenntnisse über das Mikrobiom der Muttermilch im Zusammenhang mit gesunder Neugeborenenflora legten nahe, dass Kaiserschnitte nach Wehenbeginn eine vorteilhaftere Muttermilchzusammensetzung nach sich zögen, als solche Schnittentbindungen, die ohne Wehentätigkeit durchgeführt würden (Cabrera-Rubio 2012).

Odent fordert zudem, die gängige Antibiotikaprohpylaxe zu überdenken: Immer mehr Frauen auf der Welt erhielten während der Geburt Antibiotikagaben, die massiv in ihre innere und äußere Keimbesiedlung eingriffen. Bei Antibiotikagaben wegen vorzeitigem Blasensprung oder positiven ß-Streptokokken würden aber nicht nur die ungewollten Bakterien abgetötet, sondern auch Milliarden von wichtigen Mikroben. Zwar mache das Antibiotikum den Körper nicht steril – einige Mikroben überlebten immer. Dennoch greife das Medikament massiv in das mütterliche und damit auch in das kindliche Mikrobiom ein – mit für uns derzeit völlig unabsehbaren Folgen.


Hinweis: Die nächste europäische Midwifery Today Konferenz findet vom 26. bis 30. Mai 2014 im englischen Bury St. Edmunds in Suffolk statt. www.midwiferytoday.com/conferences/UK2014/


Zitiervorlage
Hartmann K: Midwifery Today Tagung: Hebammenkunst als Schlüssel. DEUTSCHE HEBAMMEN ZEITSCHRIFT 2014. 66 (2): 72–74
Literatur
Cabrera-Rubio, R.; Collado, M.C.; Laitinen, K.; Salminen, S.; Isolauri, E.; Mira, A: The human milk microbiome changes over lactation and is shaped by maternal weight and mode of delivery. American Journal of Clinical Nutrition. 96(3) (2012)

Tunçalp, Ö.; Hofmeyr, G.J.; Gülmezoglu, A.M.: Prostaglandins for preventing postpartum haemorrhage. A Cochrane Systematic Review (2012)

Odent, M.: Childbirth and the Future of Homo Sapiens. 33–40. Pinter& Martin. London (2013)

WHO recommendations for the prevention and treatment of haemorrhage. WHO Press. Genf. http://apps.who.int/iris/bitstream/10665/75411/1/9789241548502_eng.pdf (2012)

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