Von der Kinderosteopathie erhoffen sich Eltern eine sanfte, ganzheitliche Behandlung für Anpassungsschwierigkeiten, Entwicklungsprobleme oder andere Beschwerden ihres Babys. Wissenschaftliche Belege für die Wirksamkeit gibt es nicht, aber wirre Theorien und spirituelle Überzeugungen. Der Hauptvorwurf liegt in einer Pathologisierung von gesunden Kindern. Ein kritischer Blick.
Der Besuch bei Kinderosteopath:innen gehört für viele Eltern heute genauso dazu wie Babyschwimmen oder ein Pekip-Kurs. Der Erstkontakt geschieht häufig bereits im Neugeborenenalter auf Empfehlung der Hebamme. Insbesondere nach einer schwierigen Geburt stellen viele ihr Kind aus Angst, dass ansonsten etwas übersehen wird, lieber einmal zu viel als einmal zu wenig osteopathisch vor.
Als ganzheitliche Heilmethode verspricht die Kinderosteopathie eine wirksame und sanfte Behandlung für viele Beschwerden. In Anlehnung an die U-Untersuchungen werden regelmäßige osteopathische Vorsorgeuntersuchungen (OVU) für alle Kinder propagiert. Am häufigsten nehmen die Eltern den sogenannten Check-up für Neugeborene wahr. Ziel sei es, präventiv »Dysfunktionen« zu palpieren und zu lösen, um »dem Organismus die bestmöglichen Entwicklungsmöglichkeiten zu geben« (Philippi, 2008; Fenske & Schäfer, 2012; Verband Freier Osteopathen e.V., o.J.).
Osteopathie wird in Deutschland von Ärzt:innen, Heilpraktiker:innen oder Physiotherapeut:innen ausgeübt. Diagnostik und Behandlung erfolgen mit den Händen (Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestags, 2020). Die Behandlung von Kindern spielt in der rund fünfjährigen Osteopathie-Ausbildung eine untergeordnete Rolle. Umfang und Dauer von anschließenden Kinderosteopathie-Fortbildungen variieren stark. Inhalte sind unter anderem Embryologie, Geburt, Neugeborenenreflexe, Plagiozephalie, Verdauungsstörungen oder Psychologie, aber auch die Behandlung Schwangerer (Berufsverein für Kinderosteopathie und Osteopathie e.V., o.J.; Verband freier Osteopathen, o.J.).
Wohlgemerkt ist eine Kinderosteopathie-Fortbildung keine Voraussetzung für die Behandlung von Kindern und auch nicht für die Kostenübernahme durch die Krankenkassen. Bei der Auswahl eines »Kinderosteopathen« oder einer »Kinderosteopathin« bleibt somit oft unklar, wie viel Wissen und Erfahrungen in der Behandlung von Kindern vorhanden sind.
Die Konzepte der Kinderosteopathie sind nur schwer greifbar. Vorhandene Literatur liefert überkomplizierte Erklärungen und ein Nebeneinander uneinheitlicher Begriffe und Theorien. Edzard Ernst, emeritierter Professor für Alternativmedizin, bezeichnete die Osteopathie als »verwirrt und verwirrend« (Ernst, 2015; Wolz, 2021).
Theorien und Begriffe der Osteopathie
Die Osteopathie geht auf den US-amerikanischen Landarzt Andrew Taylor Still (1828–1917) zurück. Krankheiten entstünden durch dekompensierte Selbstheilungskräfte: Bei zu vielen Belastungen komme es zu sogenannten »somatischen Dysfunktionen« oder »Läsionen«. Osteopath:innen könnten diese mit ihren »fühlenden, sehenden, denkenden und wissenden Fingern« ertasten. Die parietale Osteopathie betrifft den Bewegungsapparat, während bei der viszeralen Osteopathie die inneren Organe im Fokus stehen.
Das Ziel der osteopathischen Therapie sei es, Blockaden und Gewebespannung mit den Händen zu korrigieren, wodurch der harmonische Fluss im Körper wiederhergestellt werden soll (American Association of Colleges of Osteopathic Medicine/AACOM, 2011; Möckel & Mitha, 2009; Osteopathie Schule Deutschland, o.J.; Philippi, 2008; Verband der Osteopathen Deutschland e.V., o.J.b).
» Positive Effekte der Osteopathie bei Kindern in Bezug auf Schreien und Schlafen konnten nur in Studien mit mäßiger methodischer Qualität gezeigt werden.«
Andrew Taylor Stills Schüler William G. Sutherland (1873–1954) und John E. Upledger (1932–2021) entwickelten die craniosacrale Osteopathie nach dem Konzept des sogenannten »Primären Respiratorischen Mechanismus«: Der Körper weise eine rhythmische Kraft auf »wie ein innerer, unwillkürlicher Atem«. Diese »Primäratmung« (auch »craniosacraler Rhythmus«) gehe auf Bewegungen der Schädelknochen und des Gehirns sowie auf Fluktuationen des Liquors zurück. Veränderungen im craniosacralen Rhythmus könnten Osteopath:innen durch sanften Druck mit den Händen »harmonisieren« (Bundesverband Osteopathie e.V./BVO, o.J.; International Institute for Craniosacral Balancing, o.J.; Möckel & Mitha, 2009; Saueressig, 2018).
All die genannten Phänomene beruhten auf dem sogenannten »breath of life«, einer alles durchdringenden Lebenskraft. Diese Kraft drücke sich im Körper in Form langsamer Wellen aus und könne mit den Händen »als eine lebendige Qualität der Stille empfunden« werden (Möckel & Mitha, 2009). Nach Upledger würden alle Gewebe des Körpers wie Muskeln, Knochen oder Organe über ein eigenständiges Bewusstsein und Erinnerungsvermögen verfügen (Landeweer & Assink, 2007).
Geburtstraumata bei Neugeborenen
Die Osteopathin Viola Frymann (1921–2016) wird als »Wegbereiterin der Osteopathie für Kinder« angesehen (Verband der Osteopathen Deutschland e.V., 2021). Sie legte den Fokus stark auf angebliche Schwangerschafts- und Geburtsfolgen. Mechanische Kräfte und andere perinatale Einflüsse könnten zu sogenannten Anpassungsstörungen beim Kind führen. Bei einer Beckenendlage werde Flüssigkeit in den Kopf gedrückt, was als »aufgeblasenes Gefühl im Kranium« wahrgenommen und mit einem »Ausgleich des Flüssigkeitsfeldes« behandelt werden könne (Möckel & Mitha, 2009).
Eine Stauchung der Längsachse unter der Geburt führe zu »Kompressionen« an der Wirbelsäule und am Os occipitale, was unter anderem zu einer Irritation benachbarter Nerven führe. Ein erhöhtes Risiko bestehe bei prolongierter Geburt, medikamentöser Geburtseinleitung, vaginal-operativer Entbindung oder Anwendung des Kristellerhandgriffs.
Obwohl der traumatische Weg durch den Geburtskanal entfällt, sei auch ein Kaiserschnitt schädlich. Erklärt wird dies unter anderem mit schnellen Druckschwankungen und mechanischen Kräften beim Herausziehen des Kindes. Eine Sectiogeburt könne den Charakter negativ beeinflussen: Weil sie die Begrenzungen des Geburtskanals nicht erfahren, würden Kaiserschnittgeborene später vermehrt Grenzen austesten und neigten zu »wildem Verhalten« (Möckel & Mitha, 2009). In der osteopathischen Behandlung von Kaiserschnittkindern soll »der natürliche Weg durch den Geburtskanal nachgeahmt werden« (Reinhardt & Bellmann, 2021a). Insgesamt könne sich ein nicht aufgelöstes Geburtstrauma bis ins Erwachsenenalter negativ auswirken, beispielsweise in Form von Kopfschmerzen, Hyperaktivität, Lernstörungen bis hin zu einem geschwächten Immunsystem (Frymann, 2007, 2008; Möckel & Mitha, 2009).
Dem ersten Atemzug des Kindes nach der Geburt wird eine immense Bedeutung beigemessen. Er sei wichtig für die »Synchronisation von Primäratmung und Lungenatmung« nach der Geburt. Postnatal sei die Primäratmung eine treibende Kraft beim mehrtägigen »Entfalten« des Kindes. Fehle diese »Dekonfiguration«, führe das zu langfristigen negativen Folgen wie Entwicklungsverzögerungen (Frymann, 2007; Möckel & Mitha, 2009).
Spirituelle Ideen
Eine weitere wichtige Rolle in der Kinderosteopathie spielen pseudowissenschaftliche embryologische Überlegungen von Erich Blechschmidt (1904–1992), Professor für Anatomie in Göttingen. Demnach würden biodynamische, »morphogenetische Felder« als gestaltende Kraft die embryologische Entwicklung beeinflussen. Organe blieben »ein Leben lang über die gemeinsame embryologische Herkunft miteinander verbunden und beeinflussbar« (Liem, 2014; Möckel & Mitha, 2009, 91; Philippi, 2008).
Als Kombination aus der craniosacralen Therapie und Blechschmidts Überlegungen entwickelte der US-amerikanische Osteopath James Jealous (1923–2021) die sogenannte »craniosacrale Biodynamik«. Statt aktiver Techniken zum Beheben von Dysfunktionen legen die Behandler:innen beim biodynamischen Ansatz lediglich die Hände auf. Sie treten passiv mit dem »breath of life« in Kontakt und lassen sich in der Behandlung von ihm leiten. Ziel sei ein Zustand der Balance, der durch absolute Stille geprägt sei und in dem sich die Selbstheilungskräfte entfalten könnten (Grasmück et al., 2023; Lippuner Hohler, 2011; Möckel, 2021).
Solche spirituell geprägten Denkschulen sind selbst in der Osteopathie umstritten. In der Kinderbehandlung sind sie allerdings von zentraler Bedeutung, gelten sie doch als besonders sanft (Liem et al., 2015).
Kindesentwicklung und KiSS-Syndrom
Kinderosteopathen wird eine hohe Fachkompetenz in Bezug auf die Kindesentwicklung zugeschrieben, insbesondere der Motorik. Aus osteopathischer Sicht müsse die Entwicklung einer festen Abfolge gehorchen. Störungen eines Reifeschrittes würden sich negativ auf die nachfolgenden Reifeschritte auswirken, was zu Lern- und Verhaltensstörungen führen könne. Abweichungen am Aufrichtungsprozess müssten »möglichst bald« osteopathisch behandelt werden. Das Auslassen der Krabbelphase wird als pathologisch angesehen (Ava Levin & Levin, 2016; Bein-Wierzbinski, 2013).
Heutzutage weiß man, dass die Entwicklung individuell sehr variabel ist und Abweichungen meist ohne Krankheitswert sind. Das Auslassen eines Meilensteins wie dem Krabbeln ist in der Regel eine harmlose Normvariante. Die Verzögerung in einem Entwicklungsbereich erlaubt per se keine qualitative Aussage, sondern kann allenfalls Anlass zu weiterführender Diagnostik geben (Jenni, 2022; Michaelis & Niemann, 2017, 22).
Bei Risikokindern wie Frühgeborenen kann eine verzögerte motorische Entwicklung Hinweise auf weitere Probleme geben. Bei gesunden, ansonsten unauffälligen Kindern hat die motorische Entwicklung hingegen keine relevante Aussagekraft für andere Entwicklungsbereiche (Messerli-Bürgy et al., 2021). »Ein Kind, das sich motorisch langsam entwickelt, kann sprachlich weit fortgeschritten sein und umgekehrt.« (Largo, 2019)
Hauptanwendungsgebiete der Kinderosteopathie sind sogenannte Säuglingsasymmetrien wie Schiefhaltungen oder Schädeldeformitäten und Regulationsstörungen. Angebliche Kopfgelenkdysfunktionen dienen als Erklärung all dieser Beschwerden, was im Krankheitskonzept des KiSS-Syndroms mündet. Diese »Kopfgelenk-induzierte Symmetriestörung« wurde 1991 vom deutschen Manualmediziner Dr. Heiner Biedermann postuliert. Übereinstimmend mit der osteopathischen Sichtweise würden Fehllagen im Mutterleib oder Irritationen der Halswirbelsäule während der Geburt, aber auch Unfälle wie ein Sturz vom Wickeltisch, zu oben genannten Problemen führen. Aufgrund der inhaltlichen Überschneidungen wird das Krankheitskonzept häufig von Osteopath:innen genutzt (Biedermann, 1991; Fenske & Schäfer, 2012; Schmidt-Jortzig, o.J.).
Ein unbehandeltes KiSS-Syndrom sei Ursache für spätere Entwicklungsstörungen wie Dyskalkulie, Legasthenie oder ADHS (Biberschick, 2020; Frymann, 2007; Möckel & Mitha, 2009; Reinhardt & Bellmann, 2021b). Wegen fehlender Evidenz ist das KiSS-Syndrom wissenschaftlich nicht anerkannt. Die Existenz der Erkrankung wird als eine »bisher unbewiesene Hypothese« angesehen (Gesellschaft für Neuropädiatrie e.V., 2005).
Logische Trugschlüsse
Die osteopathischen Grundannahmen sind wissenschaftlich unbelegt und größtenteils unplausibel. Dass eine Vielzahl von Erkrankungen ausschließlich durch oberflächliche Berührung (Palpation) ertastet und geheilt werden könnte, widerspricht dem heutigen Wissen von Krankheitsentstehung. Zudem ist die Validität der Palpation gering: Verschiedene Osteopath:innen erheben völlig verschiedene Befunde (Rogers et al., 1998).
»Ein Verfahren kann durchaus wirksam sein, obwohl sich die Wirkungsweise nicht schlüssig erklären lässt« (Franke, 2020). Aus diesem Grund soll die Wirksamkeit der Kinderosteopathie folgend näher beleuchtet werden.
Mit Verweis auf positive Erfahrungsberichte heißt es häufig: »Wer heilt, hat Recht«. Das greift zu kurz. Erstens wird der Spontanverlauf von Erkrankungen außer Acht gelassen. Der zeitliche Zusammenhang der Symptombesserung mit der Behandlung führt zu dem logischen Fehlschluss, die Behandlung sei ursächlich für die Besserung. Dabei wären die Beschwerden auch von allein weggegangen. Die Korrelation wird fälschlicherweise mit Kausalität gleichgesetzt (vgl. Hinneburg, 2016).
Zweitens können Placebo-Effekte mitverantwortlich sein für die »Heilung«. Diese führen erwiesenermaßen zu einer Symptomlinderung, jedoch nicht aufgrund einer spezifischen Wirkung der angewandten Methode, sondern durch Faktoren wie eine positive Erwartungshaltung, eine empathische Beziehung zwischen Behandelnden und Patient:innen oder Lernerfahrungen (Czerniak et al., 2020). Befürworter:innen des Satzes argumentieren, für die Patient:innen spiele dies alles am Ende keine Rolle, solange eine Besserung eintrete. Es ist jedoch problematisch, wenn eine Behandlungsmethode selbstbewusst eine eigenständige Wirkung bei einer Vielzahl von Erkrankungen suggeriert, obwohl sie nur auf unspezifischen Effekten beruht. Eine Methode, die eine Wirkung über den Placebo-Effekt hinaus behauptet, muss diese auch nachweisen.
Anekdotische Evidenz durch Einzelfallberichte hat aus Gründen wie einer selektiven Wahrnehmung nur eine geringe Aussagekraft. Symptomverbesserungen werden der Behandlung zugeschrieben, während Verschlechterungen als »Erstverschlimmerung« abgetan werden. Die Beliebtheit ist aufgrund solcher kognitiven Verzerrungen kein guter Indikator für die Effektivität einer Behandlung. »Wer heilt, hat nicht zwingend Recht« (Grams, 2020a).
In einer gemeinsamen Stellungnahme pädiatrischer Fachgesellschaften wurde konstatiert, dass es »keinen wissenschaftlichen Wirksamkeitsnachweis für eine osteopathische Behandlung bei Kindern und Jugendlichen« gebe (Gesellschaft für Neuropädiatrie et al., 2015).
» Im besten Fall gibt Kinderosteopathie den Eltern Sicherheit. Im schlechtesten Fall werden Ängste instrumentalisiert und die Kinder pathologisiert. «
Studien mit Mängeln
Als angeblicher Beleg für die Wirksamkeit der Kinderosteopathie wird oft die sogenannte OSTINF-Studie angeführt, laut eigener Aussage »eine der bisher weltweit größten Studien über die osteopathische Behandlung von Säuglingen«. In der Studie wurden Eltern im Verlauf einer osteopathischen Behandlung zu Beschwerden ihrer Babys befragt. Die Säuglingsasymmetrie verbesserte sich im Schnitt um eindrückliche 82 %, die Plagiozephalie um 51 %, Fütterstörungen um 77 %, exzessives Schreien um 70 % und Schlafstörungen um 56 % (Schwerla et al., 2021).
Größtes Manko der Studie: All diese Beschwerden bessern sich auch deutlich ohne eine osteopathische Behandlung. Es gab keine Kontrollgruppe, um die Effekte der Osteopathie mit dem Spontanverlauf vergleichen zu können. Die fehlende Verblindung und die Elternbefragung ermöglichen zudem Verzerrungen wie den Placebo-by-proxy-Effekt. Dabei übertragen sich positive Erwartungen der Eltern unbewusst auf das Kind, beziehungsweise bilden sich die Eltern eine Symptombesserung ein (Leitenbacher, 2021).
Ein Review von Paul Posadzki und Team urteilte 2013 über die Wirkung der Kinderosteopathie bei diversen Krankheitsbildern: »Allgemein betrachtet befürworten kleine und verzerrte Studien die osteopathische Behandlung, während die größten und methodisch korrekten Studien keinen Effekt zeigen konnten. (…) Die mangelnde methodische Qualität und der Mangel an Studien überhaupt ist bemerkenswert. (…) Solange keine Daten vorliegen, kann die Osteopathie nicht als effektive Therapie für Kinder betrachtet werden, und Osteopathen sollten das auch nicht behaupten« (Maier, 2016; Posadzki et al., 2013).
Der Osteopath Helge Franke publizierte 2022 ein systematisches Review zu osteopathischen Behandlungen bei Kindern. Obwohl ebenfalls bei keinem einzigen Beschwerdebild hochwertige Evidenz für eine Wirksamkeit festgestellt werden konnte, wurden die Ergebnisse wohlwollend gedeutet (Franke, 2020; Franke et al., 2022). So wird von einem Nutzen der Osteopathie bei »Säuglingskoliken« berichtet. Nach einer osteopathischen Behandlung würden die Säuglinge Studien zufolge länger schlafen und signifikant weniger schreien.
Eine 2023 erschienene Metaanalyse bemängelte an besagten Studien die fehlende Verblindung der Eltern und die fehlenden Scheinbehandlungen in der Kontrollgruppe. Positive Effekte in Bezug auf Schreien und Schlafen konnten nur in Studien mit mäßiger methodischer Qualität gezeigt werden, während sich in höherwertigen Studien keine signifikanten Effekte ergaben (Cabanillas-Barea et al., 2023).
In einer jüngst publizierten Studie der Osteopathin Dawn Carnes wurde die Effektivität der Kinderosteopathie bei »Säuglingskoliken« im Vergleich zu einer Scheinbehandlung (leichtes Berühren des Kindes ohne therapeutische Intention) untersucht. Bei allen Kindern verbesserten sich die Symptome im Verlauf – ganz gleich ob osteopathisch behandelt oder scheinbehandelt. Als mögliche Erklärungen für die Symptomverbesserung in beiden Gruppen nennen die Autor:innen den natürlichen Krankheitsverlauf, Elternberatung und -anleitung, Zuwendungseffekte und eine damit verbundene positive Erwartungshaltung der Eltern (Carnes et al., 2024).
Als Beleg für die Wirksamkeit der Osteopathie werden gerne Studien zur Behandlung Frühgeborener ins Feld geführt (Franke, 2020; Verband der Osteopathen Deutschland e.V., o.J.a). Osteopathie führe bei Frühgeborenen zu einer signifikanten Verkürzung des Krankenhausaufenthalts von 2,7 Tagen und zu relevanten Kosteneinsparungen. Keine der Studien wies eine Scheinbehandlung in der Kontrollgruppe auf, was neben der mangelnden Verblindung zu einem weiteren Problem führt: Es ist lange bekannt, dass sanfte Berührungen und liebevoller Körperkontakt bei Frühgeborenen Stress reduzieren und den Verlauf langfristig verbessern. Positive Ergebnisse könnten durch Berührungseffekte bedingt sein und nicht durch eine spezifische Wirkung der Osteopathie (Carozza & Leong, 2021; Lanaro et al., 2017; Snyder, 2014). Neuere Untersuchungen zur Stressreduktion bei Frühgeborenen testeten gegen eine Scheinbehandlung und konnten keine klinisch relevanten Unterschiede feststellen (Manzotti et al., 2020, 2022).
Risiken und Nebenwirkungen
Bei Kritik an der Osteopathie wird häufig entgegnet, sie »schade ja nicht«. In der Tat sind insbesondere durch die »sanften« kinderosteopathischen Methoden im Normalfall keine dramatischen Nebenwirkungen zu erwarten. Seltene schwerwiegende Nebenwirkungen wie Knochenbrüche, Lähmungen oder Todesfälle durch manuelle Behandlungen von Kindern traten vor allem nach ruckartigen Impuls-Techniken an der Wirbelsäule auf, die eher der Chiropraktik zuzuordnen sind. Da Nebenwirkungen jedoch nicht systematisch erfasst werden, ist die Datenlage dünn (Gesellschaft für Neuropädiatrie et al., 2015).
Durch Faktoren wie exzessiven Glauben an Selbstheilungskräfte, mangelnde Kenntnisse der Behandler:innen in der Kinder- und Jugendmedizin und eine generell kritische Einstellung gegenüber der »Schulmedizin« wird die Verzögerung einer adäquaten Behandlung als ernstzunehmendes Risiko angesehen (Berufsverband der Kinder- und Jugendärzt:innen, 2012; Gesellschaft für Neuropädiatrie et al., 2015; Hohenschurz-Schmidt et al., 2022).
Auch wenn die Osteopathie stets betont, ihr Blick richte sich im Sinne des ressourcenorientierten Salutogenese-Konzepts auf die Entstehung von Gesundheit statt auf die Entstehung von Krankheit, wird ihr eine »Pathologisierung« von Kindern vorgeworfen (Berufsverband der Kinder- und Jugendärzt:innen, 2012; Grams, 2020b). Aus osteopathischer Sicht liegen bei einem Großteil der Neugeborenen angeblich »Funktionsstörungen« vor (Frymann, 1966; Verband der Osteopathen Deutschland e.V., 2021).
Im Erstgespräch wird akribisch nach Abweichungen in Schwangerschaft und Geburt gefahndet, die ursächlich für Probleme beim Kind sein sollen. Häufig vorkommende, banale Befunde werden zu Störungen erhoben und gesunde Kinder für behandlungsbedürftig erklärt. Durch die Warnung vor Langzeitfolgen wie Verhaltensstörungen bei zu später Behandlung werden Zeit- und Handlungsdruck aufgebaut (vgl. Sacher, 2024). Kinderärztliche Verbände kritisierten 2015, dass »Ängste der Eltern über die zukünftige (und vermeintlich bedrohte) Entwicklung instrumentalisiert werden« (Gesellschaft für Neuropädiatrie et al., 2015).
Mehr Vertrauen
Für die Gesundheit ihres Kindes wollen Eltern alle Möglichkeiten ausschöpfen. Die Versprechungen der Kinderosteopathie, etwaige Entwicklungshindernisse früh zu erkennen und sanft zu behandeln, spricht viele Eltern an. In der wohligen Atmosphäre fühlen sie sich ernst genommen von Behandler:innen, die sich viel Zeit nehmen für das individuelle Kind. Eltern wähnen ihr Kind in der Hand von Expert:innen, wobei den wenigsten das spirituelle Gedankengebäude der Osteopathie bekannt sein wird. Im besten Fall gibt Kinderosteopathie den Eltern Sicherheit. Im schlechtesten Fall werden Ängste instrumentalisiert und die Kinder pathologisiert.
Weder Notwendigkeit noch Nutzen der Kinderosteopathie sind belegt. Entwicklungsmediziner:innen raten, generell mehr auf die natürliche kindliche Entwicklung zu vertrauen. Dafür bedarf es im Wesentlichen einer verlässlichen, liebevollen Umgebung (Schoener & Seelig, 2024). »Jedes Kind will sich von sich aus entwickeln. Es hat einen enormen inneren Drang zu wachsen und sich Fähigkeiten und Kenntnisse anzueignen«, wusste der Schweizer Kinderarzt Remo Largo (Largo, 2019). Eltern müssten »sich nicht ständig darum bemühen, dass ihr Kind Fortschritte macht. Es braucht nicht besonders ›gefördert‹ zu werden.«