Woran liegt es, dass Kinder in einer Umgebung, in der sie behütet aufwachsen sollen, so viel Leid erfahren? Die Gründe sind vielfältig, die Auswege schwer zu finden. Denn nach unserem Rechtssystem darf erst eingegriffen werden, wenn das Kindeswohl akut bedroht ist oder wenn bereits ein Vorfall eingetreten ist. Ein Plädoyer für eine stärkere Prävention.

Die Zahlen sind erschreckend: 2019 haben Jugendämter bei rund 55.500 Minderjährigen eine Kindeswohlgefährdung festgestellt, die Tendenz ist steigend (Statistisches Bundesamt/destatis 2020). Ob Vernachlässigung, seelische oder körperliche Misshandlung oder sexuelle Gewalt: Kinder und Jugendliche scheinen zu Hause nicht sicher zu sein. Dabei spiegeln die Zahlen nur die offiziell gemeldeten Fälle wider, die Dunkelziffer liegt weit höher.

Ein Moment, den ich nie vergessen werde: Als junger Assistenzarzt an einer Klinik hatte ich Nachtdienst und war alleine verantwortlich. Eine vernachlässigt wirkende Frau kam mit einem Kind, das sie in eine angeschmutzte Wolldecke gewickelt hatte. Das etwa acht Monate alte Kind lag leblos, völlig abgemagert und total steif auf unserer Aufnahmeliege – es war tot. Die Mutter monierte, das Kind habe »seit einigen Tagen seinen Schweinebraten nicht mehr gegessen«. Sie habe nun Sorge, dass es ihm nicht gut gehe.

Der Schock saß tief. Im ersten Moment schossen mir Fragen durch den Kopf, was nun direkt zu tun sei. Wer musste informiert werden, was war zu dokumentieren? Polizei, Staatsanwaltschaft, Jugendamt, Chef der Klinik – Fragezeichen über Fragezeichen. Eine Situation, auf die ich nicht vorbereitet war, auf die man sich kaum vorbereiten kann.

Der Schock hielt an. Bis heute hat mich das Thema der Kindesvernachlässigung und Kindesmisshandlung nicht losgelassen. In Vorträgen und Seminaren mache ich darauf aufmerksam, versuche Verbündete zu finden. Auch und besonders bei den Hebammen, die schließlich in der ersten Lebensphase den intensivsten Einblick in das Leben eines Kindes haben und die ihren Einfluss auf niedrigschwelligen Wegen geltend machen können.

Misshandlung hat viele Gesichter

Der Gesetzgeber definiert als Formen der Misshandlung die Kindestötung, die sexuelle Gewaltanwendung, die körperliche Misshandlung und die körperlich-seelische Misshandlung, zu der auch die Vernachlässigung zählt. Die Risikofaktoren sind vielfältig: Sie reichen von einer unerwünschten Schwangerschaft über Armut und Schulden bis hin zu einer psychischen Erkrankung oder Suchterkrankung der Eltern. Derzeit werden deutschlandweit 3,8 Millionen Kinder unter diesen Umständen von ihren Eltern »betreut« oder versuchen, in einem solchen Haushalt zu überleben (siehe Fallgeschichte, am Ende).

Die Hochrisikofamilien sind bekannt. Die Eltern der Kinder, denen eine Misshandlung droht, haben im Vorfeld sehr oft Unterstützungsangebote erhalten. Nach meiner Erfahrung gibt es kaum Misshandlungsfälle aus Familien, die nicht bereits zuvor registriert worden sind. Speziell bei den Tötungsdelikten gibt es vorher zahlreiche Warnsignale, die von den Kindern und deren Eltern gesendet wurden – und die trotzdem »unter dem Radar« geblieben sind.

Abbildung 5: Aufgaben der Jugendhilfe

Ich möchte hier keinesfalls die Jugendämter und andere Betreuer an den Pranger stellen. Ich sehe einige Fehler »im System«; dennoch glaube ich, dass eine frühere Hilfe möglich ist. Mit Empathie, einer guten Beobachtungsgabe und einem beherzten Eingreifen lassen sich Kinder früher schützen. Voraussetzung dafür ist, frühe Anzeichen richtig zu deuten und Kooperationen mit den anderen Helfenden zu suchen. Alle diejenigen, die Kinder in ihrem Umfeld sehen und betreuen, können einen aktiven Beitrag leisten, damit Kindesvernachlässigungen aufgedeckt werden. Kinderschutz ist somit eine Gemeinschaftsaufgabe aller (siehe Abbildung 5).

Formen der Misshandlungen

Beginnen wir mit den sexuellen Misshandlungen. Die Probleme sind in der Regel komplex und bedürfen einer differenzierten Aufarbeitung von erfahrenen Teams. Wichtig ist hier zu erwähnen, dass es meistens nicht ein »perverser Irrer« ist, der die Kinder schändet. In 70 bis 85 % der Fälle kennen sich Kind und Täter bereits im Vorfeld. Weiterhin zeigt beispielsweise der Missbrauchsfall von Bergisch-Gladbach, bei dem ein ganzes Netzwerk von Pädophilen aufflog, dass Täter selbst vor Säuglingen nicht halt machen.

Der Startpunkt für eine Hebamme ist sehr früh. Hebammen können bei ihrer aufsuchenden Tätigkeit in den Familien mit ersten Zeichen einer körperlichen Misshandlung konfrontiert sein. Es gilt, Hautverletzungen wie Hämatome, thermische Verletzungen oder Schnittverletzungen frühzeitig zu erkennen. Sind die Kinder älter, stehen Frakturen, Kopfverletzungen sowie Thorax- und Bauchverletzungen im Mittelpunkt. Es gibt dabei nichts, was es nicht gibt – so grausam es auch ist.

Hohe Aufmerksamkeit in der Presse bekommt meist das Schütteltrauma, bei dem der Säugling schwerste Verletzungen davonträgt. Hierbei kommt es durch das Schütteln des Kindes zu gerissenen Venen im Gehirn und retinalen Blutungen mit katastrophalen und irreparablen Folgen für das junge Kind. Die Folge ist, wenn das Kind die Intensivphase überlebt, dass das »Hirn wegschmilzt, wie Butter in der Sonne«. Die Kinder müssen meist palliativ in einer Pflegefamilie versorgt werden, denn die kognitiven Funktionen sind irreversibel geschädigt. Das Kind wird lebenslang pflegebedürftig bleiben. Wie Hohn wirkt es auf die Helfenden, wenn die Eltern ihren schweren Angriff auf das Leben des Kindes mit der Aussage kommentieren: »Ich wusste ja nicht, dass ich es damit verletze. Ich wollte ja nur, dass das Kind endlich aufhört zu schreien, weil ich in Ruhe Fernsehen schauen wollte«.

Auch Vernachlässigung richtet Schäden an

Sehr viel häufiger als konkrete Misshandlungen erlebt eine Hebamme bei Hausbesuchen die körperliche Vernachlässigung. Die kontinuierliche Ernährung ist nicht ausreichend gesichert, das Kind nimmt nicht zu, minimale Standards der sicheren Versorgung des Säuglings sind nicht gegeben. Die mangelnde Körperpflege mit nassen Windeln oder Kotverschmierungen im Genitalbereich führen zu offenen Hautschäden mit Schmerzen für das Kind sowie zu Infektionsrisiken. Die Kleidung ist nicht adäquat, das Kind ist zu dick verpackt oder es trägt zu dünne Kleidung. Die Schlafstelle wird dem Säugling nicht gerecht. Die Vorsorge- und Impftermine werden nicht eingehalten.

All das sind wichtige Anzeichen, die es notwendig machen, sie wahrzunehmen. Die Hebamme sollte die Eltern ansprechen und schauen, wie sie darauf reagieren. Wichtig ist, dass sie sich selbst Notizen zu den Beobachtungen und Reaktionen macht. Hebammen sollten zudem bedenken, dass bei einem so jungen Kind Stunden ausreichen, um in einen akut lebensbedrohlichen Zustand zu kommen. Eine große Verantwortung lastet auf den Schultern der betreuenden Hebamme. Schwerer feststellbar ist eine emotionale Vernachlässigung, wie mangelnde Ansprache, fehlende Zärtlichkeit und Umsicht in der Versorgung des Kindes. Doch auch das sind Formen der Misshandlung.

Beherztes Eingreifen

Es gilt immer: Alle Formen der Misshandlung oder Vernachlässigung stellen einen »Frontalangriff auf die Gesamtpersönlichkeit des Kindes mit lebenslangen Folgen« dar. Zu den Langzeitfolgen aller Misshandlungen zählen Auffälligkeiten, wie eine höhere Rate beim gesundheitsgefährdenden Verhalten, eine erhöhte Rate von Suiziden und vermehrte Erkrankungen bis hin zu einem früheren Tod. Längst hat die Wissenschaft nachgewiesen, dass es einen Zusammenhang zwischen der »Dosis« der Belastungsfaktoren in der Kindheit und der Schwere der langfristigen Folgen gibt. Einfacher ausgedrückt: Je länger die Misshandlung oder Vernachlässigung andauert, desto größer sind die lebenslangen Schäden. Daraus ergibt sich ein Umkehrschluss, der einen Silberstreif am Horizont erkennen lässt: Je früher wir etwas entdecken und dann auch eingreifen, umso besser sind die Chancen, die negativen Auswirkungen für das Kind zu begrenzen!

Auch wenn die Rechtslage nicht einfach ist, so lässt sie doch für das Kind schützende Eingriffe zu. Vieles bewegt sich in einer Art »Grauzone«. Es gilt, diese für die Sicherheit des Kindes zu nutzen. Hebammen sind diejenigen, die das größte Vertrauen der Mütter nach der Geburt eines Kindes erhalten. Sie können durch gezielte Beobachtung und gute Kommunikation empathischen Einfluss nehmen. Manchmal sind Anzeichen für eine drohende Kindeswohlgefährdung bereits vor der Geburt feststellbar, wenn zum Beispiel Gewalt gegen die Mutter ausgeübt wird. Auch dies hat Folgen und beeinflusst die Bindung des Kindes an seine Mutter (siehe Kasten: Rechtliches).

Rechtliches
Kleiner juristischer Notfallkoffer
Kommt es zu einer eklatanten Verletzung des Kindeswohls oder zu einer nachgewiesenen Kindesmisshandlung mit relevanten Verletzungen, wird den staatlichen Institutionen rasch und gerne medienwirksam Versagen vorgeworfen. Das mag in einigen Fällen zwar seine Richtigkeit haben, doch muss klar sein, dass sich alle HelferInnen – einschließlich der Gerichte – an den definierten rechtlichen Rahmen zu halten haben. Häufig verstehen auch die medizinischen HelferInnen nicht, warum »das Jugendamt das Kind nicht aus der Familie herausnimmt«. Aus diesem Grunde ist es wichtig, die Rahmenbedingungen des Gesetzgebers kurz zu erläutern.

Die rechtliche Situation scheint für die JuristInnen zwar klar zu sein, dennoch lässt sich der Einzelfall nicht immer gut abbilden. Auch die Gerichte haben in der Regel das Wohl des Kindes im Fokus, dennoch können Entscheidungen nur im Rahmen der gesetzlichen Regeln erlassen werden. Viele Kindesmisshandlungen befinden sich für JuristInnen in einer »Grauzone«. Auch ist zu bedenken, dass es nicht unser aller Ziel sein kann, möglichst viele Kinder aus den Familien herauszunehmen und sie fremd zu platzieren (siehe Abbildung 4).

Das Kindeswohl steht in einem Spannungsfeld aus drei Komponenten:

  • die Rechte und Bedürfnisse des Kindes
  • die Rechte und Pflichten der Eltern
  • die Rechte und Pflichten der staatlichen Organe.

Die rechtlichen Rahmenbedingungen sind im Grundgesetz in Artikel 6, Absatz 2, festgelegt: »Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und zuvorderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Erfüllung wacht die staatliche Gemeinschaft.« Bereits diese Formulierung legt es fest: Elternrecht steht immer vor Kinderrecht. Das führt zum Teil zu absurd erscheinenden Gerichtsurteilen, wenn ein fremdplatziertes Kind Jahre nach einer nachgewiesenen Kindesmisshandlung aus einer liebevollen Pflegefamilie herausgenommen wird und per Gerichtsentscheid wieder zu den leiblichen Eltern zurückgehen muss. Grundlage der Gerichtsentscheidung ist die Bewertung, dass das Kind den leiblichen Eltern gehört und dass seine persönliche Weiterentwicklung zurückzustehen hat, auch wenn dies für das Kind eine Benachteiligung bedeutet!

Zwar legt das Bürgerliche Gesetzbuch (BGB) in § 1631, Absatz 2, fest: »Kinder haben ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Strafen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig.« Doch in § 1666 a BGB definiert der Gesetzgeber den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit bei einem Entzug des Personensorgerechts:

  1. Maßnahmen, mit denen eine Trennung des Kindes von der elterlichen Familie verbunden ist, sind nur zulässig, wenn der Gefahr nicht auf andere Weise (…) begegnet werden kann.
  2. Die gesamte Personensorge darf nur entzogen werden, wenn andere Maßnahmen erfolglos geblieben sind oder wenn anzunehmen ist, dass die zur Abwendung der Gefahr nicht ausreichen.

Liegt eine nachgewiesene Kindesmisshandlung vor, ist die rechtliche Situation eindeutig. In 50 bis 60 % der Fälle ist aber dieser Tatbestand nicht gegeben. In diesen Fällen stehen die RichterInnen vor dem Problem einer juristischen Abwägung. Hilfe anzuordnen ist immer vorrangig und muss dann durch die staatlichen Organe wie beispielsweise das Jugendamt umgesetzt werden. Falls sich kein Erfolg zeigt, weil die Eltern nicht kooperieren oder es zu einer neuen nachgewiesenen Misshandlung gekommen ist, dann lautet die Auflage des Gerichtes im nächsten Schritt meist, die Hilfsangebote zu erhöhen. Das bedeutet, es müssen erst die Hilfsangebote ausgeschöpft sein. Weiterhin steht die Kindeswohlgefährdung im Mittelpunkt. Erst dann kann das Gericht den Eltern die gesamte Personensorge entziehen. Eine hohe Hürde ist also zu nehmen: Das Kind muss im Einzelfall viel Leid ertragen, bevor sein Schutz mit der Herausnahme aus der Familie höher zu bewerten ist als das Recht der Eltern auf ihr Kind.

Wurde eine Kindesmisshandlung nachgewiesen, greift das Strafgesetzbuch. Dort sind die »Straftaten gegen das Leben« (also Tötungsdelikte) und die »Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit« aufgelistet, von der »Fahrlässigen Körperverletzung« bis hin zur »Vergewaltigung«. Das betrifft ausschließlich die TäterInnen und hat für die kindlichen Opfer keine schützende Bedeutung. TäterInnen müssen überführt und entsprechend ihrer festgestellten Straftat verurteilt werden.

Wie bereits erwähnt, können RichterInnen also nur einschreiten, wenn dem Kind bereits etwas passiert ist, eine Prävention im Sinne einer Herausnahme ist laut Gesetz kaum möglich. Hilfreich ist natürlich, wenn es gelingt, die Eltern zur Mitarbeit zu gewinnen. Erst nach einem Vorfall können RichterInnen Opfer durch eine Inobhutnahme und durch ein Kontaktverbot schützen. In dem Fall tritt das VIII. Sozialgesetzbuch, Kinder- und Jugendhilfegesetz (KJHG), in Kraft. Dort ist unter anderem der Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung in § 8 a festgelegt. Darin ist enthalten, dass nach einer Meldung zu einer Kindeswohlgefährdung das Jugendamt prüfen muss und dass ÄrztInnen von der Schweigepflicht befreit sind.

Nun kann auch das Jugendamt tätig werden: Ist eine Intervention laut KJHG angeordnet, darf nach § 42 eine Inobhutnahme angeordnet werden. Dazu erfolgt nach § 50 eine Zusammenarbeit des Jugendamtes mit den Familien- und Vormundschaftsgerichten. Darin ist auch die Erstellung eines Hilfeplans vorgesehen.

Abbildung 4: Vernachlässigung im Spannungsfeld von Kindeswohl und der Verantwortung von Familie und Gesellschaft

Wo und wann eingreifen?

Einen möglichen Handlungsablauf für Hebammen möchte ich an drei Szenarien darstellen.

Szene 1:

Als aufsuchende Hebamme erleben Sie desolate Zustände in der Wohnung, die Mutter wirkt völlig überfordert und das Kind ist in einem erbärmlichen Zustand. Der Säugling braucht umgehend Hilfe – und zwar Ihre. Die Situation bedeutet: Vorsicht, eine »rote Ampel für sofortiges Handeln« ist hier geschaltet, und die Zeit ist sehr begrenzt. Für solche Fälle rate ich Ihnen, sich vorab eine Liste von AnsprechpartnerInnen mit Telefonnummern zu erstellen (SozialarbeiterIn, Jugendamt, KinderärztIn, Notarztwagen der Klinik etc.).

Die Mutter sollten Sie mit Empathie auf Ihre Seite ziehen. Bei einer Aussage wie »Ihrem Kind geht es sehr schlecht, wir müssen ihm jetzt gemeinsam rasch helfen, bevor es zu spät ist«, wird es nur selten Widerstand geben. Während Sie Hilfe herbeitelefonieren, sollten Sie das Kind keinesfalls aus den Augen lassen; Sie müssen die Übergabe des Kindes in die Hände eines Profis sicherstellen. Wenn die Eltern Ihr Vorgehen ablehnen, müssen Sie sich gegen deren Widerstand durchsetzen. Sie sollten alles genau dokumentieren und gegebenenfalls auch ein paar Fotos mit Ihrem Handy machen. Lassen Sie sich nicht abwimmeln und auf später vertrösten, dann könnte es für den Säugling zu spät sein.

Szene 2:

Beim Besuch können Sie erkennen, dass die häusliche Umgebung dem Kindeswohl nicht zuträglich ist. Der Säugling wirkt vernachlässigt, in seiner direkten Umgebung wird geraucht, Alkohol ist ebenfalls im Spiel – oder auch andere Drogen. Das Kindeswohl erscheint Ihnen aber akut nicht gefährdet zu sein. Hier sollte »Ihre Ampel auf Orange schalten«.

Ist im Gespräch mit den Eltern über die Versorgung des Kindes keine Einsicht oder Mitarbeit erkennbar, sollten Sie einen externen Profi einbeziehen. Auch hier können Sie im Gespräch die Hilfsbedürftigkeit des Kindes als Argument anführen.

Informieren Sie die Eltern darüber und lassen Sie sich dies – wenn irgendwie möglich – durch eine Unterschrift bestätigen. Dabei ist es besser, rasch einen Zettel handschriftlich zu verfassen, da Eltern gegenüber einem Vordruck oft mit Skepsis und Ablehnung reagieren. Sie können zum Beispiel den Kinderarzt oder die Kinderärztin anrufen und vereinbaren, dass das Kind dort umgehend vorgestellt wird. In diesem Falle geben Sie die weitere Verantwortung in seine oder ihre Hände.

Szene 3:

Bei einem Besuch ist Ihre innere »Erfahrungsampel« von Grün auf Gelb umgesprungen und nähert sich dem orangen Bereich. Die äußeren Anzeichen einer Gefährdung sind nicht so überdeutlich, doch Ihr Bauchgefühl signalisiert Ihnen, dass eine Unterstützung für die Eltern zur Sicherheit des Kindes angebracht ist. Hören Sie auf Ihr Bauchgefühl! Lieber zu früh präventiv eingreifen, als später mit Selbstvorwürfen hadern. Hebammen sind bekannt für ihre Empathie und ihre Kommunikationsfähigkeit. Setzen Sie beides ein, denn Sie sind in kritischen Situationen der beste Wächter für das Kind!

Auch hier trägt eine sanfte Einbeziehung der Eltern sehr zur Deeskalation und zu einem einvernehmlichen Vorgehen bei, zum Beispiel: »Das Kind sieht für mich so aus, als könnte es Hilfe brauchen.« Nutzen Sie diese Chance durch eine lenkende Führung im Gespräch.

In den nächsten Schritten können Sie dann – möglichst mit dem Einverständnis der Mutter – den behandelnden Kinderarzt oder das Jugendamt hinzuziehen. Grundlage Ihres Handels ist das 2012 in Kraft getretene Gesetz zur Kooperation und Information im Kinderschutz (KKG), das im Rahmen des Bundeskinderschutzgesetzes (BkiSchG) eingerichtet wurde. Es regelt ein »frühzeitiges, koordiniertes, multiprofessionelles Angebot bezüglich der Kindesentwicklung vor allem in den ersten Lebensjahren«.

In diesem Gesetz sind auch Willkommensbesuche und Babylotsen angesiedelt. Eltern werden in diesem Rahmen über das örtliche Leistungsangebot zur Beratung und Unterstützung informiert, damit Unterstützung und Hilfe dort ankommen, wo sie dringend benötigt werden.

Übrigens: In § 4 des KKG wird auch die verpflichtende Verschwiegenheit thematisiert. Denn dort ist die »Beratung und Übermittlung von Informationen durch Geheimnisträger bei Kindeswohlgefährdung« festgelegt. Bei der Abwägung zwischen dem Schutz des Vertrauens und dem Schutz des jungen Kindes sollten Sie im Zweifel letzterem immer den Vorrang geben! Häufig werden Sie aber die Schweigepflicht gar nicht brechen müssen, weil es Ihnen gelungen ist, durch das Gespräch mit den Eltern ein gemeinsames Vorgehen zum Wohle des Kindes zu erreichen. Führen Sie keine Gespräche mit Schuldzuweisungen an die Eltern, sondern stellen Sie ausschließlich Ihre Sorge um das kranke Kind in den Mittelpunkt. Vergessen Sie bitte nicht, alles zu dokumentieren. Seien Sie gewiss, dass das Kind es Ihnen unausgesprochen danken wird, wenn Sie sich so um es kümmern.

Abbildung 6: Vorgehen nach § 4 des Gesetzes zur Kooperation und Information im Kinderschutz

Fazit: Netzwerke bilden

Nahezu täglich erreichen uns Schreckensmeldungen, die oft ein kurzes mediales Echo hervorrufen und rasch wieder in Vergessenheit geraten. Doch das stete Engagement für das Wohl des Kindes gehört zu Ihrem und zu meinem Alltag. Kämpfen wir gemeinsam dafür – und bilden wir Netzwerke in der Prävention. Damit nicht erst etwas Schlimmes passieren, bevor wir hellhörig werden.

Fallgeschichte
Akute Blutungen im Gehirn
An einem Abend im Januar 2021: Eine Mutter kommt mit einem fünf Wochen alten Säugling in die kinderärztliche Ambulanz der Klinik in Mönchengladbach. Das Kind würde »schlecht trinken« und sei »ständig müde«. Der behandelnde Arzt stellt direkt fest, dass das Kind krampft und umgehend intensivmedizinisch zu versorgen ist. Ergänzende Gespräche mit der Mutter können jetzt nicht geführt werden. Per Ultraschall wird dem Arzt sofort klar: Hier liegt eine große Blutung im Gehirn vor. Das später durchgeführte MRT zeigt zudem, dass es ausgedehnte ältere und akute Blutungen im Gehirn gibt. Auf den Röntgenbildern der Knochen sind dann ältere und neuere Frakturen der Ober- und Unterschenkel zu erkennen. Alle diese Verletzungen sind mit großen Schmerzen für das Kind einhergegangen (siehe Abbildungen 1, 2 und 3).

Der Arzt teilt der Mutter nach der Erstversorgung noch in der Nacht seinen Verdacht auf Kindesmisshandlung mit. Zusätzlich ruft er die Polizei hinzu. Wenige Stunden später wird das Kind per Gerichtsentscheid in Obhut genommen. Das Geschwisterkind wird vom Jugendamt zu Hause abgeholt und zur Untersuchung in die Klinik gebracht. Hier finden sich keine Zeichen von Kindesmisshandlung. Dieses Kind wird auch in Obhut genommen und in einer Gruppe der Kinderschutzambulanz untergebracht. Die Eltern weisen den Verdacht weit von sich, das Kind geschüttelt zu haben. Die weitere Aufarbeitung liegt in den Ermittlungen der Polizei.

Auf die Inobhutnahme reagiert die Mutter gegenüber der Klinik mit dem Vorwurf einer »unverschämten Lüge« und der Drohung, die Medien zu informieren. Der Vater kommt in U-Haft und bestreitet, das Kind misshandelt zu haben. Während die Kinderärzte um das Leben des Kindes kämpfen, droht die Mutter auf der Station, sich umzubringen und aus dem Fenster zu springen.

Die intensive Abklärung der Vorgeschichte ergibt Folgendes: Die Mutter hatte das Kind in der angeschlossenen Geburtsklinik zur Welt gebracht. Routinemäßig wurde sie von einer Babylotsin der Klinik besucht. Im Gespräch erkannte diese, dass die Vorbereitungen der Eltern für ein Neugeborenes nicht wirklich gegeben waren. Die Babylotsin hatte ein ungutes Gefühl und informierte die Sozialarbeiterin des Allgemeinen Sozialen Dienstes in der Klinik. Die sah bei der Familie Klärungsbedarf und schaltete das Jugendamt ein. Durch das Jugendamt wurde, trotz Corona, ein zeitnaher Hausbesuch durchgeführt. Das Ergebnis war, dass »keine schwerwiegenden Risikofaktoren« zu Hause zu erkennen waren und eine weitere Veranlassung für Hilfsangebote nicht notwendig erschien. Drei Wochen später lag das Kind auf der Intensivstation, nachdem es zu Hause zu dem Tötungsversuch gekommen war.

Leider kein Einzelfall, aber ein Fall, der die ganze Problematik der präventiven Maßnahmen zeigt. Obwohl hier frühzeitig eine »Ampel auf leicht Orange« gesprungen ist und obwohl die Profis vom Jugendamt vor Ort waren, kommt es zu diesem tragischen Verlauf mit der schwersten Gehirnschädigung. Keinesfalls ergibt sich daraus ein Vorwurf gegen die handelnden Personen. Es ist alles richtig und im Rahmen der gesetzlichen Vorgaben gelaufen. Es zeigt aber, wie schmal der Grat unserer Tätigkeiten manchmal sein kann, um so junge Kinder vor irreversiblen Schäden zu bewahren.

Abbildung 1: Das Bild des Schädels im Ultraschall zeigt mehrere Blutungen, teils alt, teils frisch.
Abbildung 2 und 3: Kernspin an Tag 15 – es zeigen sich große Hämatome und Einblutungen ins Hirngewebe, teilweise schon in der Resorption.

Zitiervorlage
Kölfen, W. (2021). Kindesvernachlässigung und -misshandlung: »Hören Sie auf Ihr Bauchgefühl!«. Deutsche Hebammen Zeitschrift, 73 (5), 44–50.
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