Die gesamte reproduktive Frauengesundheit
Die grundlegenden Kompetenzen verdeutlichen nicht nur das breite Handlungsspektrum von Hebammen, sondern auch ihre Pflichten und ihre Verantwortung im Gesundheitswesen. In jedem Arbeitsbereich müssen sie Dokumentationspflichten erfüllen, die Schweigepflicht einhalten, unerwartete Vorfälle und nachteilige Outcomes an verantwortliche Institutionen melden. Auch kommunikative Kompetenzen sind umfassend erforderlich: Nicht nur gegenüber Frauen und Familien, sondern auch innerhalb der eigenen Berufsgruppe, in interprofessionellen Teams sowie in anderen gesellschaftlichen Gruppen müssen Hebammen unvoreingenommen und empathisch zuhören und die Sichtweisen anderer respektieren. Hebammen sollen kulturelle Praktiken und Überzeugungen in Verbindung mit der Geburt von Frauen, Familien und Gemeinschaften kennen und sich kulturell sensibel zeigen. Durch ihr Verhalten sollen sie Richtlinien und eine Arbeitskultur fördern, in denen die normalen Geburtsprozesse wertgeschätzt werden. Außerdem sollen Hebammen nationale und internationale evidenzbasierte Empfehlungen kennen, Forschungsergebnisse mit KollegInnen diskutieren und in die Arbeit integrieren sowie die Forschung unterstützen.
Alle Hebammen benötigen Kompetenzen darin, die physiologischen Prozesse von Schwangerschaft, Geburt und der Zeit nach der Geburt zu unterstützen. Dazu gehört die grundlegende Kompetenz, Normabweichungen und Komplikationen zu erkennen und eine angemessene Behandlung einzuleiten. Aktuelles Wissen über Notfallmaßnahmen gehört zum Hebammenberuf. Dazu gehört, die notwendige Ausrüstung für Notfälle immer auf dem aktuellen Stand zu halten. Hebammen müssen in Notfallsituationen angemessen reagieren – aber auch erkennen, wann Expertise benötigt wird, die außerhalb ihres Kompetenzbereichs liegt. Und es ist eine zentrale grundlegende Kompetenz, andere Professionen präzise zu informieren und eine gute interprofessionelle Zusammenarbeit zu pflegen.
Opfer von geschlechtsspezifischer Gewalt oder Missbrauch, Frauen, die soziale Benachteiligung erfahren oder emotional beeinträchtigt sind, sowie Frauen, die ein Risikoverhalten wie Suchtmittelgebrauch zeigen: In allen Situationen müssen Hebammen die jeweiligen Anzeichen erkennen und die entsprechende Hilfe anbieten.
Die Betreuung von Frauen mit ungewollter oder ungeplanter Schwangerschaft gehört ebenfalls zum internationalen Kanon der Kompetenzen. Hebammen benötigen umfassendes Wissen über Familienplanungsmethoden und auch Notfallkontrazeptiva, legale Möglichkeiten des Schwangerschaftsabbruchs und die eingesetzten Medikamente. Hebammen sollen Frauen im Rahmen ihrer gesetzlichen Zuständigkeiten über ihre Möglichkeiten beraten können, sie bei einer Entscheidungsfindung unterstützen und bei der Suche nach einer geeigneten Einrichtung für einen Schwangerschaftsabbruch. In der letzten Überarbeitung und Korrektur des Dokumentes ergänzte der ICM diesen Kompetenzbereich: Demnach sollen Hebammen auch über die Kompetenzen verfügen, Medikamente verschreiben, dosieren und verabreichen zu können, um einen medikamentösen Abbruch einzuleiten.
Außerdem sollen Hebammen in der Lage sein, eine manuelle Vakuumaspiration bis zur 12. Schwangerschaftswoche durchzuführen. Allerdings soll diese Fertigkeit nur entsprechend der beruflichen Regelungen eingesetzt werden – in Deutschland zum Beispiel sind zur Durchführung von Schwangerschaftsabbrüchen nur Gynäkologen berechtigt. Der ICM weist darauf hin, dass für diese Tätigkeit eine zusätzliche Qualifizierung vorhanden sein muss. Es ist also klar, dass nicht alle Hebammen in jedem Land über diese Kompetenzen verfügen oder diese einsetzen dürfen.
Kompetenzprofil zur Orientierung
Welchen Nutzen haben Hebammen in Deutschland von der Aufstellung der »grundlegenden Kompetenzen für die Hebammentätigkeit«? Ist der Aufwand der jahrelangen Recherche und wissenschaftlicher Erhebungen gerechtfertigt? Zuerst einmal ist es extrem motivierend, zu lesen, wie umfassend und anspruchsvoll das eigene Berufsfeld ist. Gleichzeitig ist das Dokument Erinnerung und Hinweis: Ist man wirklich in allen Bereichen auf dem neuesten Stand? Hat man sich als Hebamme in einer bestimmten Situation so verhalten, wie es den Kompetenzen des Berufsstandes entspricht? Oder stellt man bei einer kritischen Prüfung fest, dass aktuelles Fachwissen fehlt, beispielsweise über den Datenschutz, oder auch Kompetenzen für einen guten Umgang mit anderen Berufsgruppen? Als eine Art Checkliste verwendet, kann man Entwicklungs- und Fortbildungsbedarf für sich feststellen. Nicht nur für erfahrene Hebammen, auch beim Erlernen des Berufes gibt ein Kompetenzprofil eine Orientierung.
Heue wird sowohl in der Allgemeinbildung als auch in der beruflichen Bildung kompetenzorientiert gelehrt und geprüft. Ein Teilziel aus dem Hebammengesetz ist zum Beispiel: Hebammen sollen »während der Geburt Frauen (…) betreuen und das ungeborene Kind mit Hilfe geeigneter klinischer und technischer Mittel (…) überwachen« (§ 9, Absatz 4, h). Aber was müssen AbsolventInnen in der Prüfung für ein Verhalten zeigen, was müssen sie tun, wie müssen sie es tun, damit die Prüferinnen die Leistung als sehr gut, gut oder nicht ausreichend bewerten? Hierfür werden Kompetenzbeschreibungen eingesetzt, die sehr differenziert Verhaltensweisen und Tätigkeiten aufzeigen. In den »Grundlegenden Kompetenzen« steht unter anderem, dass eine Hebamme in der Geburtsbetreuung »die Bewegungsfreiheit fördert und zu aufrechten Haltungen ermutigt« sowie »für Nahrung und Flüssigkeiten sorgt« (Kategorie 3a, Seite 19). PraxisanleiterInnen oder PrüferInnen würden also von Studierenden erwarten, dass sie diese Angebote machen, wenn die Situation es zulässt.
Was müssen Studierende können?
Zu der Studien- und Prüfungsverordnung für Hebammen (HebStPrV) gehört in der Anlage 1 eine Zusammenstellung von Kompetenzen, die leider nicht so hohe Anforderungen erfüllt. PraxisanleiterInnen in einer Geburtssituation wie beschrieben würden dort keine Hinweise finden, was genau Studierende zeigen müssen, damit sie eine gute Bewertung erhalten. In Anlage 1 der HebStPrV steht hierzu nur, dass AbsolventInnen über »evidenzbasierte Kenntnisse und Fertigkeiten zur Förderung der physiologischen Geburt« verfügen sollen, und dass sie »physiologisch verlaufende Geburten bei Schädellage« leiten. Nun ist es Auslegungssache, was eine gute Hebamme ausmacht. Und es können auch Fertigkeiten und Verhaltensweisen zu guten Noten führen, die nicht dem Standard von Hebammentätigkeit entsprechen, den der ICM wissenschaftlich fundiert erstellt hat.
Ein Kompetenzprofil schafft Veränderung
In Studiengängen, an Hochschulen und in der Praxis sollte also ergänzend zu den Vorgaben in der HebStPrV ein differenzierteres Kompetenzprofil verwendet werden, basierend auf dem Standard des ICM. Der Schweizerische Hebammenverband, das Österreichische Hebammengremium und der Deutsche Hebammenverband haben daher die »Essential Competencies for Midwifery Practice« übersetzt. In Deutschland sind die »Grundlegenden Kompetenzen für die Hebammentätigkeit« auf der Seite des DHV veröffentlicht (https://www.hebammenverband.de/verband/berufspolitik/internationales/).
Zusätzlich hat die Bildungskommission des DHV die internationale Version überarbeitet und an die Rechts- und Arbeitslage in Deutschland angepasst. Diese »Kompetenzen von Hebammen« spiegeln detailliert Hebammenarbeit in Deutschland wider (DHV 2019). So wurden unter anderem die Kursarbeit, die Einzelanleitung und betriebswirtschaftliche Grundlagen für die freiberufliche Hebammentätigkeit ausgearbeitet. Auch differenzierte digitale Kompetenzen sind verankert worden. Zusätzlich ist der Bereich der Kommunikation innerhalb von Teams und interprofessionell erweitert worden.
Es macht regelrecht Freude, wenn man sich zum Beispiel mit den Kompetenzen in der Kommunikation und Zusammenarbeit befasst. Demnach sollen alle Hebammen über die Kompetenz verfügen, »ihre vorbehaltenen Tätigkeiten verantwortlich« auszugestalten und »hebammenwissenschaftliche Erkenntnisse im intra- und interprofessionellen Team« zu positionieren. Hebammen »bearbeiten interprofessionelle Konflikte in einem gemeinsamen Aushandlungsprozess und beteiligen sich an der Entwicklung und Umsetzung einrichtungsbezogener Konzepte zum Schutz vor Gewalt« (DHV: Kompetenzen von Hebammen, Kompetenz 1.10.3, Seite 13).
Dies sind nur Ausschnitte, aber es wird deutlich: Würden Hebammen entlang einer solchen ausführlichen Kompetenzauflistung qualifiziert und geprüft, würde auch in der Praxis der Geburtshilfe und der Zusammenarbeit etwas verändert werden. Teams werden beeinflusst, wenn die Lernenden und jungen KollegInnen entsprechend geschult und geprüft werden und ihre Kompetenzen nach dem Examen selbstverständlich einsetzen.
Die Frage, wann eine Hebamme kompetent ist, ist sehr wichtig. Einheitliche konkret benannte Kompetenzen, orientiert an internationalen Standards, sollten in Deutschland überall verwendet werden.