Der Kinderbuchautor und -illustrator Eric Carle feierte Ende Juni seinen 90. Geburtstag – und ist noch voller bunter Ideen. Foto: © Museum Wilhelm Busch Hannover

Eric Carle ist Ende Juni 90 geworden – seine »Raupe Nimmersatt« wurde 50. Immer wieder greift Carle in seinen Tiergeschichten das Thema Familie auf. Am Beispiel der Unterwasserwelt zeigt er Väter, die sich – wie das Seepferdchen – um den allerkleinsten Nachwuchs kümmern, indem sie selbst auf besondere Weise schwanger gehen. Auf diese Art stellt er tradierte Rollen infrage. Der Autor und Illustrator will Kinder auf ihrem Weg in die Welt unterstützen. Sein Buch von der kleinen Raupe Nimmersatt ist in vielen Kinderzimmern auf der ganzen Welt zu finden. Ein Blick auf sein Werk. 

Sie sind fröhlich, bunt und unbekümmert: Herr und Frau Seepferdchen von Eric Carle. Kleine bunte Zotteln an Hals und Rücken lassen sie noch mehr wie Pferdchen aussehen – die sonst für die Wassertiere eher typische stachelige Zackenreihe entlang der ganzen Rückseite ließ der Maler weg. Carle stilisiert und vereinfacht stark, denn die Jüngsten sind seine Zielgruppe. Seine beiden Seepferdchen lässt er gemächlich im angedeuteten Meer treiben, bis der Text daneben erklärt, dass sich nun das Weibchen im Kreis dreht und Eier legt, direkt in die Bauchtasche des Gemahls. Der verspricht im kurzen und liebevollen Dialog, sich um sie zu kümmern.

Auf den folgenden Seiten des Buches »Herr Seepferdchen« wird der werdende Vater, der nun allein für den Nachwuchs verantwortlich ist, nicht als Sonderling dargestellt. Vielmehr trifft er auf andere Männer, die das ebenfalls tun, und bestärkt sie alle mit guten Worten: etwa Herrn Stichling, der sich ums Nest kümmert, Herrn Seenadel, der die Eier in einer Reihe am Bauch trägt, Herrn Kurter, dem das Weibchen die Eier an den Kopf geklebt hat, oder Herrn Barsch, der die Eier im Maul bewacht. Alle Väter sind auch mitsamt ihrer Brut dargestellt.

Das Buch zementiert bei Kindern keine traditionellen Geschlechterrollen und es vermittelt ihnen Vertrauen in ihre beginnende Selbstständigkeit, als der Seepferdchen-Vater einem geschlüpften Kind, was wieder in die Bauchtasche zurückwill, erklärt: »Ich hab dich sehr lieb, aber jetzt kannst du allein zurechtkommen.«

Offen für das Abwegige

Der Künstler gestaltet seine Figuren und Tiere andächtig und heiter zugleich. Mit der Schere schneidet er sie aus zuvor bemaltem Seidenpapier aus, das sich in seinen Schubladen in vielen Farben stapelt. Eric Carle wird von seinem deutschen Verlag zitiert: »Ein Buch muss wie eine Sinfonie komponiert werden, wie ein Duett oder wie ein ruhiges Stück Kammermusik. Es muss einen bestimmten Stil und Ablauf haben. Aber es ist auch wichtig, auf die eigene Intuition zu vertrauen und offen zu sein, offen für das Unerklärbare, das Zufällige, selbst für das Abwegige.« (siehe Links)

In der Gestaltung wie auch in den Geschichten für die ganz kleinen LeserInnen und ZuhörerInnen ist viel Liebe zu spüren. Carle verarbeitet darin Erinnerungen an glückliche Kindheitstage, vor allem an den Vater Erich, der mit ihm durch Wälder streifte, aber auch an Tante Mina, die ihn einst mit Leckereien vollstopfte, an Onkel August, der malte und ihm nebenbei schönste Geschichten erzählte, und an eine Tante, die ihm eine weiße Schürze nähte, damit er Onkel Adam beim Verputzen des Schornsteins helfen konnte. »Meine Bücher haben mehrere Ebenen: Da gibt es lustige Tiere, bunte Farben, eine Geschichte, Witz, Unterhaltung, Geheimnisse, emotionalen Gehalt – und es wird Wissen vermittelt. Je nach dem Interesse des Kindes, nach seinen Fähigkeiten und seiner Wissbegierde, kann es sich die Ebene aussuchen, auf der es sich heimisch fühlt. Einige dieser Ebenen können und sollen eine Herausforderung darstellen«, beschreibt Eric Carle seinen »Weg zum Kinderbuch« (siehe Links).

Mehr als 70 Bücher hat er illustriert, die meisten auch selbst geschrieben. Sie wurden in 66 Sprachen übersetzt und mehr als 146 Millionen Mal weltweit verkauft. Der Künstler ist wohl allen bekannt, die mit Kleinkindern zu tun haben, vor allem durch sein Buch »Die kleine Raupe Nimmersatt«. Er hat es seiner 21 Jahre jüngeren Schwester gewidmet. Die Fressgeschichte wurde weltweit über 50 Millionen Mal verkauft.

Mit diesem Bestseller begann vor fünf Jahrzehnten die Zusammenarbeit mit Ann Benduce. Sie ist Verlegerin und brachte alle Bücher von Carle heraus.

Am Anfang von »The very hungry Caterpillar« stand nur ein mehrfach gefalteter Briefbogen, den Carle eher zufällig in einen Locher schob. Aus der Idee eines Bücherwurms wurde auf Rat Beneduces stattdessen eine Raupe. Fünf Tage lang frisst sie sich durch allerlei Essen, bis sie von Lollis und Eis Bauchschmerzen bekommt, am letzten Tag der Woche an einem grünen Blatt genesen kann und sich zum Schmetterling verwandelt. Das Stadium der Verpuppung ließ der Künstler weg. Aus einer Puppe zu kommen, befand Carle für zu merkwürdig, auch wenn es korrekter gewesen wäre. Er ließ einfach Poesie über Wissenschaft siegen.

Der Seepferdchenvater hatte es Eric Carle angetan – ein Vater, der mit seinen Kindern selbst schwanger geht und sie dann in die Unterwasserwelt entlässt. Foto: © Museum Wilhelm Busch Hannover

Die blauen Pferde des Expressionisten Franz Marc waren stets ein Vorbild für Carle. Im hohen Alter hat er selbst ein blaues Pferd aus Papierschnipseln gestaltet.
Foto: © Museum Wilhelm Busch Hannover

Auf der Überfahrt von New York nach Deutschland 1935 lassen sich Eric Carle und sein Vater fotografieren. Foto: © Museum Wilhelm Busch Hannover

Erinnerung an glückliche Vater-Zeiten

Der Vater hat einen besonderen Platz im Herzen des Malers. Er war aus Deutschland nach New York emigriert, wohin seine zukünftige Frau nachfolgte und wo Eric Carle 1929 geboren wurde. Wegen des Heimwehs der jungen Mutter ging die kleine Familie 1935 zurück nach Deutschland. Mit seinem als sensibel beschriebenen Vater, der seine Träume und Naturverbundenheit förderte, wanderte Eric Carle als Schuljunge jedes Wochenende durch die Wälder von Feuerbach bei Stuttgart. Eidechsen, Käfer, Ameisen, Bienen – alles wurde genau inspiziert. Vater Erich wollte ursprünglich selbst künstlerisch arbeiten, wurde aber seinerseits vom Vater in ein normales Berufsleben gedrängt. Diese Spaziergänge genoss Carle, ansonsten war die Jugend geprägt von der verhassten Schule, wo er den Rohrstock kennenlernte.

Carle meinte rückblickend, dass die Eltern politisch naiv gewesen seien, sonst wären sie in New York geblieben. Der Vater wurde eingezogen und geriet in sowjetische Kriegsgefangenschaft, aus der er halb verhungert zurückkehrte. Das enge Band zwischen dem gebrochenen Vater und dem Sohn, der selbst auch Kriegswirren und Gewalt verarbeiten musste, war für immer gerissen. 1959 sah er ihn kurz vor dessen Tod das letzte Mal. Sie hatten sich nichts mehr zu sagen. »In Gedanken rief ich das Glücksgefühl in mir wach, das für mich untrennbar mit meinen frühen Kindertagen verbunden ist, als mein Vater mir seine Träume schenkte, die er sich selbst nicht hatte erfüllen können,« so Carle auf seiner eigenen Internetseite (siehe Links). Indem er kleine Lebewesen malt, ehrt er ihn bis heute und fängt damit die glücklichen Zeiten mit ihm wieder ein.

Der Kunstlehrer Herr Kraus

Seinem Kunstlehrer in Deutschland, Herrn Kraus, war Carles Zeichentalent nicht verborgen geblieben. Er lud ihn zu sich nach Hause und zeigte ihm in aller Heimlichkeit verbotene Kunst: Reproduktionen von Gemälden moderner Künstler, die von den Nazis als entartet bezeichnet wurden. Eric hörte Sätze wie: »Die Nazis haben keine Ahnung, was Kunst ist, diese Scharlatane!« Und: »Erzähl niemandem, was du heute gesehen hast. Erinnere dich nur an die Freiheit ihres Ausdrucks und die Qualität ihrer Ausführung.« Aus der Schule kannte Carle nur Naturalismus und Realismus. »Diese Erfahrung war zunächst ein Schock und verunsicherte mich. Aber letztlich änderte sich dadurch mein Blick auf Kunst.« Carle erklärt, dass seine bunten Tiere an jenem Tag geboren wurden, als er seinen Lehrer zu Hause besuchte.

In einem Film, der im Museum Wilhelm Busch in Hannover lief, erklärte er, dass seine Farben impressionistisch seien, die Formen expressionistisch. Carle befreite sich von allen Konventionen und diese künstlerische Freiheit machte ihn zum Gestalter für Kinder.

Auf Anraten vom Kunstlehrer Kraus begann er mit 16 ein Studium für Gebrauchsgrafik an der Akademie der Bildenden Künste in Stuttgart. Seine Mutter, die von deutschen Erziehungsvorgaben überzeugt war und viele Jahre von ihm Gehorsam erwartetet hatte, ließ ihn gewähren. Teils war sie voller Bewunderung, teils verwirrt von seinem Weg in die Welt der Linien und Farben. Carle beschreibt sich humorvoll als einen von sich eingenommenen exzentrischen Studenten und dankt seinen Kunstprofessor, der seine Eitelkeit in konstruktive Bahnen lenkte, bevor sie zerstörerisch geworden wäre. 1952 ging er als 23-Jähriger in die lang ersehnte USA zurück. Dort arbeitete er zunächst als angestellter Grafiker.

Carle in den 1960er Jahren mit seinen Kindern Cirsten und Rolf Foto: © Museum Wilhelm Busch Hannover

Wende in New York

1954 heiratet Eric Carle, dann wird er Vater zweier Kinder. »Als Cirsten sechs und Rolf vier Jahre alt waren, trennten Dorothea und ich uns und ließen uns schließlich scheiden. Dieser lapidare Satz gibt nichts von dem Schmerz wieder, den diese Trennung mit sich brachte.« In den nächsten zehn Jahren lebte er allein, wollte nie wieder heiraten. Die Kinder besuchten ihn regelmäßig.

In dieser Zeit wagte er den Schritt zum selbstständigen Künstler. Schließlich fragte ihn 1967 der Kinderbuchautor Bill Martin Jr., ob er sein Buch »Brown Bear, What Do You See?« (»Brauner Bär, wen siehst denn du?«) illustrieren möchte. Carle kamen die großen Blätter im sonnigen Klassenzimmer in seiner ersten Schule in den Sinn, die bunten Farben und fetten Pinsel. Das war die große Wende in seinem Leben, fortan gestaltete er fast ausschließlich Kinderbücher in bewusst kindlich anmutender Manier.

Er arbeitete damit im Grunde für das Kind in sich, erfüllte sich nach eigenem Bekunden seine eigenen Bedürfnisse. Über den Kontakt zu einem ehemaligen Studienkollegen kommt schließlich auch wieder ein Kontakt nach Deutschland zustande, zum Gerstenberg-Verlag in Hildesheim, der die Bücher von Carle hierzulande verlegt.

Das blaue Pferd

Gerstenberg hat auch sein letztes Buch produziert: »Der Künstler und das blaue Pferd« von 2019 hat sich Carle selbst zum 90. Geburtstag geschenkt. Inmitten farbiger Tiere enthält es nur zwei Sätze: »Ich bin ein Künstler und male ein blaues Pferd und ein rotes Krokodil und eine gelbe Kuh und ein rosa Kaninchen und einen grünen Löwen und einen orangefarbenen Elefanten und einen violetten Fuchs und einen schwarzen Eisbären und einen bunt getupften Esel. Ich bin ein großer Künstler.« Carle warnt mit dem Buch vor Ignoranz, erinnert an künstlerische Freiheit und das Recht auf eigene Entfaltung, an die Toleranz anderen und Andersartigem gegenüber. Jeder Mensch solle sich Kreativität zutrauen, experimentierfreudig sein, auch entgegen gängiger Konventionen.

Das Buch ist eine Hommage an Franz Marc, einen der bedeutendsten Maler des Expressionismus in Deutschland, der vor 100 Jahren Tiere so malte, dass Carle sie nie vergaß: Kühe gelb und Pferde blau. Blau war für Marc männlich, herb und geistig. Seitdem Carle bei seinem alten Kunstlehrer Herrn Kraus gewesen war, war es vor allem Marcs Umgang mit Farben, der ihn inspirierte.

Carles Botschaft umsetzen

Eric Carle lebt heute in Florida Keys, wo er viele glückliche Jahre mit seiner zweiten Frau Barbara Morrison verbrachte. Sie war Montessori-Lehrerin und starb 2015. Morrison unterrichtete Kinder, deren Mütter wegen emotionalem Stress in einer Klinik betreut wurden. Sie war überzeugt, dass Bilderbücher das Leben von Kindern bereichern und sie verwandeln können. Zwischen ihrer und seiner Arbeit sah Carle viele Gemeinsamkeiten: »Für mich steht fest, dass wir alle unsere Behinderungen haben, die einen mehr, die anderen weniger; mit meinen Büchern versuche ich, auf diese Bedingungen einzugehen.«

2002 eröffneten sie ein Museum für internationale Bilderbuchkunst »The Eric Carle Museum of Picture Book Art« in Amherst, Massachusetts. Sie wollten einen Ort schaffen, wo sich Familien »genährt« fühlen. Umgeben von vielen Kunstwerken können Kinder dort in einem großen Atelier ihre Kreativität entdecken und Carles Botschaft umsetzen: »Bleib dir treu.«

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