Jonathan kam 2015 mit einem seltenen Gendefekt zur Welt, der zur Kleinwüchsigkeit führt: In seiner Entwicklung widerlegte er alle Prognosen. Foto: © Pierre Steinhauer

Die Krankheitsbilder des Mikrocephalen Primordialen Kleinwuchses (MPD) sind die seltensten Formen des Kleinwuchses, sie sind noch wenig erforscht. Um besser darüber aufzuklären, erzählt die Mutter eines betroffenen Jungen von ihrer Schwangerschaft, der Geburt, der schwierigen Diagnose und der Entwicklung ihres Sohnes. Jonathan hat viele schlechte Prognosen widerlegt.

Jonathan ist sieben Jahre alt. Er mag Feuerwehrautos, Benjamin Blümchen und Fahrrad fahren. Sein Lieblingsessen ist Grießbrei mit Obst. Ein ganz normaler kleiner Junge, denkt man. Bis man ihn sieht. Denn Jonathan ist aktuell 82 cm groß und wiegt sieben Kilo, sein Kopfumfang beträgt nur 35 cm – also weniger als manche Babys bei der Geburt haben. Jonathan hat einen der seltensten Gendefekte im Kleinwuchsbereich: einen Mikrozephalen Osteodysplastischen Primordialen Kleinwuchs (MOPD Typ 1).

In Deutschland leben nur sieben Kinder damit, weltweit sind es weniger als 200. Dieser Gendefekt ist lebensverkürzend: Die durchschnittliche Lebenserwartung liegt bei neun Monaten.

Diese prognostizierte Lebenserwartung hat Jonathan um ein Vielfaches übertroffen, was auch an der guten medizinischen Versorgung in Deutschland liegt. Doch wie war es mit der medizinischen Versorgung in der Schwangerschaft? Hat man bei Vorsorgeuntersuchungen Auffälligkeiten festgestellt? Und was bedeutet MOPD Typ 1 für unser Leben?

Schwangerschaft: Blutungen ohne Befund

Gehen wir zurück ins Jahr 2014: Nachdem ich Anfang des Jahres in der zwölften Schwangerschaftswoche Zwillinge verloren hatte, war ich Ende 2014 erneut schwanger. Zeit sich zu freuen blieb kaum, denn bereits in der elften Woche bekam ich Blutungen. Die Angst, wieder eine Fehlgeburt zu haben, war riesig. Doch beim Ultraschall zeigte sich glücklicherweise, dass es dem Baby gut ging. Ich sollte mich schonen und viel liegen. Die Blutungen hörten auf, ich durfte mich wieder ein wenig bewegen.

Nur wenige Tage später bekam ich erneut Blutungen: so stark, dass ich fest von einer Fehlgeburt ausging. Aber auch diesmal ging es dem Baby gut – es sah sogar so aus, als würde es beim Ultraschall winken. Mir wurde strikte Bettruhe verordnet.

Aufgrund der vorhergehenden Fehlgeburt und der starken Blutungen in dieser Schwangerschaft hatte ich engmaschige Kontrolluntersuchungen bei der Frauenärztin. Schon vor der 16. Schwangerschaftswoche fiel zum ersten Mal auf, dass das Baby nicht richtig wuchs. Es war viel zu klein und so wurde der Errechnete Geburtstermin nach hinten korrigiert. Ich wurde zum Organultraschall geschickt, doch hier fand man keine Auffälligkeiten: Alles sah normal entwickelt aus.

Die Blutungen kamen und gingen. Das Baby wuchs kaum und nahm fast nicht zu. Die Ärztin vermutete eine Plazentainsuffizienz, denn meine Plazenta war wie eine Kugel geformt. Ich selbst hatte ein zunehmend stärkeres »komisches« Gefühl und wollte abklären, ob das Baby gesund ist. Da eine Fruchtwasseruntersuchung viel zu gefährlich war, schließlich hatte ich schon Blutungen, entschieden wir uns gemeinsam mit der Ärztin für einen PraenaTest. Das Ergebnis: »Ohne Befund. Das Kind, ein Junge, ist zu 99,9 % gesund.«

Aber auch die nächsten Untersuchungen zeigten, dass unser Sohn nicht richtig wuchs. Wir wurden darauf vorbereitet das wir wegen der Unterversorgung durch die Plazenta vermutlich ein Frühgeborenes bekommen würden. Wir vereinbarten einen Termin in einer Klinik, deren Neonatologie einen guten Ruf hatte, und stellten uns dort vor.

Die regelmäßigen Vorsorgeuntersuchungen bei der Frauenärztin wurden ersetzt durch Termine in der Klinik. Die Ärzt:innen dort hatten logischerweise sehr viel mehr Erfahrung mit Risikoschwangerschaften, Gendefekten und Erkrankungen – und natürlich auch mit Frühgeborenen.

Mein behandelnder Arzt blieb aber trotz jahrelanger Berufserfahrung auch nach mehreren Terminen ratlos zurück: Er war sicher, dass mit dem Baby etwas nicht stimmte, aber er wusste nicht, was. Ihn verwirrten die Ergebnisse des Organscreenings und des PraenaTests. Dass die Plazenta »nicht schön« aussah, war für ihn kein ausreichender Grund dafür, dass das Baby so gar nicht wuchs und zunahm. Da der Kleine beim Ultraschall immer munter war und sich viel bewegte, seine Durchblutung und Herztöne auch super und meine Blutungen nicht mehr so stark waren wie zu Anfang, schlug er nun doch eine Fruchtwasseruntersuchung vor. Wir stimmten zu. Das Ergebnis: »Ohne Befund. Das Kind ist zu 99,9 % gesund.«

Not-Sectio in der 27. Woche

Wenige Wochen später bekam ich Wehen. Ich war in der 27. Woche und wurde mit dem Rettungswagen in die Klinik gebracht, wo ich sofort Wehenhemmer bekam. Sie schlugen an. Natürlich wurde ich stationär aufgenommen, bekam die erste Spritze zur Lungenreife und es sollte dreimal täglich ein CTG geschrieben werden.

Am nächsten Morgen wurde ein Ultraschall gemacht und mein Sohn auf 500 g geschätzt. Die Neonatologie wurde vorsichtshalber bereits informiert – was sich als Glück erweisen sollte. Denn an diesem Abend hatte die Hebamme sehr große Probleme, beim CTG die Herztöne zu finden. Ich dachte mir erst gar nichts Schlimmes dabei, vielleicht veränderte der Kleine einfach nur häufiger seine Position und aufgrund seiner geringen Größe war sein Herz dann einfach schwieriger zu finden. Doch plötzlich kam eine Ärztin dazu und versuchte ebenfalls, die Herztöne zu finden. Als auch sie keine fand, bat sie mich, mit ihr zum Ultraschall zu kommen.

Mir wurde mulmig und nach wenigen Minuten Ultraschall wurde es extrem hektisch um mich herum: »Wir müssen Ihren Sohn jetzt holen, es geht ihm nicht gut. Rufen Sie Ihren Mann an und sagen Sie ihm Bescheid, wir können nicht auf ihn warten.«

Ich telefonierte ganz kurz mit meinem Mann, während mehrere Schwestern und Hebammen um mich herumwuselten: Sie zogen mir meinen Schmuck aus, ich bekam die zweite Spritze zur Lungenreife und einen Katheter. Vieles aus diesen Minuten liegt für mich im Nebel, aber ich erinnere mich an die lauten Rufe im Flur: »Wir haben eine Not-Sectio! Ruft sofort die Kinderklinik an!«, und: »Ist die Anästhesie da? Wir müssen loslegen!« Und dann wurde ich in den OP geführt, in dem so viele Menschen waren: Ärzt:innen, Hebammen, Anästhesist:innen und auch Personal der Kinderklinik/Neonatologie. Unter all diesen Menschen fühlte ich mich schrecklich allein und ängstlich. Ich wusste, dass mein Mann nicht rechtzeitig da sein würde und ich das allein schaffen musste. Egal, wie es ausgehen würde.

Auch wenn die Zeit drängte, war das Personal im OP wundervoll und gab sein Bestes, mir die Angst zu nehmen. Das funktionierte bis zu dem Moment, als jemand links von mir »20.58 Uhr« sagte. Auf meine Frage, was denn um 20.58 Uhr passiert sei, hieß es: »Ihr Sohn wurde geboren.« Dass ein so kleines Frühgeborenes meist nicht schreit, wusste ich. Auch dass ich ihn nicht würde sehen können, weil er unverzüglich versorgt werden müsste, hatte man mir gesagt. Aber als auf meine Frage, »Lebt er?«, nur die Antwort, »Die Kollegen der Kinderklinik kommen gleich zu Ihnen«, kam, begannen die längsten Minuten meines Lebens.

Nach einer gefühlten Ewigkeit ging eine Tür auf und jemand rief: »Ihrem Sohn geht es gut, er atmet sogar allein! Und Ihr Mann ist gerade eingetroffen, er kann den Kleinen jetzt noch kurz sehen und dann bringen wir ihn auf Station.«

Es war der 22. April 2015 und unser Jonathan startete mit 490 g, 29 cm und einem Kopfumfang von 20 cm ins Leben.

Diagnose nach vier Monaten

Am nächsten Tag sah ich meinen Sohn das erste Mal mit eigenen Augen. Ich fand sein Aussehen »merkwürdig«: Seine Hände und Füße waren sehr fleischig, seine Augen und Nase extrem groß und er hatte weder Wimpern noch Augenbrauen. Das Personal beruhigte mich, er sei eben ein unreifes Extremfrühchen. Doch heute wissen wir, dass diese Auffälligkeiten Anzeichen von MOPD Typ 1 sind. Genau wie tiefliegende Ohren, ein sehr kleines und fliehendes Kinn, eine fliehende Stirn und spitz zusammenlaufende und sehr kurze Finger.

Nach einer Woche teilte uns die Stationsärztin mit, dass man bei Jonathan Kleinwuchs vermute. Irgendwie waren wir erleichtert, bot diese Vermutung doch eine Erklärung für die auffällige Schwangerschaft! Die vermutete Diagnose selbst fanden wir nicht so schlimm. Natürlich würde Jonathan ein anderes Leben führen, aber heutzutage gab es so viele Möglichkeiten für Kleinwüchsige. Das würden wir schon schaffen.

Aber als man uns einige Tage später eröffnete, dass bei einer Untersuchung des Gehirns Auffälligkeiten gefunden worden waren, verließ mich der Mut. Jonathans Gehirn füllte nicht den ganzen Kopf aus, im hinteren Kopfbereich war nur Hirnwasser. Das Gehirn war komplett glatt und von multiplen Zysten durchsetzt. Der Balken fehlte. Der Frontallappen war unterentwickelt.

Die Prognose der Ärzt:innen: Jonathan würde nie krabbeln, nie allein sitzen oder laufen, er würde nie allein essen können und sein Leben lang eine Magensonde brauchen. Ob er Emotionen zeigen könnte, sei ungewiss. Epileptische Anfälle seien mehr als wahrscheinlich. Ob er überhaupt in irgendeiner Form am Leben teilhaben könne, wisse man nicht.

Man stellte uns eine Humangenetikerin an die Seite. Und in diesem Moment wusste ich: Da steckt mehr dahinter. Für mich brach eine Welt zusammen, denn ein Leben mit einem Kind mit starker geistiger Einschränkung konnte und wollte ich mir überhaupt nicht vorstellen! Zu diesem Zeitpunkt war ich fest davon überzeugt, dass ich dieses Leben nicht bewältigen könnte. Meine Zweifel und Ängste waren riesig, vor allem wegen der Prognose der Ärzt:innen.

Trotzdem gaben wir das Einverständnis zu einer Genanalyse. Man vermutete etwas »sehr Seltenes«. Nie werde ich die Worte der Humangenetikerin vergessen: »Aber eigentlich kann es das gar nicht sein. Die meisten Ärzte sehen in ihrer ganzen Laufbahn kein einziges Kind mit diesem Gendefekt – und ich kenne bereits einen betroffenen Jungen! Noch ein zweites Kind damit zu betreuen, würde an ein Wunder grenzen und ist mehr als unwahrscheinlich. Ich möchte es einfach nur ausschließen.«

Sie vermutete MOPD Typ 1. Als Jonathan sieben Monate alt war hielten wir das Ergebnis schwarz auf weiß in der Hand: »RNU4ATAC bestätigt«. Jonathan hat MOPD Typ 1. Da es so extrem selten ist, wurde weder beim Praenatest, noch bei der Fruchtwasseruntersuchung darauf getestet.

Aufklärungsarbeit gegen die Angst

Kehren wir in die Gegenwart zurück. Die Prognosen der Ärzt:innen haben sich zum Großteil nicht bewahrheitet: Jonathan kann frei sitzen, er krabbelt und kann mit Hilfe ein paar Schritte laufen. Er kann vom Löffel essen. Reden kann er noch nicht. Aber er versteht fast alles, was wir sagen, und interagiert mit uns. Epilepsie hat er tatsächlich, aber dank Medikamenten sind Anfälle selten.

Mittlerweile ist uns bekannt, dass es weitere typische Anzeichen für MOPD Typ 1 gibt: Knochenfehlbildungen, die Neigung zu Glaukomen, fehlender Zahnschmelz, ein schlechtes Immunsystem und die Neigung zu Enzephalitis. Jonathan hat zusätzlich noch Bluthochdruck und leidet an unkontrolliertem Elektrolytverlust (als einer von zwei in der Literatur beschriebenen MOPD Typ1-Patienten). All das führt uns regelmäßig zu unterschiedlichen Ärzt:innen und in Kliniken. Niemand weiß, wie viel Zeit wir mit Jonathan haben. Der kleinste Infekt kann für ihn den Tod bedeuten.

Es ist nicht einfach, täglich mit dieser Angst zu leben. Und genau deswegen haben wir uns entschlossen, Aufklärungsarbeit zu leisten! Neben MOPD Typ 1 gibt es noch vier weitere Gendefekte, die sehr ähnlich sind und alle unter dem Oberbegriff Mikrocephaler Primordialer Kleinwuchs (MPD) geführt werden. Die Anzeichen in der Schwangerschaft, wie starke Blutungen, geringes Wachstum und wenig Gewichtszunahme in Kombination mit einer Frühgeburt sowie das typische Aussehen direkt nach der Geburt und die multiplen Hirnfehlbildungen sind ein starker Hinweis auf eine Form von MPD.

Um betroffene Familien aus Deutschland (und ihre Ärzt:innen) in Kontakt miteinander sowie mit einem Forschungsteam in den USA zu bringen, habe ich 2018 mit Familie und Freund:innen den Verein Walking with giants Germany e.V. gegründet (siehe Kasten). Wir unterstützen auch finanziell bei Therapien und Medikamenten, die nicht oder nicht vollständig von der Krankenkasse übernommen werden. Aktuell gehören dem Verein 29 Familien aus dem ganzen Bundesgebiet an. Diese Reise, die mit meiner Angst vor der Zukunft begann, verbindet heute über 100 Menschen mit ähnlichen Schicksalen und gibt ihnen Kraft und Mut sowie medizinisches Wissen.

Rückblickend betrachtet wäre es besser für uns gewesen, wenn die Ärzt:innen sich mit ihren Prognosen zurückgehalten hätten, denn die haben uns große Angst vor der Zukunft gemacht. Und sich nicht bewahrheitet.

Vom Pflegepersonal hätte ich mir gewünscht, dass meine Zukunftsängste ernster genommen worden wären. Statt mir nur zu sagen: »Man wächst an seinen Aufgaben«, oder: »Wenn Sie es nicht schaffen, gibt es ja Einrichtungen, in die Sie Ihr Kind geben können«, wären Verständnis und Empathie hilfreicher gewesen.

Aber blicken wir nach vorn und nicht zurück: Was erhoffen wir uns von der Zukunft? Das Jonathan 20 Jahre alt wird.

Vorgestellt: Walking with Giants Germany
Der gemeinnützige Verein Walking With Giants Germany hilft »Deutschlands kleinsten Menschen« als Ableger der in Liverpool ansässigen Walking With Giants Foundation. Er trägt das spärliche Wissen über den Mikrocephalen Primordialen Kleinwuchs (MPD) und seine Krankheitsbilder zusammen, vernetzt betroffene Familien und Ärt:innen, unterstützt die Forschung und arbeitet an einer internationalen medizinischen Datenbank mit. Der Verein sammelt auch Spenden für die Therapien der Kinder und Hilfsmittel für die Familien, wenn die Krankenkassen nicht dafür aufkommen.

> https://walkingwithgiants.de

Zitiervorlage
Braunsdorf-Kremer, S. (2022). Jonathan bleibt klein. Deutsche Hebammen Zeitschrift, 74 (11), 8–12.
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