Im Rahmen der sogenannten entwicklungsfördernden Pflege versucht man dem Frühgeborenen heute eine Umwelt zu bieten, die den Verlust des intrauterinen Milieus so gut wie möglich kompensiert. Foto: © Kerstin Pukall

In fünf zentralen Themen bringt der Kinderarzt und Neonatologe Dominique Singer auf den Punkt, wo die Problemfelder der Frühgeburtlichkeit heute (noch) liegen. Worin bestehen die Ansatzpunkte, um langfristig die Entwicklungschancen von Frühgeborenen bis ins Erwachsenenalter zu verbessern? Ein Blick auf die Perspektiven. 

Als »Big Five« werden in der Naturkunde die fünf größten Landsäugetiere Afrikas bezeichnet, die – einst begehrte Ziele von Großwildjägern – heute vom Aussterben bedroht sind. Der Begriff hat ein gewisses Eigenleben entwickelt, so dass er heute auch von anderen Disziplinen entlehnt wird (etwa in der Psychologie für die fünf Hauptdimensionen der Persönlichkeit). Unter dem Titel »Die ‚Big Five‘ der Neonatologie« sollen im Folgenden fünf zentrale Themenkomplexe besprochen werden, die die Neugeborenen-Medizin – mit ihren erzielten Erfolgen, ungelösten Problemen und absehbaren Entwicklungen – beschäftigen. Dabei soll zu jedem Themenkomplex eine kurze Bestandsaufnahme gegeben werden, an die sich jeweils ein Ausblick auf mögliche künftige Entwicklungen anschließt.

1 Die Häufigkeit von Frühgeburten

Bestandsaufnahme

Das Haupttätigkeitsfeld der Neonatologie ist die Behandlung von Frühgeborenen. Wie in einer einschlägigen Öffentlichkeitskampagne der European Foundation for the Care of the Newborn Infant (EFCNI), der sogenannten Söckchenwäscheleine (»Jedes zehnte Söckchen ist ein kleines Söckchen«), einprägsam illustriert wird, beträgt die Rate an Frühgeburten in den westlichen Industrienationen derzeit rund 10 % – mit steigender Tendenz. Der Anstieg wird unter anderem mit dem zunehmenden Durchschnittsalter der Schwangeren und, eng damit verknüpft, der vermehrten Inanspruchnahme von Fertilisationsbehandlungen bei unerfülltem Kinderwunsch erklärt. Auch die hohe Rate von Kaiserschnittentbindungen von mancherorts deutlich mehr als 30 % mag ihren Teil dazu beitragen, wobei – bedingt durch die Einsicht, dass die Rate an Komplikationen mit jeder Woche an Unreife ansteigt (siehe Abbildung 1) – unnötig lange vor dem errechneten Geburtstermin stattfindende Sectiones inzwischen bewusst vermieden werden. Aus demselben Grund werden Kinder, die kurz vor der vollendeten 37. Schwangerschaftswoche (SSW) geboren werden, auch nicht mehr als »near term«, sondern als »late preterm« bezeichnet. Diese »späten« stellen die Hauptgruppe der Frühgeborenen dar, während die sehr kleinen Frühgeborenen mit einem Geburtsgewicht < 1.500 g (Very Low Birth Weight, VLBW) »nur« 10 % der zu früh geborenen Kinder – also 1 % der Neugeborenen insgesamt – ausmachen. Für Deutschland mit einer Geburtenzahl von rund 700.000 pro Jahr bedeutet dies, dass etwa 70.000 Kinder zu früh geboren werden, von denen circa 7.000 zu den VLBW gehören. Wegen der steigenden Überlebensraten in diesem Segment wächst damit zwar eine Jahr für Jahr größer werdende PatientInnengruppe heran, die aufgrund ihrer außergewöhnlichen Geburtsanamnese besondere gesundheitliche Langzeitrisiken mit sich trägt. Doch wird – nicht zuletzt angesichts des Medieninteresses, welches spektakuläre Einzelfälle an der Grenze der Lebensfähigkeit auf sich zieht – oft übersehen, dass die eigentliche gesellschaftliche Relevanz sich aus der weitaus größeren Zahl an Frühgeborenen oberhalb dieser Gewichtsgrenze ergibt. Dies gilt umso mehr aus einer globalen Perspektive, in der die Rate an Frühgeburten noch wesentlich höher ist und maßgeblich zu der weltweiten Kindersterblichkeit beiträgt, ohne dass an eine neonatologische Intensivmedizin nach westlichem Vorbild vielfach überhaupt zu denken wäre (WHO 2012).

Ausblick

Hieraus folgt, dass das Hauptziel der Perinatalmedizin weniger in das Aufgabengebiet der Neonatologie als der Pränatalmedizin und Geburtshilfe fällt: die Reduzierung der Frühgeburtenrate. Bedenkt man die Hauptursachen der Frühgeburt, nämlich die aszendierenden Infektionen und die intrauterine Wachstumsrestriktion, so sind die Infektionsverhütung, ‑früherkennung und ‑behandlung einerseits sowie die Prävention und gegebenenfalls Therapie erworbener Ursachen der Plazentainsuffizienz andererseits aussichtsreiche, wenn auch anspruchsvolle Wege zu diesem Ziel. In diesem Zusammenhang sei darauf hingewiesen, dass die Gepflogenheit, die Leistungsfähigkeit von Perinatalzentren unter anderem an der Anzahl der VLBW pro Jahr zu messen, eine paradoxe Botschaft enthält: Gewiss gilt auch hier, wie in anderen Fachgebieten, dass »Übung den Meister macht« und die Behandlungsergebnisse mit größeren Fallzahlen im allgemeinen – wenn auch nicht ausnahmslos – besser werden. Dennoch sollte das Ziel der Perinatalmedizin nicht in einer möglichst hohen Zahl möglichst unreifer Frühgeborener, sondern vielmehr in einer möglichst geringen Zahl an VLBW, gemessen an der Zahl der behandelten Risikoschwangeren, liegen. Daher wäre es auch dringend wünschenswert, die Daten der geburtshilflichen Perinatal- und der Neonatalerhebung endlich flächendeckend zusammenzuführen, um die interdisziplinären Behandlungsergebnisse transparent zu machen. Auch aus einer globalen Perspektive ist es eher die Majorität der »späten« als die Minorität der sehr kleinen Frühgeborenen, die von vergleichsweise einfach umsetzbaren Verbesserungen im Sinne einer spürbaren Senkung der weltweiten Kindersterblichkeit profitieren könnte (WHO 2012).

2 Die Grenze der Lebensfähigkeit

Bestandsaufnahme

Trotz Einführung der maschinellen Beatmung sind in den 1970er und 1980er Jahren viele Frühgeborene am neonatalen Atemnotsyndrom förmlich »erstickt«. Erst mit dem Beginn der Surfactant-Substitution in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren gelang der Durchbruch zu den VLBW mit einem Gestationsalter < 30–32 SSW und in der Folge die schrittweise Reduzierung der sogenannten Grenze der Lebensfähigkeit auf 22–24 SSW. Zwischen der 22.–24. und der 30.–32. SSW befindet sich die Lunge im sogenannten sakkulären Entwicklungsstadium. Die Sacculi (»Säckchen«) sind Vorstufen von Alveolen, die bereits einen Gasaustausch ermöglichen, denen es aber noch an Surfactant mangelt, um das Fruchtwasser entfernen und die Lungenbläschen offenhalten zu können. Durch Substitution von Surfactant lässt sich diese »funktionelle Lungenunreife« wirksam behandeln. Vor der 22.–24. SSW liegt das sogenannte kanalikuläre Stadium der Lungenentwicklung, in dem der Bronchialbaum in Form von Canaliculi (Kanälchen) angelegt wird, welche noch nicht zum Gasaustausch geeignet sind. Die Grenze der Lebensfähigkeit ist also unter anderem durch eine »strukturelle Lungenunreife« bedingt. Der Umgang mit dieser Grenze ist auch ein medizinethisches Problem, wobei zwei grundsätzliche Standpunkte zu unterscheiden sind: Auf der einen Seite stehen die Befürworter einer defensiven Strategie, die den Zuwachs an Komplikationen, die man durch Behandlung von Frühgeborenen »in der Grauzone der Lebensfähigkeit« erkauft, für unvertretbar halten. Dem wird von den Verfechtern einer offensiven Strategie entgegnet, dass, wenn man den unreifsten Frühgeborenen eine reguläre Behandlung vorenthält, die wenigen Ausnahmen zwangsläufig ein schlechteres Outcome zeigen werden, als wenn man regelmäßig Erfahrungen mit dieser PatientInnengruppe sammeln würde. Inzwischen haben sich beide Positionen insofern aneinander angenähert, als eine zurückhaltende Behandlungsempfehlung mit dem individuellen Elternwillen abgestimmt wird (AWMF 2014). Was bleibt, ist die steile Zunahme an Komplikationen mit jeder weiteren Verschiebung der Behandlungsgrenze. Mit 24 SSW liegt in den großen Perinatalzentren die Überlebensrate bei bis zu 80 % und die Rate an schweren körperlichen Behinderungen bei einem Viertel bis einem Drittel der Überlebenden – was umgekehrt auch bedeutet, dass mindestens die Hälfte der PatientInnen die Chance auf ein »gesundes Überleben« hat (wobei »gesundes Überleben« eine Vielzahl an Langzeitfolgen nicht ausschließt, die diese PatientInnen dennoch belasten). Bereits mit 23 SSW steigt die Mortalität auf ≥ 50%, was selbst dann, wenn die relative Behinderungsquote der Überlebenden vergleichsweise konstant bleibt, dazu führt, dass die Chance auf ein »gesundes Überleben« immer kleiner wird (Bührer 2016).

Ausblick

Aus der Tatsache, dass die Grenze der Lebensfähigkeit unter anderem durch die strukturelle Lungenunreife bedingt ist, folgt auch, dass sie nicht durch andere Beatmungsverfahren oder neue Medikamente zu überwinden sein wird; vielmehr würde es hierzu einer »künstlichen Plazenta« bedürfen, die die Versorgung des Frühgeborenen unabhängig von der noch nicht funktionsfähigen Lunge übernimmt. Tatsächlich ist unlängst eine Publikation erschienen, in der gezeigt wurde, dass das Überleben an einer künstlichen Plazenta – einer Art Herz-Lungen-Maschine für Schaf-Feten, die derweil in einem Beutel mit steriler Flüssigkeit bebrütet wurden – prinzipiell möglich ist (Partridge et al. 2017). Es erscheint jedoch fraglich, ob hierin ein vergleichbarer Durchbruch für die Neonatologie besteht wie seinerzeit in der Surfactanttherapie des neonatalen Atemnotsyndroms. Denn abgesehen von neuen, unabwägbaren Risiken für die körperliche und geistige Entwicklung ist auch die vorschnell geäußerte Hoffnung, damit ethische Probleme an der Grenze der Lebensfähigkeit zu lösen, gänzlich unangebracht – vielmehr würden diese allenfalls auf eine andere Ebene verlagert. Auch aus der schon mehrfach erwähnten globalen Perspektive erscheint es abwegig, einzelne »extrauterine Feten« in sterilen Plastikbeuteln am künstlichen Kreislauf heranzuzüchten, während weltweit Tausende von Früh- und Neugeborenen an vergleichsweise leicht behandelbaren Ursachen sterben. Ein interessanter Ansatz besteht dagegen in (von der Bill & Melinda Gates-Stiftung geförderten) Forschungen zur inhalativen Applikation von mikrovernebeltem künstlichem Surfactant, mit dem vorrangigen Ziel, mäßig unreife Frühgeborene auch in Ländern, in denen technische Hilfsmittel nur begrenzt verfügbar sind, in den Genuss einer einfachen und wirksamen Therapie kommen zu lassen (Walther et al. 2014)

3 Die Bedeutung von Umweltfaktoren

Bestandsaufnahme

Die Surfactantsubstitution wurde zu einem Zeitpunkt eingeführt, zu dem die Neonatologie noch stark intensivmedizinisch geprägt war: Lange invasive Beatmungszeiten waren die Regel; das Frühgeborene galt als zu unreif, um selber atmen zu können; die nachteiligen Folgen für die Lunge (Bronchopulmonale Dysplasie, BPD) wurden durch langdauernde hochdosierte Corticoid-Behandlung bekämpft. Seither ist die Frühgeborenenmedizin immer »sanfter« geworden: Zunächst von Außenseitern gegen erhebliche Widerstände propagiert, dann auch von der Schulmedizin akzeptiert und wissenschaftlich untermauert, wurden die Beatmungszeiten immer weiter verkürzt; inzwischen hat die nasale CPAP-Atemhilfe (Continuous Positive Airway Pressure) die Intubation weitgehend abgelöst. Corticoide, die sich in der antenatalen »Lungenreifungsbehandlung« bewährt haben, sind in der Behandlung der BPD wegen nachteiliger Effekte auf die neurologische Entwicklung auf ein Minimum zurückgedrängt worden. Die zunächst in Lateinamerika – aus der Not heraus, nicht über geeignete Inkubatoren zu verfügen – erfundene »Känguruh-Methode« ist zu einem weltweit praktizierten Standardverfahren der Neonatologie geworden, das den Eltern den früher verwehrten Kontakt zu ihren unreifen Kindern ermöglicht. Im Rahmen der sogenannten entwicklungsfördernden Pflege versucht man dem Frühgeborenen heute eine Umwelt zu bieten, die den Verlust des intrauterinen Milieus so gut wie möglich kompensieren soll.

Ausblick

Das Problem der Umweltfaktoren ist, dass sie oft einem gewissen subjektiven Interpretationsspielraum unterliegen – was auch darauf zurückzuführen ist, dass sie wissenschaftlich über lange Zeit vernachlässigt wurden. Als Reaktion auf die lärmigen und gleißend hell erleuchteten Räumlichkeiten früherer Jahre sind die neonatologischen Intensivstationen der Gegenwart meist geräuscharm und abgedunkelt. Dabei gibt es inzwischen erste Hinweise darauf, dass eine allzu starke Reizdeprivation in isolierten Mutter-Kind-Einheiten möglicherweise ebenso nachteilig für die neurokognitive Entwicklung ist wie eine exzessive Reizüberflutung (Pineda et al. 2014). Die Entwicklung des Tagesrhythmus unter dem Einfluss exogener Faktoren wird überhaupt erst in jüngster Zeit genauer untersucht. Zu den vernachlässigten Umweltfaktoren gehört auch der Wärmehaushalt, dem in der Anfangszeit der Neonatologie ein hoher Stellenwert zukam – auch deshalb, weil die Vermeidung einer Hypothermie zu den wenigen Dingen gehörte, die man für VLBW tun konnte. Dann geriet das Thema angesichts der geschilderten medizinischen Entwicklungen und optimierter technischer Lösungen in den Hintergrund, so dass die etablierten Lehrbuch-Standards der Wärmetherapie bei Frühgeborenen seit etwa 40 Jahren nicht mehr aktualisiert wurden. Allein die simple Frage, ob es richtig ist, die Körpertemperatur von VLBW bei 37 °C zu halten, obwohl der Fetus in utero eine Temperatur von knapp 38 °C hat, ist wissenschaftlich ungeklärt. Diese und andere ungelöste Fragen werden im Rahmen der weiteren Entwicklung zur Nicht-Invasivität in der Frühgeborenenmedizin zu beantworten sein (»Inkubator 4.0«, siehe Kasten).

4 Die Vermeidung perinataler Schäden

Bestandsaufnahme

Allen Anstrengungen zum Trotz werden die Fortschritte der Neonatologie mit einer Quote an Folgeschäden »bezahlt«, die sich offenbar auch durch eine immer »sanftere« Frühgeborenenmedizin nicht grundsätzlich vermeiden lassen. So ist erst kürzlich gezeigt worden, dass die pulmonalen Auffälligkeiten ehemaliger Frühgeborener im Schulalter ungeachtet der zunehmend nicht-invasiven Beatmungsstrategien praktisch unverändert geblieben sind (Doyle et al. 2017). Schon zuvor hatte man bemerkt, dass die Vermeidung invasiver Beatmung nicht zu demjenigen Rückgang der chronischen Lungenerkrankung bei Frühgeborenen geführt hatte, den man sich erhofft hatte, sondern die Beatmungs-assoziierte »Old BPD« von einer Beatmungs-unabhängigen »New BPD« abgelöst wurde (Jobe 2011). Anscheinend führt der Umstand, dass die normale fetale Entwicklung abgebrochen und der Organismus Umweltbedingungen ausgesetzt wird, die – wie sanft die Pflege auch sein mag – nicht den intrauterinen Verhältnissen entsprechen, per se zu Abweichungen von den normalen Reifungsprozessen. Neben der BPD zählen auch Blutungen und Substanzdefekte im Gehirn zu den ungelösten Problemen der Neonatologie, wobei in beiden Fällen nicht nur die Unreife an sich, sondern auch die frühgeburtsauslösende Infektion eine wichtige pathogenetische Rolle spielt. Ähnlich ernüchternd ist die Bilanz übrigens für die hypoxisch-ischämische Enzephalopathie (HIE) bei reifen Neugeborenen, die durch die seit einigen Jahren eingeführte Kühltherapie zwar graduell abgemildert, aber nicht durchgreifend vermindert werden konnte (Shankaran 2017).

Ausblick

Anknüpfend an diese Überlegungen hat sich das Interesse in jüngster Zeit denjenigen Faktoren zugewandt, die mit der Frühgeburt unwiderruflich verlorengehen beziehungsweise unvermeidbar einsetzen. Zu den letzteren zählt ein deutlich erhöhtes postnatales O2-Angebot. Im Mutterleib ist der Fetus einem niedrigen O2-Level ausgesetzt, das offenbar dazu dient, ihn vor O2-Toxizität zu schützen, und zugleich einen ständigen Wachstumsreiz auf die Versorgungssysteme des Organismus (Bronchialbaum, Blutgefäße) ausübt. Viele der Komplikationen der Frühgeburtlichkeit wie die BPD oder auch die ROP (Retinopathy of Prematurity, Netzhautschäden) lassen sich als kombinierte Folgen von vorübergehendem Wachstumsstillstand und O2-Toxizität deuten. Allerdings haben große Studien, in denen Frühgeborene einem verminderten O2-Angebot ausgesetzt wurden, das scheinbar paradoxe Ergebnis einer höheren Komplikationsrate erbracht (Stenson 2016). Eine Erklärung hierfür könnte sein, dass der Energiebedarf der Frühgeborenen in den ersten Wochen nach der Geburt deutlich ansteigt, so dass nicht ein konstant niedriges oder konstant hohes, sondern vielmehr ein variables, an den steigenden Bedarf angepasstes O2-Angebot sinnvoll wäre (Singer & Mühlfeld 2007). Andere Ansätze bemühen sich, die überschießende Gefäßproliferation, die nach einem vorübergehenden Wachstumsstillstand etwa am Augenhintergrund einsetzt, durch »antiproliferative« Substanzen einzudämmen, oder aber den ausbleibenden Proliferationsreiz, der durch den Verlust plazentarer Wachstumsfaktoren in der Lunge auftritt, durch Substitution von Wachstumsfaktoren zu kompensieren. Auch an diesen im Grunde gegensätzlichen Therapieansätzen wird deutlich, dass die Frühgeburt eine tiefgreifende Störung der physiologischen Reifungsprozesse des Organismus darstellt, die sich nur schwer ausgleichen lässt. Viele Hoffnungen richten sich daher auf die Therapie mit Stammzellen, denen aufgrund tierexperimenteller Daten zugetraut wird, nicht nur unreifebedingte Entwicklungsstörungen in der Lunge des Frühgeborenen (Möbius & Thébaud 2016), sondern auch hypoxiebedingte Schäden im Gehirn von reifen Neugeborenen (Fleiss et al. 2014) zu »reparieren«.

5 Die Langzeitprognose von Frühgeborenen

Bestandsaufnahme

Langzeitstudien haben gezeigt, dass sich die Folgen der Frühgeburtlichkeit nicht in den »klassischen« Behinderungen (Erblindung, Hydrozephalus, Zerebralparese) erschöpfen, sondern dass auch bei den »gesund Überlebenden« vielfältige Probleme auftreten können, die sich oft erst dann manifestieren, wenn in neuen Lebensabschnitten neue Anforderungen auf die Betroffenen zukommen. So werden Aufmerksamkeitsdefizitsyndrome und Teilleistungsstörungen erst im (Vor-)Schulalter und psychosoziale Integrationsprobleme erst im Adoleszentenalter relevant. Im jungen Erwachsenenalter wird oft ein Zustand subjektiver Zufriedenheit erreicht, der allerdings nicht darüber hinwegtäuschen darf, dass Leistungsdefizite kompensiert oder umgangen werden. Da es mit zunehmendem Lebensalter physiologischerweise zu einer Minderung der Leistungsreserven beispielsweise der Lunge kommt, besteht die Befürchtung, dass ehemalige Frühgeborenen aufgrund ihrer bereits vorbelasteten Lunge entsprechend früher eine Ateminsuffizienz erleiden (Baraldi & Filippone 2007). Diese »Voralterung« wäre dann gleichsam ein später Preis für die Frühgeburtlichkeit. Für Frühgeborene, die wegen einer intrauterinen Wachstumsrestriktion geboren wurden, ist außerdem bekannt, dass sie infolge der intrauterinen Stoffwechsel­anpassung (der Fetus wird im Mutterleib »auf Sparflamme programmiert«), im Erwachsenenalter zu einem metabolischen Syndrom (Adipositas, Diabetes mellitus, Atherosklerose) neigen, welches zu den vielfältigen Langzeitfolgen der Frühgeburtlichkeit zählt (siehe Tabelle). Diese erweist sich somit als eine Hypothek, die die Betroffenen nicht nur unmittelbar postnatal und in der frühen Kindheit betrifft, sondern sie – in Abhängigkeit vom persönlichen »Lifestyle« – lebenslang begleitet (Singer 2012).

Ausblick

Im Kontrast zu diesen Erkenntnissen wird die Frühgeborenen-Nachsorge, die für deutsche Perinatalzentren verpflichtend vorgesehen ist, nur bis zum zweiten Lebensjahr finanziert und beschränkt sich damit hauptsächlich auf die Erfassung der »klassischen« körperlichen und geistigen Behinderungen. Ein darüber hinaus gehendes Engagement kann, obwohl von den betroffenen Eltern dringend nachgefragt, allenfalls aus Spendenmitteln finanziert werden. Als Vorbild für eine denkbare weitere Entwicklung lohnt sich daher ein Blick auf die Kinderherzchirurgie – ebenfalls eine junge Disziplin, die sich, nachdem in den 1960er Jahren die ersten angeborenen Herzfehler korrigiert worden waren, zunächst ganz auf die Entwicklung neuer Operationstechniken konzentriert hatte. Derweil erreichten die ersten PatientInnen das Erwachsenenalter und zeigten Folgeprobleme, die den konsultierten Kardiologen bislang nie begegnet waren. Dies war der Anstoß zur Gründung einer neuen interdisziplinären Subdisziplin der Kinder- und Erwachsenenkardiologie, die sich inzwischen unter dem deutschen Akronym EMAH (Erwachsene mit angeborenen Herzfehlern) zu einem festen Bestandteil von Herzzentren entwickelt hat. In Analogie zu dieser Entwicklung wäre es auch jetzt, etwa 30 Jahre nach dem Durchbruch der Neonatologie zu den VLBW, an der Zeit, ein strukturiertes Beratungsangebot für »Erwachsene mit ehemaliger Frühgeburtlichkeit« zu schaffen, für die im angelsächsischen Raum immerhin schon das Akronym ABP (Adults Born Preterm) geschaffen wurde. In der Koordination eines sich aus den perinatalen Risikofaktoren ergebenden individuellen Vorsorge- und Behandlungsplans für ABP könnte eine neue herausfordernde Zukunftsaufgabe für die Neonatologie bestehen.

Inkubator 4.0
Dank des technischen Fortschritts gewährleisten moderne Inkubatoren (»Brutkästen«) eine erfolgreiche Wärmetherapie auch bei extrem kleinen Frühgeborenen. Allerdings müssen die jüngsten PatientInnen zur Überwachung der Vitalparameter (Körpertemperatur, O2-Sättigung, Herz- und Atemfrequenz) immer noch »verkabelt« werden. Künftige Gerätegenerationen werden vermutlich durch Videokameras und Infrarotsensoren im Inkubatordeckel eine weitgehend kontaktlose Vitaldatenerfassung ermöglichen.

Neuere eigene Untersuchungen zielen außerdem darauf ab, mittels miniaturisierter Wärmefluss-Sensoren (siehe Bild) oder rechnerisch (das heißt aus den gewählten Inkubator-Einstellungen) die Stoffwechselrate der Frühgeborenen und ihren allmählichen Anstieg in den ersten Lebenswochen zu ermitteln.

Damit wird sich der Inkubator der Zukunft (»Inkubator 4.0«) zu einem interaktiven Therapie- und Monitoring-System entwickeln, das dem Anwender nicht nur die Einstellung definierter Umgebungsbedingungen erlaubt, sondern auch Informationen über den aktuellen Zustand des Frühgeborenen liefert.

Zitiervorlage
Singer D: Die »Big Five« der Neonatologie. DEUTSCHE HEBAMMEN ZEITSCHRIFT 2017. 69 (12): 8–14
Literatur
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