Wenn Geburt und Tod zusammentreffen, ist das die größte Spannung, die wir im Leben ertragen müssen. Foto: © imago/westend61
Die Schwangerschaft war im Grunde problemlos verlaufen. Die Mutter fühlte sich gut. Das Paar freute sich auf seine kleine Tochter. Bei einer Routine-Ultraschall-Untersuchung wurden Auffälligkeiten festgestellt. Zur Abklärung wurde Katrin W. in eine Klinik überwiesen.
Dort wurde nach mehreren Untersuchungen festgestellt, dass das Kind eine Trisomie 18 hat. Mit dieser Diagnose waren die Eltern hoffnungslos überfordert. Sie hatten sich auf ein gemeinsames Leben mit ihrem Kind gefreut. Und nun war alles anders. Es wurden ihnen viele Gespräche seitens der ÄrztInnen, von Schwangerschaftsberatungsstellen und über den Sozialdienst angeboten. Sie mussten eine Entscheidung treffen, die sie eigentlich nicht treffen konnten und wollten: Was ist lebenswert und was ist nicht lebenswert? Können wir mit einem schwerbehinderten Kind zurechtkommen? Oder ist es besser, eine Schwangerschaft zu beenden, wenn das Kind nach der Geburt kaum Lebenschancen hat? Solche und ähnliche Fragen stürmten auf die Eltern ein. Nach einigen Tagen Bedenkzeit und Beratungsgesprächen haben sich die Eltern zu einem Schwangerschaftsabbruch entschieden.
Danach rief die Stationsschwester die Klinikseelsorge, um das Kind segnen zu lassen. Aber sie musste noch Bedenken der Eltern über das kirchliche Personal entkräften, da sie befürchteten, dass jetzt schwere Vorwürfe kommen würden. Die Seelsorgerin kam, sah die Eltern mit ihrem toten Kind. Ein Mädchen, in der 18. Schwangerschaftswoche geboren, lag in einem Moseskörbchen in ein Handtuch gehüllt. Es sah aus wie friedlich schlafend. Zu vielen Worten waren die Eltern Katrin und Torsten W. in dieser Situation nicht fähig.
Wenn Geburt und Tod zusammentreffen, ist das die größte Spannung, die wir im Leben ertragen müssen. Die Geburt eines Kindes steht für Leben und Weiterleben in der nächsten Generation. Diese unerträgliche Spannung auszuhalten und die Grenzen des medizinisch Machbaren zu spüren, erfordert unendlich viel Mut. Die naheliegende Reaktion darauf ist, möglichst schnell dieses Geschehen hinter sich zu lassen und in den Alltag zurückzukehren. Doch spüren viele hier auch eine spirituelle Kraft, der sie sich anvertrauen wollen, wenn alles Menschliche zerbricht. Unabhängig von Religion und Konfession entdecken sie etwas, das sie hält und trägt.
In solchen Momenten kann ein christliches Abschiedsritual helfen, die Sprachlosigkeit und Aussichtslosigkeit, die Stille und bedrückende Schwere auszuhalten. Das Ritual bestärkt uns in unserer Hoffnung, dass wir in dieser Situation nicht alleine sind. Wir glauben, dass Gott uns gerade auch im Leid begleitet. Selbst wenn viele Fragen offen bleiben, kann dieses Miteinander Kraft und Trost spenden.
Es hilft in diesem unfassbaren Geschehen, dem Kind einen Namen zu geben, die Eltern und das Kind zu segnen oder Gott anzuklagen, was er sich dabei wohl gedacht habe. Es ist unendlich kostbar, Stunden miteinander zu verbringen und zu erahnen, was es heißt: Eltern zu sein. Oder auch einen kleinen Bronze-Engel in der Hand zu halten, wenn man sein gerade geborenes Kind wieder hergeben muss. Manche Paare finden anschließend Worte. So sagte ein Vater: „Bis zu dieser Diagnose habe ich nie daran gedacht, dass uns so ein Schicksal treffen könnte. Was haben wir nur falsch gemacht? – Ich bin Ihnen aber sehr dankbar, dass Sie in dieser Situation bei uns waren und für uns gebetet haben.“ Minutiös werden die letzten Tage und alles, was sich darin ereignet hat, geschildert. Den Eltern ist wichtig, ihr Hin- und Hergerissensein zum Ausdruck zu bringen. Viele Paare legen größten Wert darauf, den SeelsorgerInnen gegenüber deutlich zu machen, dass sie diese Entscheidung nicht leichtfertig getroffen haben. Vermutlich steht hinter diesem Bedürfnis die Frage nach der Schuld. Und ob Eltern überhaupt das Leben ihres Kindes vorzeitig beenden dürfen.
Wir als SeelsorgerInnen sehen unsere Aufgabe darin, den betroffenen Menschen Nähe und Begleitung anzubieten, unabhängig davon, wie wir selbst zu dieser Thematik stehen. Das heißt, dass wir die Entscheidung des Paares respektieren und anerkennen, auch wenn wir sie nicht teilen. Die Rosenheimer Erklärung der Landessynode der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern (ELKB) vom 18. April 1991 bringt unsere Haltung gut zum Ausdruck. „Auch wenn der Schutz menschlichen Lebens bleibendes Gebot Gottes ist, sollen und dürfen wir in solchen Krisen- und Konfliktsituationen die Betroffenen nicht allein lassen. Sie bedürfen unseres Beistandes und unserer Hilfe.“
In der Begleitung fällt uns auf, dass das Thema Schuld in der akuten Krisen- und Schocksituation nicht thematisiert wird. Wir vermuten, dass die Eltern die Gefühle und Empfindungen, die damit verbunden sind, nicht aushalten können. Die Paare müssen erst das Geschehene verarbeiten, um dann im Alltag Fuß fassen zu können.
Die Entscheidung, eine Schwangerschaft abzubrechen, heißt aber trotzdem, Schuld auf sich zu nehmen. Unabhängig von der eigenen Weltanschauung wird das Empfinden der Schuld über einen Spätabbruch früher oder später immer Thema sein. In dem bekanntesten Gebet der Christen, im Vaterunser, bitten wir um Vergebung „… und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“. Schuldig werden ist ein Teil unseres Lebens und es kann befreiend sein, diese auch benennen und bekennen zu dürfen. Erst dann kann Vergebung empfunden werden. So wie es des Zuspruchs bedarf, dass Gott uns vergibt, so sind wir aktiv gefordert, diesen Zuspruch anzunehmen. In Gesprächen mit Frauen und Männern wird deutlich, dass es oft die größte Herausforderung ist, sich selbst zu vergeben und sich mit dem eigenen Schicksal auszusöhnen.
Die Rosenheimer Erklärung hat dafür passende Worte gefunden. „Eine verantwortlich getroffene Entscheidung schließt niemals aus, dass wir dabei schuldig werden. Gottes Vergebung will uns hier mitten in schwierigen Situationen neue Wege eröffnen.“
Auch SeelsorgerInnen geraten immer wieder in Gewissenskonflikte. Wir beobachten, dass in so einer Situation der Gedanke an einen Abbruch näher liegt. Dahinter steht vielleicht auch der Wunsch, den Eltern ein schwerstbehindertes Kind oder ein Kind mit infauster Prognose zu ersparen. Das damit verbundene Leid und die Angst davor, diesem Schicksal nicht gewachsen zu sein, können wir uns gut vorstellen. Wir würden uns aber wünschen, dass Frauen ermutigt würden, über Wege nachzudenken, die erst einmal unvorstellbar sind.
Trotzdem stellen sich Fragen: „Ist die scheinbar leichtere Entscheidung zu einem Spätabbruch wirklich besser zu verkraften, als das Kind auszutragen? Und dann zu erleben, dass es vielleicht kurze Zeit lebt oder sofort stirbt? Was macht es so schrecklich, mir vorzustellen, was ist, wenn das Kind kurz oder auch etwas länger leben sollte? Wäre es nicht leichter zu verarbeiten, wenn das Schicksal einem das Kind wegnimmt, ohne dass ich selbst tätig werden müsste?“
Das momentan gültige ungeschriebene gesellschaftliche Gesetz heißt: „Jeder hat ein Recht auf ein gesundes Kind.“ Dieses drückt sich zum Beispiel darin aus, dass Eltern mit ihrem Down-Syndrom-Kind am Spielplatz zu hören bekommen: „Ihr Armen, hat der Arzt nicht aufgepasst.“ In unserer Gesellschaft sind Hemmschwellen gefallen. Werdende Eltern stehen unter Druck, wenn 90 Prozent der Kinder mit Down-Syndrom nach einer Amniozentese abgetrieben werden. Wenn Eltern sich ihr Leben lang für ein Down-Syndrom-Kind rechtfertigen müssen. Da hat sich etwas verdreht.
Wenn nach einer Diagnose „behindert“ oder „schwerstbehindert“ Lebensträume zusammenbrechen, ist das selbstverständlich. Die schwangeren Frauen und ihre Partner haben vielfältige Vorstellungen und Fantasien, wie ihr Leben als Familie aussehen soll. Behinderung, Krankheit und Tod haben darin keinen Platz. In unserer Gesellschaft ist es deshalb kaum vorstellbar, mit einem schwerstbehinderten Kind zu leben und allem anderen gerecht zu werden. Die Aussicht, ein behindertes Kind zu bekommen, lässt befürchten, dass Paare sich an den Rand gedrängt fühlen, bemitleidet werden und dass das Schöne und Leichte im Leben vorbei ist.
Es geht um eine Lebensperspektive. Eltern fühlen sich hin- und hergerissen. Ängste brechen auf. Würde unsere Beziehung ein behindertes Kind verkraften? Was sagen die anderen? Was haben wir falsch gemacht? Warum werden wir bestraft? Das sind alles legitime Ängste und Fragen!
Im Entscheidungsprozess sind Paare selten einer Meinung. Schwierig wird es, wenn einer der Partner sich absolut gegen das Kind entscheidet. Da kann der andere sich fast nicht mehr für das Kind entscheiden, fühlt sich unter Druck gesetzt und letztlich wird die Beziehung in Frage gestellt. Hilfreich für werdende junge Eltern ist es, wenn sie in ein funktionierendes soziales Netz eingebettet sind. Eine vertrauensvolle Beziehung im Freundes- und Verwandtenkreis ist die Voraussetzung, um den Mut zu finden, sich mit seinen Ängsten und Fragen mitteilen zu können.
In Begegnungen mit Frauen, die einen Spätabbruch vollzogen haben, wird deutlich: Viele trauern im Verborgenen und sind vollkommen isoliert und einsam. Eine trauernde Mutter sagt: „Ich bin so froh, dass es diesen Gedenkgottesdienst gibt. Niemand aus meinem Freundeskreis und meiner Familie weiß etwas. Ich schäme mich so.“ Hier zeigt sich wieder das Paradoxe dieser Situation. Einerseits fürchten sich die Betroffenen vor Vorwürfen nach einem Spätabbruch. Andererseits erleben Eltern, die ein behindertes Kind haben, ebenfalls Vorwürfe, warum sie dies nicht verhindert haben.
In ihrer Trauer erleben Frauen, dass nichts mehr ist, wie es vorher war. Die Hoffnung, dass der Spätabbruch viele traurige Erfahrungen vermeidet, erweist sich oft als Trugschluss. Das Schicksal, ein Kind zu bekommen, das nicht lebensfähig ist, ist schrecklich. Im ökumenischen Seelsorgeteam am Klinikum Nürnberg Süd haben wir immer wieder darüber nachgedacht, wie es wäre, ein schwerstkrankes Kind zu begleiten, die kurze Lebensspanne mit ihm als erfüllt und traurig zugleich zu empfinden und es dann loszulassen. Könnte dies nicht tiefe Spuren hinterlassen und auch heilsam für die Zeit danach sein? Diese Haltung widerspricht dem momentanen gesellschaftlichen Trend. Wir würden uns wünschen, dass Paare dazu ermutigt werden, sich dieser Herausforderung zu stellen.
Nach dem Tod des Kindes ziehen sich viele Frauen zurück, weil sie sich von ihrer Umgebung nicht verstanden fühlen. Es ist aber auch für die Umgebung stark verunsichernd, auf diese Situation einzugehen. Oft stecken dahinter Hilflosigkeit und die Angst, etwas falsch zu machen. Es wäre Mut gefordert, anzuerkennen, dass Krankheit, Behinderung und Tod ein Teil des Lebens sind. Gespräche so natürlich wie möglich zu gestalten und Raum zu lassen für Fragen und Unsicherheiten, würde Begegnung ermöglichen.
Viele Frauen können nach einem Spätabbruch schwer wieder in den Alltag zurückfinden. Innerhalb einer Paarbeziehung zeigt sich, dass Frauen und Männer oft anders trauern. Für viele Frauen ist es wichtig, ihren Schmerz in Worte zu fassen und sich darüber immer wieder auszutauschen. Männer hingegen vergraben sich gerne in ihre Hobbys und machen vieles mit sich selbst aus. Trauern ist ein höchst individuelles Geschehen. Es ist nicht selbstverständlich, dass beide Partner die gleichen Bedürfnisse haben.
Deshalb bietet unser Team Frauen und Männern professionelle seelsorgerliche Begleitung an. Dazu haben wir das Konzept „Seelsorge in der Nachsorge“ entwickelt. In der Praxis sieht das so aus, dass eine Kollegin die Paare zu Hause aufsucht, Gespräche anbietet, Rituale mit ihnen entwickelt und sie in ihrer individuellen Trauer unterstützt. Manchmal trifft sie nur auf Frauen. Aber immer wieder erleben es Paare auch als eine Chance, den anderen Partner in seiner Trauer zu verstehen. Durchschnittlich sind es vier Besuche pro Familie. Öfter besucht die Seelsorgerin Familien, die Zwillinge bekommen haben, bei denen ein Kind gestorben ist.
Viele Eltern sehnen sich nach einem Ort, an dem sie trauern können. Ein anonymes Gräberfeld oder ein eigenes Kindergrab, das mit Stofftieren, Kerzen, Blumen und Engeln geschmückt wird. Diese Orte dienen für lange Zeit als Zuflucht, weil der Schmerz zu groß ist, wieder in den Alltag zurückzufinden, so als ob nichts gewesen wäre. Bei den mehrmals im Jahr stattfindenden Gedenkfeiern können Eltern Trost finden. In der Gemeinschaft können sie gegenseitige Solidarität mit anderen betroffenen Müttern und Vätern erleben.
Viele betroffene Frauen und Männer haben sich in Selbsthilfegruppen zusammengeschlossen. Sie zeigen Mut und Entschlossenheit. Sie haben es geschafft, dass der Umgang mit Tod und Trauer bei frühverstorbenen Kindern in der Gesellschaft einen Platz gefunden hat. Das zeigt sich in speziellen Rückbildungsangeboten für Eltern, die ein Kind verloren haben, in der Bestattungspflicht und im großen Interesse am weltweiten Candlelighting. Dies ist ein jährlicher Weltgedenktag für alle verstorbenen Kinder. Jedes Jahr am zweiten Sonntag im Dezember stellen Betroffene rund um die ganze Welt um 19 Uhr brennende Kerzen in die Fenster. Die Idee geht auf eine Vereinigung verwaister Eltern und ihrer Angehörigen in den USA, die „Compassionate Friends“ zurück.
Es gibt inzwischen vielfältige Hilfen für den jeweiligen Entscheidungsprozess. Aber all diese Angebote können die individuelle Entscheidung nur begleiten, nicht ersetzen. Die Menschen sollen den Weg finden, der für sie der richtige ist. Im Buch Jesus Sirach ist das Anliegen der SeelsorgerInnen zusammengefasst: „Und bleibe bei dem, was dir dein Herz rät; denn du wirst keinen treueren Ratgeber finden.“ (Jes Sir 37,17)