Wer sollte darüber entscheiden, wo eine Frau ihr Kind zur Welt bringt? Sollten Frauen das Recht haben, diese Entscheidung selbst zu treffen, oder sollten sogenannte ExpertInnen hier das letzte Wort haben? Ist ein Gesundheitssystem verpflichtet, neben dem Angebot, im Krankenhaus ein Kind zur Welt zu bringen, auch eine Geburt zu Hause oder in einem Geburtshaus zu ermöglichen?
Ein Blick auf die Geburtenlandschaften in Europa zeigt, dass es dort sowie weltweit in den industrialisierten Ländern für die Frauen immer schwerer wird, außerklinisch zu gebären. Das Gesundheitssystem, medizinische Leitlinien, Gesetze, Hebammen, ÄrztInnen, EthikerInnen, Versicherungsanbieter, politische und wirtschaftliche Interessengruppen – sie alle tragen zu einem Geburtssystem bei. Und sie prägen in unterschiedlicher Weise den Diskurs rund um Risiko, Sicherheit und die Rechte der schwangeren und gebärenden Frauen mit. Der Kampf für das Recht auf freie Wahl des Geburtsortes, gegen die Bevormundung der Frau und für das Recht auf Selbstbestimmtheit ist ein altes Thema der Frauenbewegung.
Das Private ist politisch
In der Zweiten Welle des Feminismus in den 1970er Jahren haben die Frauen auch für ihre reproduktiven Rechte gekämpft. Damals haben sich Gleichgesinnte versammelt und sich gegenseitig ihre persönlichen Geschichten erzählt – Geschichten, die sie verbunden haben und die ihnen Mut machten. In Gruppen wie dem 13. Mond – einer Frauengruppe, die in den 70er Jahren in Berlin gegründet wurde – haben Frauen unter anderem gelernt, sich selbst zu untersuchen. Ihr Ziel war es, sich von der Bevormundung durch GynäkologInnen zu befreien, und die Entscheidungsmacht über den eigenen Körper zu gewinnen. Ganz konkret haben diese Frauen dabei auch erfahren: Das Private ist politisch – ein Motto, das unterschiedliche Bewegungen der Emanzipation von BürgerInnen damals hatten.
Lautstark demonstrierten die Frauen damals gegen den § 218, für ihr Recht auf reproduktive Selbstbestimmung („Mein Bauch gehört mir”) und sie haben ihren politischen Willen durchgesetzt. Später, Ende der 70er und in den 80er Jahren, forderten sie auch Selbstbestimmung für das Gebären. Als Alternative zur damals üblichen programmierten und interventionsreichen Geburtshilfe entdeckten die Frauen und mit ihnen die Hebammen das Private, das Häusliche wieder. Sie fanden einen – fast vergessenen – geschützten Geburtsort wieder, der ihnen den größtmöglichen Raum der Selbstbestimmung bot. Auch die Geburtshäuser in Deutschland sind ein Ergebnis der zweiten Frauen- und Frauengesundheitsbewegung (Stone 2012).
Der britische Sozialwissenschaftler Anthony Giddens schreibt in seinem wegweisenden Werk „Modernity and Self-Identity: Self and Society in the Late Modern Age” aus dem Jahr 1991, dass das Individuum in unserem postmodernen Zeitalter ein gewisses Misstrauen gegenüber ExpertInnen entwickelt habe, verbunden mit dem Wunsch, lebenswichtige Entscheidungen auf der Basis eigener Reflexion selbst zu treffen. Nach Giddens gibt es ein Wissen des Selbst und ein wissenschaftliches Wissen. Ein Sinn für den eigenen Leib, so Giddens, könne nur vom Selbst verspürt werden, nicht von anderen Menschen, auch nicht von ExpertInnen.
Wissen, was das Beste ist
Nicht selten wird schwangeren und gebärenden Frauen vermittelt, sie könnten nicht wissen, was für sie das Beste ist. Für viele scheint es noch immer selbstverständlich, dass eine schwangere Frau den herrschenden Normen der Gesellschaft folgt und ihr Kind in einem Krankenhaus zur Welt bringt. Dementsprechend halten die meisten FrauenärztInnen außerklinische Geburten für gefährlich und bieten ihren Patientinnen entweder keine Auskunft über diese Möglichkeit an oder sie sehen es als ihre professionelle Verantwortung an, Frauen davon abzuraten (Chervenak et. al. 2013, Arabin et.al. 2013, Stone & Ensel 2013). Dies entspricht jedoch nicht dem Recht der Frau auf eine informierte Entscheidung, denn umfassende Aufklärung ist ein zentraler Bestandteil der Patientenrechte. Dies ist auch in der Neufassung des Patientenrechtgesetzes festgelegt, die seit Februar 2013 in Deutschland in Kraft ist. (http://www.bmg.bund.de/praevention/patientenrechte/patientenrechtegesetz.html). (Diefenbacher 2012a+b; siehe auch DHZ 11/2012, Seite 12ff.).
Danach hat jeder Mensch das Recht, über Risiken und Vorteile medizinischer Behandlungen aufgeklärt zu werden und auf dieser Basis eine Entscheidung in eigener Regie zu treffen. Das Gesetz geht vom Leitbild des mündigen Patienten aus, der mit den Gesundheitsdienstleistern auf Augenhöhe die verschiedenen Möglichkeiten bespricht. Die Einwilligung nach der Aufklärung setzt voraus, dass man Optionen hat, und dass diese Wahlfreiheit weder durch die Politik noch durch erstarrte Meinungen beeinträchtigt wird.
Klage vor dem Europäischen Gerichtshof
Die Ungarin Anna Ternovsky hatte keine Möglichkeit, ihren Geburtsort frei zu wählen, als sie, mit ihrem zweiten Kind schwanger, daran gehindert wurde, zu Hause zu gebären. Aber damit wollte sie sich nicht abfinden. Sie ging 2010 bis vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (ECHR) in Straßburg, um dieses Recht auf Wahlfreiheit einzufordern. Es gelang der mutigen Frau mit tatkräftiger Unterstützung engagierter MitstreiterInnen, das Menschenrecht auf freie Wahl des Geburtsortes und damit ihr Recht auf eine Hausgeburt einzuklagen (Ternovsky 2012).
Auch wenn dieser Erfolg die prekäre Situation der freiberuflichen Hebammen und das Verbot der Hausgeburt in Ungarn und vielen anderen europäischen Ländern noch nicht gravierend verändert hat, so haben Anna Ternovsky und ihre MitstreiterInnen mit ihrem Engagement erreicht, dass ein Meilenstein gesetzt wurde. Auf diesen können sich schwangere Frauen, Hebammen und alle, die für die reproduktiven Rechte von Frauen kämpfen, in Zukunft berufen.
Human Rights in Childbirth-Bewegung
In Folge des Gerichtsurteils sind weitere Aktivitäten für das Menschenrecht auf freie Wahl des Geburtsortes entstanden: zum Beispiel die Bewegung „Human Rights in Childbirth” und ihre erste Konferenz im Frühling 2012. Ihre Begründerin Hermine Hayes-Klein, eine Juristin aus den USA, hatte sich in ihrem Studium an der Universität Chicago mit den Gesetzen und Prozessen zum Thema Vergewaltigung beschäftigt. Die Arbeit mit den Gerichtsfällen sensibilisierte sie für die Missachtung der Frauen im Gesetzessystem und den unzulänglichen Schutz der körperlichen Unversehrtheit. Die berührenden Geschichten der Frauen haben ihr vor allem gezeigt, dass das Persönliche politisch ist. So wie damals in den 70er Jahren fand Hayes-Klein fast zwei Generationen später, dass es von großer Bedeutung ist, Geschichten von Frauen zu hören. Dadurch können sie sich mit anderen verbinden, Kraft gewinnen und wichtige Muster erkennen. Diese Geschichten, so Hayes-Klein, seien nicht nur Frauenschicksale; sie reflektierten die Frauenfeindlichkeit der Politik und des Gesetzessystems.
2007 ging Hermine Hayes-Klein aus familiären Gründen in die Niederlande. Sie arbeitete und lehrte dort als Dozentin an The Hague University an einem Institut für Reproduktive Rechte. In dieser Zeit hat sie ihre beiden Kinder zu Hause mit einer Hebamme geboren. Diese positive, lebensverändernde Erfahrung erlebte sie als starken Gegensatz zu den negativen Geburtsgeschichten ihrer Freundinnen in den USA. Als sie erfuhr, dass gegen ihre Hebamme eine Beschwerde eingelegt wurde, begann sie, sich mit den politischen und wirtschaftlichen Aspekten der Geburt zu beschäftigen.
Ihre Hebamme hatte Geburten zu Hause begleitet, bei denen eine Hausgeburt laut den niederländischen Mutterschaftsrichtlinien verboten war (Verloskundige indicatielijst/VIL) (www.knov.nl/vakkennis-en-wetenschap/tekstpagina/524/verloskundige-indicatie-lijst/). Unter anderem hatte ihre Hebamme eine Zwillingsgeburt zu Hause begleitet, um die Mutter vor einem Kaiserschnitt zu bewahren. Dieser Frau, einer Viertgebärenden, mit zwei Hausgeburten in der Anamnese, hatte man in der Klinik gesagt, sie würde eine Sectio bekommen, ohne dass dies weiter begründet wurde. Als der Arzt aus der Klinik erfuhr, dass diese Frau ihr Kind zu Hause geboren hatte, zeigte er die Hebamme an.
„Ternovsky gegen Ungarn”
Für die Juristin waren diese Fälle der Anlass, sich mit den gesetzlichen Grundlagen der niederländischen Richtlinien zu beschäftigen. Die VIL, die von Hebammen und ÄrztInnen erstellt werden, beschreiben die physiologischen Aspekte einer Schwangerschaft und Geburt und grenzen sie von der Pathologie ab. Diese Abgrenzung diktiert unter anderem, wann Hebammen die Patientinnen an ÄrztInnen überweisen müssen. Hayes-Klein fand, dass eine Zuordnung von Frauen in diagnostische Kategorien, die nicht in erster Linie die individuelle Frau und ihre persönliche Entscheidungsfindung im Blick haben, keine Grundlage für eine Anklage sein könnte, zumal diese Richtlinien keine Gesetze sind. Außerdem würden die GesundheitsdienstleisterInnen durch die Leitlinien in Grenzfällen daran gehindert, Entscheidungen für ihre Patientinnen zu treffen und zu unterstützen, die sich auf ihre Anamnese und ihre Bedürfnisse begründen. Letztlich, so Hayes-Klein, hinderten die Leitlinien die Frauen darin, selbstbewusste und durchdachte Entscheidungen durchzusetzen, weil dem Expertenwissen ein höherer Stellenwert zugestanden würde.
Auf diesem persönlichen Hintergrund und als Konsequenz aus ihren Erkenntnissen entwickelte Hayes-Klein, als sie vom Fall „Ternovsky gegen Ungarn” erfuhr, die Idee einer Konferenz. Sie formulierte die Themen der ersten Konferenz von Human Rights in Childbirth. Ihre Vision war es, Frauen und ExpertInnen zusammenzubringen und einen Raum zu schaffen, wo die Frauen ihre Geschichten erzählen – Geschichten von schönen und von traumatischen Geburten. Im Mittelpunkt sollte der Prozess „Ternovsky gegen Ungarn” diskutiert werden – also das Recht der Frau, ihren Geburtsort frei zu wählen.
Geburtsgeschichten
Die erste Konferenz von „Human Rights in Childbirth” fand am 31. Mai und 1. Juni 2012 in Den Haag statt. Die Liste der TeilnehmerInnen war ebenso beeindruckend wie die emotionale Atmosphäre. Ina May Gaskin, amerikanische Hebamme und Geburtsexpertin sowie Trägerin des Alternativen Nobelpreises aufgrund ihres Engagements für die Rettung der normalen Geburt, Michel Odent, französischer Geburtshelfer, Barbara Katz Rothman, amerikanische Soziologin, Soo Downe, britische Professorin der Hebammenwissenschaft, Robbie Davis-Floyd, amerikanische Kultur-Anthropologin, Jo Murphy-Lawless, irische Soziologin, und Peter Brocklehurst, Mediziner und Epidemiologe, waren nur einige der Anwesenden.
Als Teilnehmerin der ersten Konferenz war ich erstaunt, wie viele Tränen flossen, wenn die Vortragenden ihre Geburtsgeschichten erzählten. Hermine Hayes-Klein erzählte später in einem Interview, dass sie bei den Konferenzen in jeder Vortragsrunde eine Mutter sprechen ließ, die ihre Geburtsgeschichte erzählte. Es seien diese persönlichen Geschichten, die einer Bewegung ihre Kraft gäben und die Richtung wiesen – Emotionen und Tränen gehörten für sie dazu.
Recht auf Selbstbestimmheit
Inspiriert von der Entscheidung im Prozess „Ternovsky gegen Ungarn” waren die Rechte der schwangeren und gebärenden Frauen die zentralen Themen der Konferenz. Frauen, so der Konsens, sollten immer und in jeder Situation autonom sein. Jede Frau habe das Recht auf eine individualisierte Risikoanalyse, die ihr den Weg offen lässt, Untersuchungen und Behandlungen abzulehnen. Wie eine Geburt aussieht, wenn eine Frau sich übergangen fühlt, wurde bildhaft spürbar – mit bitteren Tränen und fühlbarem seelischem Schmerz, wenn die Frauen erzählten. Sie berichteten davon, wie sie an Geräte angekettet und verkabelt wurden, wie sie bei vaginalen Routineuntersuchungen heftige Schmerzen erlitten und ermahnt wurden, dies über sich ergehen zu lassen, weil es notwendig sei. Wenn sie über die Notwendigkeit aufgeklärt wurden, lag selten ein tatsächlicher Befund vor, sondern es geschah hauptsächlich in Anlehnung an die Leitlinien. Leitlinien, die Frauen verletzen, entmutigen und demoralisieren.
Hayes-Klein erzählte die Geschichte einer schwangeren Mehrgebärenden, die den Rat ihres Frauenarztes abgelehnt hatte und der daraufhin gesagt wurde, nicht sie sei der Kapitän ihres Schiffes, sondern er. Eine derartige Stellungnahme, so Hayes-Klein, sei respektlos und unzumutbar.
Für die Juristin Hayes-Klein hat einzig und allein die werdende Mutter das Recht, Entscheidungen für sich und ihr Kind zu treffen. Sie entscheidet, wo sie gebären will, wer dabei ist und welche Interventionen sie haben möchte. Wenn sie kein Dauer-CTG haben will, muss dieser Wunsch respektiert werden. Wenn sie es hingegen will, muss sie darüber aufgeklärt werden, dass ein Dauer-CTG das Risiko für weitere Interventionen erhöht und die Geburten häufiger durch einen Kaiserschnitt enden. Wenn eine Frau sagt, dass sie in diesem Moment keine vaginale Untersuchung möchte, darf man sie nicht untersuchen. ÄrztInnen und Hebammen dürfen Frauen weder nötigen, drangsalieren, noch demütigen, wenn diese Interventionen ablehnen.
Vor allem muss der verbale Umgang mit Frauen überdacht und geändert werden. Frauen sollten vor den Untersuchungen informiert werden. Sie sollten immer gefragt werden, ob sie angefasst werden dürfen. Nach der Geburt sollten sie das Recht haben, ihre Kinder bei sich zu haben, so lange sie wollen. Und: Es muss eine Wahl geben, nicht nur das Recht, zu wählen!