Kommt es zu einer eklatanten Verletzung des Kindeswohls oder zu einer nachgewiesenen Kindesmisshandlung mit relevanten Verletzungen, wird den staatlichen Institutionen rasch und gerne medienwirksam Versagen vorgeworfen. Das mag in einigen Fällen zwar seine Richtigkeit haben, doch muss klar sein, dass sich alle HelferInnen – einschließlich der Gerichte – an den definierten rechtlichen Rahmen zu halten haben. Häufig verstehen auch die medizinischen HelferInnen nicht, warum »das Jugendamt das Kind nicht aus der Familie herausnimmt«. Aus diesem Grunde ist es wichtig, die Rahmenbedingungen des Gesetzgebers kurz zu erläutern.
Die rechtliche Situation scheint für die JuristInnen zwar klar zu sein, dennoch lässt sich der Einzelfall nicht immer gut abbilden. Auch die Gerichte haben in der Regel das Wohl des Kindes im Fokus, dennoch können Entscheidungen nur im Rahmen der gesetzlichen Regeln erlassen werden. Viele Kindesmisshandlungen befinden sich für JuristInnen in einer »Grauzone«. Auch ist zu bedenken, dass es nicht unser aller Ziel sein kann, möglichst viele Kinder aus den Familien herauszunehmen und sie fremd zu platzieren (siehe Abbildung 4).
Das Kindeswohl steht in einem Spannungsfeld aus drei Komponenten:
- die Rechte und Bedürfnisse des Kindes
- die Rechte und Pflichten der Eltern
- die Rechte und Pflichten der staatlichen Organe.
Die rechtlichen Rahmenbedingungen sind im Grundgesetz in Artikel 6, Absatz 2, festgelegt: »Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und zuvorderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Erfüllung wacht die staatliche Gemeinschaft.« Bereits diese Formulierung legt es fest: Elternrecht steht immer vor Kinderrecht. Das führt zum Teil zu absurd erscheinenden Gerichtsurteilen, wenn ein fremdplatziertes Kind Jahre nach einer nachgewiesenen Kindesmisshandlung aus einer liebevollen Pflegefamilie herausgenommen wird und per Gerichtsentscheid wieder zu den leiblichen Eltern zurückgehen muss. Grundlage der Gerichtsentscheidung ist die Bewertung, dass das Kind den leiblichen Eltern gehört und dass seine persönliche Weiterentwicklung zurückzustehen hat, auch wenn dies für das Kind eine Benachteiligung bedeutet!
Zwar legt das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) in § 1631, Absatz 2, fest: »Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Strafen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.« Doch in § 1666 a BGB definiert der Gesetzgeber den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bei einem Entzug des Personensorgerechts:
- Maßnahmen, mit denen eine Trennung des Kindes von der elterlichen Familie verbunden ist, sind nur zulässig, wenn der Gefahr nicht auf andere Weise (…) begegnet werden kann.
- Die gesamte Personensorge darf nur entzogen werden, wenn andere Maßnahmen erfolglos geblieben sind oder wenn anzunehmen ist, dass die zur Abwendung der Gefahr nicht ausreichen.
Liegt eine nachgewiesene Kindesmisshandlung vor, ist die rechtliche Situation eindeutig. In 50 bis 60 % der Fälle ist aber dieser Tatbestand nicht gegeben. In diesen Fällen stehen die RichterInnen vor dem Problem einer juristischen Abwägung. Hilfe anzuordnen ist immer vorrangig und muss dann durch die staatlichen Organe wie beispielsweise das Jugendamt umgesetzt werden. Falls sich kein Erfolg zeigt, weil die Eltern nicht kooperieren oder es zu einer neuen nachgewiesenen Misshandlung gekommen ist, dann lautet die Auflage des Gerichtes im nächsten Schritt meist, die Hilfsangebote zu erhöhen. Das bedeutet, es müssen erst die Hilfsangebote ausgeschöpft sein. Weiterhin steht die Kindeswohlgefährdung im Mittelpunkt. Erst dann kann das Gericht den Eltern die gesamte Personensorge entziehen. Eine hohe Hürde ist also zu nehmen: Das Kind muss im Einzelfall viel Leid ertragen, bevor sein Schutz mit der Herausnahme aus der Familie höher zu bewerten ist als das Recht der Eltern auf ihr Kind.
Wurde eine Kindesmisshandlung nachgewiesen, greift das Strafgesetzbuch. Dort sind die »Straftaten gegen das Leben« (also Tötungsdelikte) und die »Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit« aufgelistet, von der »Fahrlässigen Körperverletzung« bis hin zur »Vergewaltigung«. Das betrifft ausschließlich die TäterInnen und hat für die kindlichen Opfer keine schützende Bedeutung. TäterInnen müssen überführt und entsprechend ihrer festgestellten Straftat verurteilt werden.
Wie bereits erwähnt, können RichterInnen also nur einschreiten, wenn dem Kind bereits etwas passiert ist, eine Prävention im Sinne einer Herausnahme ist laut Gesetz kaum möglich. Hilfreich ist natürlich, wenn es gelingt, die Eltern zur Mitarbeit zu gewinnen. Erst nach einem Vorfall können RichterInnen Opfer durch eine Inobhutnahme und durch ein Kontaktverbot schützen. In dem Fall tritt das VIII. Sozialgesetzbuch, Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG), in Kraft. Dort ist unter anderem der Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung in § 8 a festgelegt. Darin ist enthalten, dass nach einer Meldung zu einer Kindeswohlgefährdung das Jugendamt prüfen muss und dass ÄrztInnen von der Schweigepflicht befreit sind.
Nun kann auch das Jugendamt tätig werden: Ist eine Intervention laut KJHG angeordnet, darf nach § 42 eine Inobhutnahme angeordnet werden. Dazu erfolgt nach § 50 eine Zusammenarbeit des Jugendamtes mit den Familien- und Vormundschaftsgerichten. Darin ist auch die Erstellung eines Hilfeplans vorgesehen.