Falsche Annahmen
In westlichen Ländern ist die Bindungstheorie die am weitesten verbreitete Grundlage für die Begleitung und Betreuung von Müttern und Familien (Keller 2019). Dabei werden Standards definiert, die als allgemeinverbindlich und kulturübergreifend gelten sollen. Das heißt, die Bindungstheorie erhebt den Anspruch, eine wissenschaftliche Theorie mit universellem Geltungsanspruch zu sein und evidenzbasierte Leitlinien für die Arbeit mit Familien zu liefern, auch für Hebammen. Aber die Bindungstheorie genügt diesem Anspruch nicht, und zwar aus drei Gründen, die miteinander zusammenhängen:
- Die zugrundeliegenden Konzepte sind unklar definiert und/oder falsch interpretiert.
- Die Bindungstheorie ist ein kulturgebundener Ansatz, der für viele Menschen unzutreffend ist.
- Die Bindungstheorie erfüllt nicht die Kriterien für eine wissenschaftliche Theorie.
Im Folgenden werden diese drei Bereiche diskutiert. Ausführlicher werden sie in dem Buch »Mythos Bindungstheorie« dargestellt (Keller 2019).
1. Die zugrundeliegenden Konzepte sind unklar definiert und/oder falsch interpretiert
Die Bindungstheorie basiert auf der Annahme, dass das Bindungsmotiv des kleinen Kindes sich während der Menschheitsgeschichte als Anpassung herausgebildet habe. Es schütze das kleine Kind vor allen möglichen Gefahren aus der Umwelt und erhöhe so die Überlebenschancen. Diese biologische Herkunft wird als Indikator für die Universalität aufgefasst. Diese Erklärung enthält einige falsche Annahmen: Die Evolution verfolgt keine Ziele, sondern besteht aus Anpassungen an bestimmte Umweltgegebenheiten, um den Reproduktionserfolg zu optimieren. Ob dabei ein Kind eine sichere Bindung hat, glücklich und zufrieden ist, spielt keine Rolle. Das wird von BindungsforscherInnen zwar erkannt, dennoch wird die sichere Bindung als Entwicklungsziel aufgefasst.
Zudem impliziert Anpassung nicht unbedingt Universalität. Etwas kann eine Anpassung an eine bestimmte Umwelt darstellen, an andere Umweltgegebenheiten dagegen nicht. Das zeigt das Beispiel der Sichelzellenanämie: Betroffene Menschen bilden ein abnormes Hämoglobin, das bei Sauerstoffmangel zur Verformung von roten Blutzellen zu sichelförmigen Gebilden führt. Diese verklumpen und verstopfen kleine Blutgefäße, die sich entzünden. Dies führt zu anfallsartigen, schmerzhaften, zum Teil lebensbedrohlichen Durchblutungsstörungen. Die Zerstörung roter Blutkörperchen führt zu einer schweren chronischen Blutarmut. Betroffene haben aber in Gebieten mit Malaria einen Vorteil, da Sichelzellen vor einer Infektion schützen, indem die Malariaerreger zusammen mit den Sichelzellen von spezialisierten Zellen unschädlich gemacht werden. Sichelzellenträger haben somit in Malariagebieten einen Vorteil, in anderen Regionen jedoch nicht.
Der britische Kinderarzt, Kinderpsychiater und Pionier der Bindungsforschung John Bowlby (1907–1990) ging davon aus, dass Rhesusaffen, deren Junge in einer intensiven Mutter-Kind-Beziehung aufwachsen, das biologische Modell für die menschliche Entwicklung darstellen. Rhesusaffen sind aber nur eine von über 300 nicht menschlichen Primatenarten, die insgesamt eine ungeheure Vielfalt von Sozialisationsbedingungen aufweisen.
Ein wesentlicher Ausgangspunkt für Bowlbys Bindungstheorie waren seine Eindrücke von traumatisierten Kindern in der Nachkriegszeit. Diese Defizitperspektive wurde schon von Beginn an von engen MitarbeiterInnen kritisiert. Sie überlagert die Wahrnehmung von Ressourcen und Entwicklungschancen. Insbesondere das heute anerkannte Konzept der Resilienz wird dabei unterschätzt.
Neben diesen grundsätzlichen Schwächen und Fehlern gibt es eine Reihe unklarer, nicht ausreichend spezifizierter Annahmen. Das beginnt bereits bei der Definition von Bindung. Diese wird üblicherweise als emotionales Band definiert, das zwischen einem Kind und einer Bezugsperson sozial-kommunikativ aufgebaut wird. Abgesehen davon, dass man unter einem emotionalen Band vielerlei verstehen kann, ist Bindung immer eine Beziehungsstrategie zwischen zwei Personen. Faktisch wird Bindung aber auch als Persönlichkeitsmerkmal des Kindes behandelt – anders wäre die Kompetenzannahme unsinnig, dass die Bindungsqualität Vorhersagen über die weitere Entwicklung zuließe. Zudem werden von der vermuteten Bindungsqualität des Kindes auch in der Praxis häufig Rückschlüsse auf die Pflegekompetenz und -motivation der Mutter gezogen. Entsprechend unklar ist auch, was das interne Arbeitsmodell, also die innere Repräsentation der Bindungsbeziehung als Ergebnis der Interaktionsgeschichte in den ersten drei bis vier Lebensjahren tatsächlich ist. BindungsforscherInnen selbst kommen zu dem Schluss, dass es unklar sei, ob das interne Arbeitsmodell eine emotionale Haltung sei, ein kognitives Schema, ein Wahrnehmungsbias, eine emotionale Einstellung oder eine psychoanalytisch fundierte nicht bewusste Instanz – unklar ist auch, wie sich diese Repräsentation im Laufe der ersten Jahre entwickelt. All diese Fehler und Unzulänglichkeiten stellen den Wert der Bindungstheorie infrage.
2. Die Bindungstheorie ist ein kulturgebundener Ansatz, der für viele Menschen unzutreffend ist
Die Bindungstheorie muss in einem soziohistorischen Kontext betrachtet werden, wie jede psychologische und pädagogische Theorie. Sie entstand in der Nachkriegszeit in der westlichen (oberen) Mittelschicht und ist ein Produkt dieser Gesellschaft, wie die aus Spanien stammende Wissenschaftshistorikerin Marga Vicedo überzeugend aufgewiesen hat (Vicedo 2017). Die Bindungstheorie beruht auf einem bestimmten Menschenbild mit expliziten und impliziten Vorannahmen, die eben in dieser westlichen Mittelschichtkultur der Nachkriegszeit verankert sind. Das ist an sich nicht ungewöhnlich, wird aber zum Problem durch den Universalitätsanspruch der Bindungstheorie. Es wird ja argumentiert, dass die Bindungstheorie in allen ihren Annahmen für alle Menschen gleichermaßen zutreffe.
Da rebelliert schon der gesunde Menschenverstand, da ja nicht alle Menschen in dem gleichen soziohistorischen Kontext gelebt haben und leben. So ist die Bindungstheorie eine große Ausnahme unter den psychologischen Theorien, die alle im Laufe der Jahre verändert, modifiziert, angepasst oder aber aufgegeben wurden – weil sich die Rahmenbedingungen verändert haben und weil andere wissenschaftliche Erkenntnisse vorliegen.
Die meisten BindungsforscherInnen beharren jedoch darauf, dass Bowlbys Theorie in den Originalformulierungen nach wie vor Gültigkeit besitze. Einige wenige konstatieren Veränderungen über die letzten 50 Jahre, die allerdings eher das Themenspektrum der Theorie erweitern als dass sie Grundannahmen betreffen. Zum Beispiel weiten sie die Theorie auf das Erwachsenenalter und die Bindung zum Vater aus.
Die impliziten, nicht hinterfragten Annahmen sind in einem bestimmten Familienmodell verortet, nämlich der Zweigenerationen-Kleinfamilie. In der westlichen Mittelschicht weist sie die typischen soziodemografischen Merkmale auf: hohe formale Bildung der Eltern, üblicherweise mit materieller Sicherheit einhergehend, späte Erstelternschaft und wenig Kinder. In diesen Familien haben die Eltern, in der Regel die Mutter, die materiellen Ressourcen und die Zeit, sich mit den wenigen Kindern intensiv zu beschäftigen. Daraus wird gefolgert, dass Erwachsene die Bindungs- und Bildungspersonen von Kindern seien und zu sein hätten, die ihre ungeteilte Aufmerksamkeit auf das Baby richteten und auf seine noch so subtilen Signale reagierten.
Die hohe formale Bildung begünstigt einen distalen Interaktionsstil, das heißt durch die Fernsinne Sehen und Hören gesteuertes Verhalten – viel Blickkontakt und viel Sprache. Darin ist die Annahme enthalten, dass Interaktionen dyadisch strukturiert seien und wie Dialoge gestaltet würden. Inhaltlich werden die Wünsche und Bedürfnisse, die Intentionen und Präferenzen, also die innere Welt thematisiert und schließlich mentalisiert – das heißt, die erwachsene Person spricht darüber, was das Kind möchte, was ihm gefällt, was es nicht möchte, und erklärt dem Kind damit seine eigene innere Welt. Darin ist eine weitere Annahme enthalten, nämlich dass das Kind im Mittelpunkt stehe und die Bezugsperson seinen Signalen zu folgen habe. Wichtig ist zudem, dass Emotionen geäußert werden und insbesondere positive Emotionalität maximiert wird.
Den intensiven dyadischen Erfahrungen wird ein gleichermaßen wichtiger Fokus auf Eigenständigkeit entgegengesetzt. Das bedeutet, dass auch Säuglinge einen erheblichen Anteil des Tages ohne sozialen Austausch verbringen, um so zu lernen, eine Beziehung mit sich selbst aufzubauen und nicht zu abhängig von anderen Menschen zu werden. Dabei erfüllen Spielzeuge eine wichtige Funktion.
Mit dieser Sozialisationsstrategie werden bestimmte Entwicklungsbereiche begünstigt und gefördert, vor allem die frühe Entwicklung eines separaten, unabhängigen und selbstbestimmten Selbst. Das bedeutet, die Welt aus einer individuellen, subjektiven Perspektive wahrzunehmen. Dies entspricht dem kulturellen Modell der psychologischen Autonomie. Natürlich sind Beziehungen auch in diesem Modell wichtig, aber aus der selbstbestimmten individuellen Perspektive heraus als freiwillige und jederzeit beendbare soziale Konstruktionen. Dieses Selbstbild ist an das Leben der westlichen Mittelschichtgesellschaft angepasst, die etwa 5 % der Weltbevölkerung einnimmt (Keller 2019). Die Bindungstheorie ist in diesem Weltbild beheimatet.
In vielen Teilen der Welt wird ein ganz anderes Menschenbild vertreten, insbesondere in traditionell lebenden bäuerlichen Familien der nicht-westlichen Welt. Zum Teil steht es in eklatantem Widerspruch zum westlich geprägten Weltbild, wie auch das einleitende Beispiel aus den Beng-Dörfern zeigt. Traditionell lebende Bauernfamilien machen etwa 30 bis 40 % der Weltbevölkerung aus und einen Großteil der MigrantInnen in westlichen Ländern (siehe Link). Diese Familien werden mit Gesundheits- und Bildungssystemen konfrontiert, die ihnen nicht nur fremd und unverständlich sind, sondern die sie häufig als schädlich für Kinder und Familien betrachten.
Das soziale System mit einer hierarchischen Binnenstruktur steht im Mittelpunkt dieses kulturellen Weltbildes. Häufig leben mehrere Generationen von Verwandten und nicht Verwandten in einem Haushalt zusammen und erfüllen unterschiedliche Funktionen. In einem solchen Haushalt gibt es andere Betreuungsformen für kleine Kinder, andere Sozialisationsstrategien mit anderen Zielen. Die Kinder und Erwachsenen halten sich in einem Lebensraum auf, es gibt keine Kinderzimmer oder spezielle Objekte für Kinder. Trotzdem sind die Kinderwelt und die Erwachsenenwelt häufig voneinander getrennt, primär durch unterschiedliche Verhaltensregulationen. So ist die Betreuung kleiner Kinder häufig die Aufgabe anderer Kinder – und es gibt nicht die eine Hauptbezugsperson, sondern ein Versorgungsnetzwerk, das aus unterschiedlich vielen Personen bestehen kann, die in ihren Funktionen austauschbar sind. Die biologische Mutter mag in diesem Netzwerk eine besondere Rolle spielen, eine gleiche unter anderen sein oder keine besondere Rolle spielen.
Für alle diese Sozialisationsstrategien gibt es Belege in der kulturpsychologischen und anthropologischen Literatur (Keller & Bard 2017; Keller 2019). Der bevorzugte Kommunikationskanal mit Säuglingen und kleinen Kindern sind Körperkontakt und Körperstimulation. Durch Tragen am Körper von anderen nehmen Kinder so Nähe, Wärme und einen gemeinsamen Rhythmus wahr, der symbiotische Beziehungen unterstützt. Interaktionsstrukturen sind selten dyadisch, sondern Kinder sind Teile von Kommunikationsnetzwerken, in denen verschiedene Personen gleichzeitig agieren und Kinder teilnehmen, beobachten und zuhören. So lernen Kinder ihre Rolle in dem sozialen System durch teilnehmende Beobachtung. In diesen Kontexten lernen Kinder die Regeln des sozialen Systems und den Verhaltenskodex. Zum Beispiel gehört es sich in vielen Kulturen nicht, dass Kinder Erwachsenen ins Gesicht schauen, mit ihnen Blickkontakt haben. Dazu gehört auch, dass Emotionen in Anwesenheit von Erwachsenen nicht gezeigt werden. In Kindergruppen mag das anders sein, wie Gabriel Scheidecker in madegassischen Dörfern nachgewiesen hat (Scheidecker 2017). In Kindergruppen werden Emotionen frei geäußert und ausgelebt. In dem Zusammenhang ist es auch interessant, dass Fremdenfurcht, die in der westlichen Psychologie inklusive der Bindungstheorie als Universalie betrachtet wird, die sogenannte Acht-Monats-Angst in den sozial engmaschigen Gemeinschaften, wie beispielsweise bei den Beng oder den kamerunischen Nso, nicht zur normalen Entwicklung gehört.
Hier werden andere Entwicklungsziele betont. Neben der vorrangigen Bedeutung des sozialen Systems, wird durch die Betonung der Körperlichkeit eine frühe motorische Unabhängigkeit unterstützt und damit die Teilnahme und Teilhabe an gemeinsamen Verantwortlichkeiten. Dazu ist die frühe Handlungsautonomie notwendig, das heißt selbstständiges und eigenverantwortliches Handeln. Das macht deutlich, dass Kulturen nicht danach unterschieden werden können, ob sie eher Autonomie oder eher Verbundenheit fördern – alle Kulturen tun immer beides, jedoch in unterschiedlichen Auslegungen.
In einer solchen Umwelt bedeutet Bindung natürlich etwas anderes als in einer westlichen Mittelschichtfamilie. Bindungen entstehen in einer anderen sozialen Umgebung mit anderen Personen, drücken sich anders aus. Zwar fehlt es weitgehend an empirischen Untersuchungen in nicht-westlichen Kulturen, aber inzwischen ist so viel Evidenz vorhanden, dass man die Universalitätsannahme der Bindungstheorie zurückweisen muss (Keller 2019).
Kinder wachsen in sehr verschiedenen Lernumwelten auf und entwickeln sich in der kulturellen Umgebung, die ihre Bezugspersonen herstellen. So entstehen unterschiedliche Entwicklungspfade, die sich in vielerlei Hinsicht voneinander unterscheiden. Das Entwicklungstempo einzelner Bereiche ist unterschiedlich, je nach der kulturellen Betonung. Die Zusammenhangsmuster zwischen verschiedenen Bereichen sind entsprechend unterschiedlich und die Entwicklungsergebnisse sehen möglicherweise sehr verschieden aus.
3. Ist die Bindungstheorie eine wissenschaftliche Theorie?
Eine wissenschaftliche Theorie ist durch eine klare, miteinander zusammenhängende theoretische Annahme definiert. Dieses Kriterium beurteilt die Güte einer Theorie. Das Problem mit der Bindungstheorie besteht darin, dass viele der Kernannahmen unklar definiert sind und daher unterschiedlich interpretiert werden können und auch werden. Zudem hängen die Annahmen nicht unbedingt miteinander zusammen. Zum Beispiel ist die Definition mütterlicher Sensitivität (Sensitivitätsannahme) nicht zwangsläufig universell (Universalitätsannahme). Diese Annahme wird zwar von der Bindungstheorie gemacht, ist aber weder logisch noch empirisch haltbar.
Teil des Gütekriteriums wissenschaftlicher Theorien ist, dass die Annahmen bestätigt oder verworfen werden können. BindungsforscherInnen testen zwar die Annahmen der Bindungstheorie, jedoch mit dem Ziel, sie zu bestätigen. Falls die Ergebnisse nicht wie erwartet ausfallen, wird dies im Nachhinein mit methodischen oder auch kulturellen Faktoren erklärt. Die Gültigkeit der Annahmen wird nicht in Zweifel gezogen. Die Befunde werden auch nicht genutzt, um die Annahmen zu modifizieren oder zu verwerfen.
Ein weiteres Problem besteht darin, dass BindungsforscherInnen nur das als Bindungsforschung verstehen, was mit den von ihnen selbst entwickelten Methoden untersucht wurde. Das führt theoretisch einerseits zur Vermischung von Theorie und Methode, was wiederum dem Gütekriterium widerspricht. Andererseits führt es zu dem systematischen Ignorieren von vielen wissenschaftlichen Befunden zur Beziehungsentwicklung, die von AnthropologInnen und PsychologInnen mit kultursensitiven Methoden erhoben wurden (Otto & Keller 2014).
Das Problem der Kulturangemessenheit von weltweit eingesetzten Methoden der Bindungstheorie, aber auch von Tests und Verfahren, die fast ausschließlich in der westlichen Welt entwickelt wurden, stellt den Wert der Befunde erheblich infrage. Es ist also mehr als fraglich, ob die Bindungstheorie wirklich eine wissenschaftlich vertretbare Theorie darstellt.