Viele geburtshilfliche Abteilungen können sich schon als Hochzuverlässigkeitsorganisationen bezeichnen. Foto: © pla2na/stock.adobe.com
Die Komplikations- und Schadenraten in der Geburtshilfe waren in Deutschland Mitte der 1990er Jahre Auslöser für den sukzessiven Aufbau eines professionellen klinischen und medizinischen Risikomanagements nach US-amerikanischem Vorbild. Genauer gesagt waren es die Versicherer, also die Risikoträger, die zunehmend ihre Bedingungen für die Übernahme der Risiken in der Geburtshilfe definierten. Fortan beschäftigten sich Krankenhäuser und andere Gesundheitseinrichtungen mit Konzepten der Prävention voll vermeidbarer Risiken. Die Qualität entsprechender Maßnahmen hat heute einen Einfluss auf die Versicherbarkeit und Prämienhöhe.
Für die Versicherung ist allerdings die Absicherung von geburtshilflichen Abteilungen, Geburtshelfer:innen und Hebammen kein »erwünschtes Risiko«. In Deutschland sind daher nur etwa 5 % der zugelassenen Haftpflichtversicherer bereit, dieses spezifische klinische Risiko von Krankenhäusern abzusichern (Petry 2021a). Eine mehrjährige Datenanalyse aus 200 Krankenhäusern zeigt, dass die Schadenfrequenz in der Geburtshilfe im Vergleich zu anderen Fachdisziplinen seit den 1990er Jahren kontinuierlich gestiegen ist (Ecclesia Versicherungsdienst). Ursachen dafür liegen in
Erfreulicherweise ist seit Mitte der 2000er Jahre insbesondere in der Geburtshilfe eine Trendumkehr bezogen auf die Schadenfrequenz erkennbar – die Anzahl der gemeldeten Schadenereignisse ist also gesunken. Hierfür ist ohne Frage ein strukturiertes Risikomanagement verantwortlich, das nicht zuletzt durch die Fachgesellschaften inhaltlich vorgegeben und von den Akteur:innen vor Ort interprofessionell umgesetzt wurde. Viele geburtshilfliche Abteilungen können sich heute schon als Hochzuverlässigkeitsorganisationen bezeichnen.
Ein klinisches Risikomanagement zeichnet sich auch in der Geburtshilfe dadurch aus, dass
Auch wenn die Frequenz von Schadenereignissen in der Geburtshilfe rückläufig ist, entwickelt sich der Aufwand bei der Schadenregulierung überproportional hoch. Die Steigerung beziffert der Gesamtverband der deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) jährlich mit etwa 5 %. Und hierbei sind nur wenige Schadenfälle für das Gros des Schadenaufwands ursächlich: 4 % aller in der Geburtshilfe genannten Schäden machen 79,3 % des Schadenaufwandes aus (Petry 2021b).
Die Kosten entstehen durch Schmerzensgeldzahlungen, schadenbedingten Mehraufwand für persönlichen Pflegebedarf, Kosten für einen Hausumbau und für einen potenziellen Erwerbsschaden des Geschädigten. Expert:innen beziffern den Regulierungsaufwand bei vorliegender Kausalität zwischen einem Fehler im geburtshilflichen Verlauf und einer schweren Schädigung mit 3,2 bis 15 Millionen Euro.
In der Geburtshilfe geht es stets um die sachgerechte, professionelle und sichere Versorgung von Mutter und Kind und die Abwehr und Vermeidung bekannter Risiken, auch unabhängig vom Druck der Versicherer: »Eine Investition in ein wirksames Risikomanagement in der Geburtshilfe sollte in erster Linie eine Minimierung von Geburtsschäden zum Ziel haben, daneben aber auch Nutzen für die Risikoabsicherung stiften.« (Kraft & Triphaus 2022)
In den vergangenen 15 Jahren hat sich auch global eine Initiative zur Förderung der Patienten:innensicherheit etabliert – maßgeblich gefördert von der Weltgesundheitsorganisation (WHO). Der Welttag der Patienten:innensicherheit am 17. September 2021 stand unter dem Motto »Mach dich stark für Patientensicherheit – Sicher vom ersten Atemzug an«. Erstmals rief die WHO die Gesundheitseinrichtungen dazu auf, sich für eine sichere und respektvolle Geburt einzusetzen. Die Qualität der gesundheitlichen Versorgung während Schwangerschaft und Geburt sei weltweit noch nicht auf höchstem Niveau. So müssten Lösungsansätze für eine sichere Geburt bekannt gemacht und weltweit installiert werden (Kraft & Triphaus 2022).
Somit sind immer wieder Aktivitäten notwendig, sich kritisch zu hinterfragen, und dies erfordert eine systematische Schulung und Qualifikation aller in der Geburtshilfe Beteiligten im Sinne eines lebenslangen Lernens.
Im August 2021 stellte die WHO ihren Global Patient Safety Action Plan 2021 bis 2030 vor. Sie hat das Ziel hoch gesteckt, fordert sie doch »eine Welt, in der niemandem im Rahmen der Gesundheitsversorgung Schaden zugefügt wird und jeder Patient und jede Patientin jederzeit und überall eine sichere und respektvolle Versorgung erhält« (BMG 2021). Dieses Ziel soll mit wissenschaftlich fundierten Strategien, nationalen Programmen und praxisorientierten Maßnahmen umgesetzt werden, wobei insbesondere die Erfahrungen von Patient:innen in ihren jeweiligen Gesundheitssystemen zur Weiterentwicklung genutzt werden sollen.
In der Operationalisierung des Aktionsplanes geht es um die Vermeidung von Schädigungen durch die Etablierung der Prinzipien von Hochzuverlässigkeitsunternehmen, die sich in anderen Branchen bewährt haben, beispielsweise in der Luftfahrt, Kernenergietechnik oder auch in der Nahrungsmittelproduktion. Ein Erfolgsfaktor einer »High Reliability Organization« (HRO) liegt in der expliziten Betonung auf der Vermeidung von Unfällen, Schäden und Fehlern mit schwerwiegenden Folgen.
HRO sind besonders widerstandsfähig oder resilient in Bezug auf Unvorhergesehenes. Sie sind in der Lage, Probleme schnell und adäquat zu antizipieren, ständig ihre Prozesse und Strukturen zu überwachen und stets auf besondere Herausforderungen eingestellt. Schon auf den ersten Blick ist erkennbar, dass eine geburtshilfliche Organisation in diesem Sinne eine Hochzuverlässigkeitsorganisation bereits ist oder sein sollte.
Karl E. Weick und Kathleen M. Sutcliffe, amerikanische Organisationsforscher:innen, klassifizierten HROs mit folgenden fünf Merkmalen (Mistele, Pawlowsky,Kaufmann 2022):
Die Geburtshilfe ist als medizinische Fachdisziplin aufgrund ihrer Komplexität und nur bedingten Planbarkeit eine Hochrisikodisziplin (High Risk). Sie ist durch ein hohes Maß an strukturellen und prozessualen Sicherheitsmaßnahmen kennzeichnet (High Safety).
Die Geburtshilfe ist in den vergangenen zwei Dekaden deutlich sicherer geworden, gleichwohl stellen sogenannte Großschäden für die Versicherer nach wie vor ein Problem dar. Maßnahmen zur Förderung der Patient:innensicherheit und des klinischen Risikomanagements waren bisher schon erfolgreich, müssen aber stetig weiterentwickelt werden.
Die Weltgesundheitsorganisation fordert in ihrer Agenda zur Patient:innensicherheit bis 2030 dazu auf, medizinische Abteilungen in Hochzuverlässigkeitsorganisationen (HRO) umzugestalten.
Die Geburtshilfe erfüllt schon heute vielfach die fünf HRO-Kriterien und kann diese Maßstäbe zur strukturellen und prozessualen Weiterentwicklung ihrer Sicherheitsstandards nutzen.
Kraft S, Triphaus V: Risikomanagement in der Geburtshilfe. In: Gausmann P, Henninger J, Koppenberg J, Patientensicherheitsmanagement. 2. Auflage. DeGruyter. Berlin: 2022
Mistele P, Pawlowsky P, Kaufmann J: Kollektive Achtsamkeit in High Reliability Organizations. In: Gausmann P, Henninger J, Koppenberg J, Patientensicherheitsmanagement. 2. Auflage. DeGruyter. Berlin: 2022
Petry FM: Entwicklung der Schadensituation in der Geburtshilfe. Der Gynäkologe 2021a
Petry FM: Haftung bei Geburtsschäden – nicht mehr versicherbar? Der Krankenhausjustitiar 2021b