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Der Präsident der International Society for Research in Human Milk and Lactation (ISRHML) ist derzeit Prof. Dr. Berthold Koletzko, der seit vielen Jahren unter anderem zu den Lipiden in der Kinderernährung forscht. Er spricht im Interview über Forschungsgelder in der Laktationsforschung und die Rolle von Muttermilch für die zukünftigen Inhaltsstoffe von Formula. 

 

Birgit Heimbach: Der Kongress der ISRHML war beeindruckend in Bezug auf Zusammenstellung, Moderation, Inhalte und Kooperationen. Die Fülle war überwältigend. Offensichtlich war auch, dass hinter der Forschung einige große Sponsoren stehen, die es überhaupt erst ermöglichen, Studien in diesem verhältnismäßig jungen Forschungszweig voranzutreiben. Ein Großteil des Geldes kommt aus den USA und der Schweiz.

Berthold Koletzko: Ja es ist wirklich großartig, dass die Forschung zu Muttermilch und Laktation deutlich zunimmt und inzwischen auch umfangreich finanziell unterstützt wird. Die wichtigsten Förderer der Muttermilchforschung sind heute das National Institute of Health der amerikanischen Bundesregierung und zwei private Stiftungen, die Bill & Melinda Gates Stiftung in den USA und die Familie Larsson-Rosenquist Stiftung in der Schweiz. Wichtig wäre es, dass wir auch große Förderorganisationen in Europa, wie das Forschungsrahmenprogramm der Europäischen Union, die Deutsche Forschungsgemeinschaft und das Bundesministerium für Bildung und Forschung überzeugen, dass sich Investitionen hier lohnen. Die Erforschung der Muttermilch und der Laktation kann großen Nutzen für die Förderung der lebenslangen Gesundheit von Müttern und Kindern erzielen und damit für die gesamte Gesellschaft sehr wichtig sein.

Wibke Jonas, die derzeit als Associate Professor am Department of Women‘s and Children‘s Health am Karolinska-Institut in der Nähe von Stockholm arbeitet, war meines Erachtens die einzige Hebamme unter den Moderator:innen und Redner:innen. Sind Hebammen in der ISHRML vertreten und waren sie unter den Zuhörer:innen?

Wir haben die Kongressteil­nehmer:innen nicht befragt, welcher Berufsgruppe sie angehören, denn die ISRHML-Tagung ist für alle am Thema Interessierten offen. Aber insgesamt ist die International Society for Research in Human Milk and Lactation (ISRHML) absolut interdisziplinär aufgestellt und hat Mitglieder aus einer Vielzahl von Berufsfeldern einschließlich der Hebammen. Unser großes Förderungsprogramm für Nachwuchswissenschaftler:innen, das Trainee Expansion Programm (TEP), ist für alle offen, ausdrücklich auch für die Versorgungsforschung und die bessere Implementierung der Stillförderung in der Praxis.

Dies bedeutet, dass die ISRHML Forschende verschiedener Disziplinen mit einem Stipendium finanziell unterstützt, wenn es sich um Aspekte der Muttermilch- und Laktationsforschung handelt. Wie hoch ist die Förder­summe?

Es gibt Trainee Travel Funds von bis zu 10.000 US Dollar, mit denen Nachwuchsforscher:innen in einem Zeitraum bis zu drei Monaten eine andere Institution besuchen können, um Methoden zu lernen oder ein kooperatives Projekt aufzubauen. Zusätzlich gibt es den Trainee Bridge Funds für Promovierte mit einer Fördersumme von bis zu 100.000 US-Dollar, mit dem ein Forschungsprojekt und -aufenthalt mit der Dauer eines Jahres gefördert wird.

Die Hebammen können sich ja erst jetzt akademisch qualifizieren, wie sieht es für ältere Hebammen aus, die eine Idee für ein gutes Projekt haben?

Es gibt keine Altersbegrenzung für Antragsteller:innen. Allerdings gilt, dass wir Nachwuchsforscher:innen innerhalb von wenigen Jahren nach der ersten beruflichen Qualifizierung oder beim Trainee Bridge Fund in den ersten Jahren nach der Promotion fördern wollen. Die Einzelheiten finden sich auf der Website der ISRHML.

Wie sehen Sie ansonsten die Rolle der Hebammen im Bereich der Laktations- und Versorgungsforschung?

Es gibt in vielen Ländern eine große Diskrepanz zwischen Wunsch und Wirklichkeit. An die 90 % der Mütter beginnen in Deutschland zu stillen, aber die Stillrate bricht meist schon in den ersten zwei Monaten nach der Geburt deutlich ein. Wir brauchen also bessere Strategien zur Unterstützung des Stillens. Hier gibt es viele Fragen, wie wir dies am besten gewährleisten können. Hebammen, die sehr nah an den Müttern dran sind, könnten zur Lösung wahrscheinlich sehr viel beitragen. Letztlich brauchen wir die Zusammenarbeit aller hier tätigen Berufsgruppen. Viele haben gute Ideen, aber wir müssen diese durch Forschung evaluieren und prüfen, was tatsächlich wirkt und welche Strategien sich am besten bewähren. In München arbeitet unsere Gruppe derzeit an einer innovativen digitalen App zur Stillförderung, aber das kann nur ein Element sein und die Herausforderungen allein nicht lösen. Wir brauchen kreative Ideen und ihre Evaluation!

Sie sind der derzeit amtierende Präsident der ISRHML. Welche Visionen verfolgen Sie und wie lange haben Sie dafür Zeit in Ihrem Amt?

Die Präsidentschaft dauert zwei Jahre. Dazu kommen ein Jahr davor als »elect president« und ein Jahr danach als »past president«, so dass es insgesamt vier Jahre sind, in denen man die Strategien direkt beeinflussen kann. Ein ständiger Wechsel in den Leitungsgremien ist meines Erachtens gut und wichtig, um immer frische Ideen hereinzubringen.

Mein Ziel ist, dass wir die ISRHML noch mehr internationalisieren. Ein Großteil der Mitglieder kommt aus Nordamerika. Wir brauchen noch mehr Begeisterung und Engagement für die Muttermilchforschung in anderen Teilen der Welt, besonders in Europa und Asien, denn auch dort gibt es spannende Forschung zur Laktation. Wir möchten noch mehr regionale Aktivitäten auf die Beine stellen, wie in Trainingsworkshops und Summerschools in Europa. Schon etabliert haben wir hier regelmäßige Webinare, die für alle Interessierten zugänglich sind (siehe Link). Zudem erstellen wir derzeit einen Strategieplan mit definierten Zielen für die nächsten fünf Jahre, um die Gesundheit von Müttern und Kindern durch Muttermilchforschung nachhaltig weiter zu verbessern.

Sie haben sich damit auseinandergesetzt, wie Formula weiter verbessert werden kann. Die menschliche Milch war dabei der Innovations­treiber. Denn unverzichtbar für eine gesunde Entwicklung sind beispielsweise deren Fettsäuren, Wachstumsfaktoren und Zytokine. Welcher Stoff sollte derzeit aus Ihrer Sicht unbedingt von Formulaherstellern berücksichtigt werden?

Wir arbeiten im von Haunerschen Kinderspital in München daran, Lipide in der Muttermilch zu charakterisieren, die bioaktive Funktionen haben. Sie sind somit essenziell für die Gesundheit des Kindes. Über diese Lipid-Komponenten verstehen wir noch zu wenig.

Wir haben aber bereits gelernt, dass wir etwa die Eiweißkomponente in Formula stärker der Muttermilch angleichen und damit deutlichen Nutzen für das kindliche Wachstum erreichen können. Die Annäherung an den Milchzuckergehalt ist ohnehin leicht zu schaffen. Zu den nicht-verdaulichen Kohlenhydraten, den Oligosacchariden der Milch, gibt es sehr viel Forschung, aber auch noch viele offen Fragen. Bei den Muttermilchlipiden, die einen großen Teil der Milch darstellen, haben wir extrem komplexe Fettkomponenten, die zum Teil direkt aus den Zellmembranen der mütterlichen Brust kommen. Die Fette in Säuglingsersatznahrung sind dagegen eine sehr einfache Mischung von Pflanzenölen mit Sojalecithin – also komplett anders zusammengesetzt. Da gibt es ein Riesenpotenzial, um noch besser zu verstehen und zu berücksichtigen, was wichtig für Mutter und Kind ist.

Der Keynote-Vortrag kam von Nobelpreisträger Prof. Dr. med. Harald zur Hausen. Er vermutet, dass Säuglinge mit noch nicht ausgereiftem Immunsystem im ersten oder zweiten Lebensjahr beim Zufüttern von Kuhmilch mit Bovine Milk and Meal Factors (BMMF) infiziert werden können. Er empfiehlt, Säuglinge möglichst lange zu stillen und nicht zu früh mit Kuhmilch zu ernähren (siehe auch DHZ 8/2021, Seite 62ff.).

Seit langem wissen wir zum Beispiel, dass hoher Verzehr von rotem Fleisch Darmkrebs fördert, aber zu den zugrunde­liegenden Mechanismen gibt es viele offene Fragen. Die Überlegungen zu BMMF haben derzeit den Charakter wissenschaftlicher Hypothesen. Für Neu5Gc, eine Sialinsäure, die Bestandteil der Kuhmilch ist und in menschlicher Milch in nicht nennenswerten Mengen vorkommt, gibt es aber zum Beispiel starke Daten, die eine Kanzerogenität stützen. Doch auch wenn es Indizien gibt, welche diese Hypothesen stützen, kann man derzeit keine Handlungsempfehlungen für die Breite daraus ableiten. Die vorliegenden Daten sprechen meines Erachtens nicht zuletzt auch wegen der möglichen großen Bedeutung für die Bevölkerungsgesundheit unbedingt dafür, die aufgeworfenen Überlegungen und Fragen durch weitere Untersuchungen zu prüfen.

Ihre Kongresse finden alle zwei Jahre statt. Da der letzte verschoben werden musste, folgt der 21. ISRHML-Kongress schon nächstes Jahr. Ist dafür schon etwas Konkretes geplant?

Die Einzelheiten sollen demnächst bekanntgegeben werden. Der Kongress ist mit Präsenzveranstaltungen an der kanadischen Ostküste geplant – so viel steht zum jetzigen Zeitpunkt schon mal fest.

Wir haben seit zwei Jahren eine Reihe zum Thema Inhaltsstoffe in der Muttermilch und werden einige der auf dem Kongress vorgestellten Studienergebnisse darin aufgreifen. – Danke auch für das aufschlussreiche Gespräch!

Der Interviewte

Prof. Dr. med. Berthold Koletzko war langjähriger Leiter der Abteilung Stof­fwechsel- und Ernährungsmedizin am Dr. vom Haunerschen Kinderspital der Universität München und setzt seine Arbeit dort seit 2020 für fünf Jahre als Else Kröner Senio­rprofessor für Kinderheilkunde fort. Seit Jahren befasst er sich mit frühen Stoffwechsel- und Ernährungsfaktoren, die langfristig die Gesundheit prägen. Der Einfluss des Stillens ist dabei stets zentral. Mit seinen Mitarbeiter:innen koordiniert er drei europäische randomisierte klinische Studien, die den Einfluss der Ernährung im Säuglings- und Kleinkindalter untersuchen und Präventionsempfehlungen erarbeiten. Als Präsident steht er der International Society for Research in Human Milk and Lactation (ISRHML) vor.

Zitiervorlage
Heimbach, B. (2021). Interview mit Prof. Dr. Berthold Koletzko: »Wir brauchen kreative Ideen«. Deutsche Hebammen Zeitschrift, 73 (11), 102–104.
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