Wilhelm Reich und seine Frau Ilse Ollendorf Reich mit dem 1944 geborenen Sohn Peter, der laut Thomas Harms ein Schreisyndrom gehabt haben soll. Illustration: © Birgit Heimbach

Das Zentrum für Primäre Prävention und Körperpsychotherapie (ZePP) von Thomas Harms bezieht sich auf den Arzt und Sexualforscher Wilhelm Reich. Wer war dieser Mann, der eine Lebenskraft namens Orgon entdeckt zu haben glaubte und in dem Projekt »Kinder der Zukunft« Säuglinge beforschte?

Die Thesen und die Forschung des Psychotherapeuten und Naturforschers Wilhelm Reich (1897–1957) bilden die Grundlage für das Konzept der EEH des Körperpsychotherapeuten Thomas Harms. Reich gilt gleichsam als der Vater der Körperpsychotherapie, seine Säuglingsforschung hat Harms köperorientierte Kurzzeittherapie für Eltern und Babys in emotionellen Krisen stark geprägt (siehe auch DHZ 4/2019, Seite 68ff.).

Harms, der von 2011 bis 2015 als erster Vorsitzender der Wilhelm-Reich-Gesellschaft zur Erforschung lebensenergetischer Prozesse e.V. amtiert hatte, sieht sich als Nachfolger Reichs, und entwickelt dessen Methoden weiter.

Mit seinem Ansatz geht er einen etwas anderen Weg als Reichs Tochter aus erster Ehe, die Ärztin und Geburtshelferin Dr. Eva Reich, die ihre Art der Körperpsychotherapie als »Sanfte Bioenergetik« bezeichnete. Sie baute ab 1950 eine präventive Bewegungstherapie für eine sogenannte energetische Ausgeglichenheit der Babys auf, in der sie deren neurotische Abwehr zart lösen wollte. Diese Therapie vermittelte sie in Fortbildungen auch an Hebammen.

Die EEH von Harms geht, Wilhelm Reich folgend, davon aus, dass der liebevolle Dialog der Eltern mit dem Baby nur mit einem entspannten Körper gelingt. Zu seinen Kriseninterventionen bei anhaltenden Regulations- und Bindungsstörungen in der ersten Zeit nach der Geburt gehört daher ebenfalls eine bestimmte Art von Berührung. Ab 1992 begann Harms, die reichianische Körperpsychotherapie mit Erkenntnissen von Säuglings- und Bindungsforschern zu verbinden. Auf der 8. Fachtagung in Oldenburg »Wurzeln der Bindung« im September 2013 zeigte er mit einer Ausstellung von Reichs Lebensstationen und Theorien deutlich seine Nähe zu dessen therapeutischem Konzept. Manch einer mag sich gewundert haben, dass Harms sich als Therapeut nicht deutlich von diesen teils abstrus wirkenden Theorien distanziert. Aber Harms, Gründer des Zentrums für Primäre Prävention und Körperpsychotherapie (ZePP) in Bremen, akzeptiert grundlegende Theorien von Reich, etwa dessen Vorstellung vom sogenannten Orgon.

Wissen Hebammen und andere, die mit der EEH arbeiten, genügend von diesem Konzept, um eine Arbeit mit Säuglingen bewerten zu können, die im Wesentlichen auf den Theorien und Vorstellungen von Reich fußt?

Wilhelm Reich und seine Thesen

Die Wilhelm-Reich-Gesellschaft bezeichnet ihren Namensgeber als einen der faszinierendsten und strittigsten Wissenschaftler. Mit der Erforschung einer universellen Lebensenergie (Orgon) sei der Arzt und Psychotherapeut Wilhelm Reich, der in Dobzau in Galizien (Österreich-Ungarn) geboren wurde, einer der wichtigsten Pioniere einer postmaterialistischen Wissenschaft. Ihm wird zugesprochen, dass er zentrale Fragen seines Gesamtwerks, wie »Was sind die Quellen und Störungen des Lebendigen in Mensch, Gesellschaft und Natur?«, plausibel beantworten könne. So sei Krebs eine Art Schrumpfungs-Biopathie und sei begründet in einem Organismus, der schwer gestört sei durch »emotionale Blockaden«, die durch eine »sexualfeindliche Erziehung« erworben seien (> www.wilhelm-reich-gesellschaft.de/downloads/wr_einfuehrung.pdf).

Die Gesellschaft publiziert dessen Thesen in Bezug auf Krankheit eher unkritisch als nachvollziehbare Einsicht und vermittelt an Interessierte Orgon-Therapeuten oder Körperpsychotherapeuten, die mit der Arbeit von Reich vertraut sind (www.wilhelm-reich-gesellschaft.de/content/frühkindliche-forscherpersönlichkeit).

Den LeserInnen dieser Publikationen wird als »berechtigte Frage« unterstellt, warum »Reich nicht den Nobelpreis erhalten hat«. Und es ist der kryptische Satz zu lesen, dass sich Reichs Erkenntnisse vermehren und im Verborgenen reifen.

Orgon: die vitale Lebenskraft

Orgon stand im Zentrum von Reichs Therapie, ein Begriff, den er vielsagend aus Orgasmus und Organismus kreierte: eine Energie, die er zunächst als biologisch, später als urzeitlich kosmisch bezeichnete. Als selbstregulierende vitale Lebenskraft sei sie an allen lebendigen Vorgängen beteiligt und bilde die Grundlage von Gesundheit. Wenn Menschen zu wenig davon hätten, müsse sie ihnen wieder zugefügt werden: Durch verschiedene Interventionstechniken könne die energetische Pulsation angeblich wieder angeregt werden. Zarte Berührung, vertiefte Atmung und Massage würden chronische muskuläre Verspannungen etwa im Becken auflösen, die in ihnen festgehaltenen unterdrückten Gefühle vor allem sexueller Natur würden spürbar gemacht und ausgedrückt. Auch Harms achtet bei der Behandlung der Kinder sehr stark auf die Aktivität des Beckens. Generell galt für Reich: Nur der – wie er es nannte – »genitale« Charakter, der sich dem unkontrollierten Zucken des Orgasmus hingebe, sei frei von Blockaden. Neurosen entstünden schlicht aufgrund von gestauter Libido.

Die Orgon-Therapie beeinflusse den Organismus durch alle Ebenen hindurch, von Muskeln über Bindegewebe und vegetatives Nervensystem bis hin zum Plasmasystem – so einer der vielen von Reich neu geschöpften Begriffe, mit dem er eine Art bioenergetischen Kern bezeichnete. Durch Lenkung und Bahnung vorhandener Energie würde die Selbstregulation aktiviert, die organismische Pulsation wieder angeregt und die Selbstheilung eingeleitet.

Reich war davon überzeugt, dass er Orgon-Energie Ende der 1930er Jahre in einer tiefgekühlten sogenannten Bionkultur entdeckt und gesehen habe: kleine pulsierende, sich selbst entwickelnde Bläschen, die blaues Licht ausstrahlten. Diese Funktionseinheiten aller lebendigen Materie sollen laut dem Psychologen und Reich-Kenner Dr. Andreas Peglau dem chinesischen Chi oder indischen Prana oder Albert Einsteins Äther entsprechen. Reich hatte schließlich die Idee, Orgon-Energie in eigens dafür kon­struierten Kästen anzureichern. Darin sollte man 30 Minuten am Tag sitzen, um diese Energieform auftanken zu können. Diese sogenannten Orgon-Akkumulatoren bestanden aus Holz, die mit Schichten aus Wolle und Stahlwolle ausgekleidet wurden, um Orgon-Energie aus der Umgebung darin zu konzentrieren und für eine Übertragung auf den Organismus stabil zu halten. Die Energie sollte sich mit bläulichen Lichterscheinungen und leicht erhöhter Temperatur bemerkbar machen.

Einstein lehnte die Erfindung ab, was Reich tief enttäuschte, ihn aber von der weiteren Forschung nicht abhielt. Denn er meinte, festgestellt zu haben, dass ein Aufenthalt in den Orgon-Akkumulatoren sogar das Blutbild verbessere. Er behandelte damit Krebskranke, die seiner Meinung nach an sogenanntem Sexualstau litten. Es gab später Nachbauten von Wissenschaftlern, um Reichs Orgon-Anreicherung nachzuvollziehen, was jedoch immer erfolglos endete, wie etwa während des Projekts zum Thema Lebensenergieforschung in der Abteilung für Naturheilkunde im Universitätsklinikum Benjamin Franklin der Freien Universität Berlin (1990–1994). Die Wilhelm-Reich-Gesellschaft ist jedoch weiterhin vom Nutzen der Orgon-Therapie überzeugt – und es gibt auch heute noch TherapeutInnen, die mit Akkumulatoren arbeiten.

Filme über Wilhelm Reich

Der österreichische Filmregisseur Antonin Svoboda drehte 2012 den Dokumentarfilm »Wer hat Angst vor Wilhelm Reich?« und wurde hierfür von der Wilhelm-Reich-Gesellschaft beraten.

Ein Jahr zuvor drehte er einen Spielfilm »Der Fall Wilhelm Reich« über Reichs Leben in den USA mit Klaus Maria Brandauer in der Hauptrolle. Thematisiert wird seine Entwicklung zum fragwürdigen UFO-Forscher. Der Film wurde 2012 auf der Viennale uraufgeführt und kam 2013 in die deutschen Kinos.

Babyforschung: Kinder der Zukunft

Reichs Sohn Peter, der 1944 aus seiner dritten Ehe hervorging, war für Reich der »lebendige Beweis für die angeborene Anständigkeit und Aufrichtigkeit des Lebensprozesses, wenn dieser nicht gestört wird.« Kinder solle man in ihrer Entwicklung sich selbst überlassen. »Der Kern allen Elends scheint sich gebildet zu haben, als die erste Mutter dem ersten Kind verboten hat, Liebe auf natürliche Weise zu erleben. Die Gründe lagen laut Reich in der langen Geschichte der gefühls- und sexualfeindlichen Sozialisation des Patriarchats«, fasste Peglau zusammen (andreas-peglau-psychoanalyse.de/rechtsruck-im-21-jahrhundert-vortrag-von-andreas-peglau-2018/).

Gemeinsam mit seinem Freund Alexander Neill, dem Leiter des heute sehr kontrovers diskutierten britischen Summerhill-Schulprojektes, entwickelte Reich Konzepte für die Kinder der Zukunft. Eine gesunde Generation war sein Ziel. Er postulierte: »In unseren hochgeehrten Geburtshospitälern werden die Babys nicht an die Mutterbrust gelegt … Das Neugeborene, soeben aus dem … warmen Uterus herausgerissen… darf den warmen Mutterleib nicht spüren … Hier, genau hier und an keiner anderen Stelle, werden im Neugeborenen die Grundlagen für die Kriegsbereitschaft gelegt: Das Neugeborene reagiert … mit Kontraktion«. (Reich 1985)

Ende 1949 begann Reich in New York ein Projekt mit Schwangeren und ihren Neugeborenen, die er »unverdorbenes Protoplasma« (unspoiled Protoplasm) und »pure Lebensenergie in Bewegung« nannte. Er nahm sich vor, Störungen ihrer emotionalen und körperlichen Selbstregulation durch frühzeitige Interventionen im Keim zu ersticken. Es sollte ein Langzeitprojekt mit rund 30 MitarbeiterInnen werden, darunter SozialarbeiterInnen und ÄrztInnen.

Harms flog vor einigen Jahren nach Boston, um im dortigen Orgonomic Infant Research Center die Unterlagen zu dieser Babyforschung genau zu lesen. 2013 fasste er seine Nachforschungen in der Veranstaltungsreihe »Was ist Leben? – Beiträge zur Wissenschaft von morgen« in der sogenannten Orgon-Lounge der Wilhelm-Reich-Gesellschaft zusammen und betonte, dass Reich wohl auch durch eine private Not Babys beforscht habe. Reich hätte nämlich offensichtlich Probleme mit der nonverbalen Umgangssprache seines kleinen Sohnes gehabt. Dieser hatte wohl ein Schreisyndrom, diagnostizierte Harms. Reich bekam keinen guten Kontakt zu seinem Sohn. Da er aus jeder Not eine Tugend machte, so Harms, entwickelte er das Projekt. Um die Entwicklung der Kinder zu beobachten wurden die rekrutierten Schwangeren in zwei Gruppen eingeteilt: »normale Frauen« mit wenig »Panzerungen« (Verhärtung aus Angst) und Frauen, denen er leichte Auffälligkeiten zuschrieb. Frauen mit eindeutigen Verhaltensauffälligkeiten, darunter Neurosen und »Panzerungen«, hatte er zuvor ausgesiebt, weil er diese Störungen offenbar als zu gravierend für sein Vorhaben einstufte, gesunde Nachkommen zu schaffen.

Illustration: © Birgit Heimbach

Orgonische Begleitung vor und nach der Geburt

Zum Projekt gehörte eine orgonische Begleitung vor und nach der Geburt. Zum ersten Mal fiel der Begriff Emotional first Aid (Emotionale erste Hilfe), bei der es darum ging, Bindungs- und Entwicklungsstörungen zu beheben. Bedingungen für die Teilnahme waren: eine Hausgeburt mit einer Hebamme und einem orgonomisch geschulten Arzt, die Anwesenheit des Partners, der die Atmung seiner Frau unterstützen sollte, das direkte Anlegen des Kindes nach der Geburt und der Verzicht auf Silbernitrat. Die Babys sollten auf dem Rücken schlafen. Die Frauen sollten in der Schwangerschaft und später mit dem Kind regelmäßig in einem Akkumulator Orgon-Energie auftanken.

Thomas Harms berichtete von Schwierigkeiten, die sich im Verlauf des Projektes entwickelten. Um das Beste für ihre Kinder zu erreichen, hätten sich beispielsweise Mütter mit ihren hohen Ansprüchen an sich selbst überfordert. Es kam auch zu Problemen zwischen Reich und den MitarbeiterInnen – etwa in Bezug auf seine Ausführungen zu Genitalität, frühen Beckenbewegungen und Lustempfinden sowie frühkindlichem Orgasmus. So nahm Reich unter anderem an, dass »auch der Stillvorgang hauptsächlich eine Sexualäußerung sei, wobei sich kindlicher Mund und mütterliche Brust gegenseitig erregten und es zum kindlichen oralen Orgasmus kommt.« (Reich 1985) Die Schwierigkeiten führten dazu, dass das Projekt 1951 beendet werden musste.

Harms meint, dass es Reich schlicht an Empathie gefehlt habe. Er selbst würde gerne an dem Projekt weiterarbeiten, wie er in seinem Vortrag in der Orgon-Lounge betonte. Als Anhänger von Reich bezeichnet er seine Arbeit mit Babys und ihren Eltern als Orgon-Therapie.

Reichs Leben

Woher kam Wilhelm Reichs Radikalität und seine Thesen, in denen er beispielsweise penetrant die Ursache für Krankheiten auf eine unerfüllte Sexualität zurückführte? War seine Biografie mitverantwortlich für seinen Blick auf Sexualität? War es eventuell eine prägende Erfahrung für ihn, dass er als Elfjähriger seinem Vater vom Ehebruch der Mutter erzählte, woraufhin sich diese später umbrachte? Der Vater verfiel nach dem Suizid seiner Frau in Depressionen und verstarb.

Nachdem Reich im Ersten Weltkrieg an der Front war, studierte er in Wien Medizin und wurde in einem Seminar über Sexualität auf den Psychoanalytiker Sigmund Freud aufmerksam, dessen Schüler er wurde. Diese Jahre waren geprägt durch qualvoll ungestillte Sehnsucht nach Partnerschaft und Sexualität. Reich sammelte in dieser Zeit zahlreiche sexuelle Erfahrungen unter anderem in Bordellen
(> www.wilhelm-reich-gesellschaft.de/sites/default/files/WR_KongressAusstellung_Peglau2007_rekomprimiert_aus_Einzelseiten2013.pdf).

In der Zeit, als er unter Freud in Wien bereits PatientInnen psychoanalytisch behandelte, schrieb er unter dem Eindruck seiner Erfahrungen: »Ich behaupte, dass den seelisch Erkrankten nur eines fehlt: wiederholte sexuelle Befriedigung. Die seelische Erkrankung ist Folge der orgastischen Impotenz.« 1920 heiratete er die Medizinstudentin Annie Pink und führte mit ihr eine sexuell offene Beziehung. Seine Töchter Eva und Lore gab er in ein kommunistisches Kinderheim, überzeugt von der Notwendigkeit einer Kollektiverziehung. Lore Reich schrieb später: »Nachdem das mit dem Kinderheim nicht funktionierte, stellte sich heraus, dass Reich das Familienleben nicht ertrug. Das leitete das Ende der Ehe meiner Eltern ein.« (> www.wilhelm-reich-gesellschaft.de/sites/default/files/WR_KongressAusstellung_Peglau2007_rekomprimiert_aus_Einzelseiten2013.pdf)

1928 gründete Reich die Sozialistische Gesellschaft für Sexualberatung und Sexualforschung, die Erwachsene und Jugendliche zu Geburtenkontrolle, Sexual- und Beziehungsproblemen beriet. In Berlin, wo Reich sich oft mit dem Psychoanalytiker Erich Fromm traf, gründete er die Körperpsychotherapie. Außerdem befasste er sich mit der Massenpsychologie des Faschismus, die für ihn eine emotionelle Grundhaltung des autoritär unterdrückten Menschen war.

Reich geriet auf die Schwarze Liste der Nazis, flüchtete nach Skandinavien und entwickelte in Oslo zunächst die Vegetotherapie, entsprechend der Vorstellung einer vegetativen Strömung, bei der er mit Berührung und Atmung arbeitete. Er war überzeugt vom Phänomen der lustvollen Expansion des Körpers und der kontraproduktiven ängstlichen Kontraktion mit anschließender Verpanzerung, die er auch bei Einzellern beobachtet haben wollte. Da diese Theorien in Norwegen auf wenig Verständnis stießen, ging Reich in die USA.

Vater der sexuellen Revolution?
Wilhelm Reich glaubte, alle Neurosen seien sexueller Natur. Willy Brandt, Bundeskanzler von 1969 bis 1974, der Reich im Exil in Norwegen kennengelernt hatte, sagte über ihn: »Die Idee, dass autoritäre Herrschaft auch etwas zu tun hat mit sexueller Unterdrückung, war für viele fremd. Reich zeichnet aus, dass er gewissen Zusammenhängen Aufmerksamkeit gewidmet hat.« Hippies der 1960er Jahre mag er quasi als Vater der sexuellen Revolution den theoretischen Überbau zu ihrem Motto »Fuck for Peace« geliefert haben.

Radioaktive Experimente

1942 kaufte Reich eine Farm in Maine, benannte sie »Orgonon« und führte mit MitarbeiterInnen und SchülerInnen gewagte Experimente durch. Zum Beispiel gab er 1950 ein Milligramm Radium in einen Akkumulator, weil er meinte, Orgon-Energie würde die atomare Strahlung neutralisieren. Das Ergebnis: Die Radioaktivität kontaminierte das gesamte Gelände und es musste evakuiert werden. Bei den MitarbeiterInnen kam es zu gesundheitlichen Schäden.

Trotz seiner Rückschläge folgte Reich unbeirrt seinen Ideen. So verlegte er beispielsweise Metallschläuche in einem Brunnen und richtete sie als sogenannte Cloudbuster auf Wolken, um sie aufzulösen. Angeblich gelang es ihm, es regnen zu lassen. Seine Theorie: Wüstenbildung könne das Resultat atmosphärischer Erstarrung sein und sei mit der Entstehung von Krebs vergleichbar. Tumore würden dort entstehen, wo der Fluss der Lebensenergie blockiert sei.

Reich war nicht zu stoppen, sah Parallelen in der sexuellen Verschmelzung des Menschen und der Entstehung von Galaxien. Es gab Gerüchte, dass er »Geisteskranke« in seinen Orgon-Akkumulatoren zum Orgasmus zwang. Die für medizinische Heilmethoden zuständige US-Behörde FDA schaltete sich ein. Daraufhin musste Reich 1956 seine Akkumulatoren zerstören, alle Publikationen, in denen das Wort Orgon vorkam, wurden verbrannt. Reich widersetzte sich und kam ins Gefängnis, wo er 1957 an Herzversagen starb. Er hatte zuvor behauptet: »Ich habe falsch gehandelt, indem ich die Naturkraft der Natur, die seit Jahrtausenden in vielen Sprachen Gott genannt wurde, entdeckt und erreichbar gemacht habe. Ich bin weder wahnsinnig noch ein Schwindler. Meine Entdeckungen entsprechen einfachen Naturgesetzen.«
(> www.geomantie.net/article/read/4898.html)

Notfall-Polarity

Im Hinblick auf die Effektivität einer Art Orgon-Therapie mit Säuglingen provoziert der Flyer, in dem Harms zusätzlich zur EEH zum weiterführenden Kurs »EEH-Notfall-Polarity« rät, weitere Zweifel: »In der Praxis der Eltern-Baby-Beratung/-Therapie machen wir die Erfahrung, dass die bekannten ressourcenstärkenden Handwerkszeuge aus der EEH keine anhaltende Stabilität bewirken. Traumatisch bedingte Bindungsabbrüche und Zustände von Ohnmacht und Verzweiflung sind trotz EEH-Intervention weiter fester Bestandteil im Erleben der Klienten.« Die EEH-Notfall-Polarity soll helfen, indem jeweils zwei Knochenpunkte in verschiedenen Bereichen des Körpers bioenergetisch miteinander verbunden werden. Das sei, so Harms, schocklösend.

Resümee

Verständlich, dass Reich in seinen extremen Auffassungen und seiner Originalität faszinierte. Zugleich verwunderlich, dass sich wesentliche Elemente seiner bizarr anmutenden Vorstellungen aus einer längst verjährten Epoche in heutigen Therapien wiederfinden.
Auf jeden Fall sollten sich alle intensiv mit Reich befassen, die vorhaben, sich in EEH ausbilden zu lassen oder es bereits einsetzen. Und sie müssen sich fragen, ob der Anteil an der EEH, der auf ihn zurückgeht, für sie stimmig ist.

Die Frage, die Antonin mit seinem Film »Wer hat Angst vor Wilhelm Reich«?« formulierte, war wohl eher ironisch gemeint – aber erscheint mit einem distanzierten Blick auch berechtigt. Jede(r) sollte Hemmungen bei Methoden haben, die sich mit normalem Menschenverstand nicht nachvollziehen lassen.

Zitiervorlage
Heimbach B: Wer hat Angst vor Wilhelm Reich? DEUTSCHE HEBAMMEN ZEITSCHRIFT 2019. 71 (7): 60–64
Literatur

Harms Th (Hrsg.): Körperpsychotherapie mit Säuglingen und Eltern. Grundlagen und Praxis. Gießen 2016

Hinchey K, Orkin G: Wilhelm Reich – Love, Work and Knowledge. The Life and Trials of Wilhelm Reich. Dokumentarfilm 2017

Peglau A.: Unpolitische Wissenschaft? Wilhelm Reich und die Psychoanalyse im Nationalsozialismus. Gießen 2013

Reich W: Children of the future. New York 1985

Reich W: Where’s the Truth? Letters and Journals, 1948–1957. New York 2012

Schendel V: Dr. Wilhelm Reich. Books on Demand 2016

Swoboda A: Film: Wer hat Angst vor Wilhelm Reich? 2009

Swoboda A: Film: Der Fall Wilhelm Reich. 2012

Degenhardt C: Rezension: Thomas Harms (Hrsg.): Körperpsychotherapie mit Säuglingen und Eltern. Grundlagen und Praxis

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