Kann Stillen Karies verursachen? Ein Update anhand zweier aktueller systematischer Übersichtsarbeiten
Langzeitstillen und gesunde Zähne des Kindes müssen kein Widerspruch sein. Eine gründliche Zahnpflege ab dem ersten Zahn ist entscheidend. Foto: © imago/Peter Widmann
Kann Stillen Karies verursachen? Ein Update anhand zweier aktueller systematischer Übersichtsarbeiten
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfiehlt, dass Säuglinge bis zum sechsten Monat ausschließlich gestillt werden. Danach sollen sie neben adäquater Beikost bis zum zweiten Geburtstag und darüber hinaus weiter Muttermilch bekommen (WHO 2015). Gleichzeitig empfehlen viele ZahnärztInnen, zur Vorbeugung von Karies nach dem Durchbruch der Zähne auf das häufige und vor allem das nächtliche Stillen zu verzichten. Mütter, die ihre Kinder erfolgreich und gerne bis ins Kleinkind- oder Kindergartenalter stillen, sind daher oft verunsichert, ob sie weiter stillen dürfen. Doch welche Evidenz liefert die Wissenschaft zum Zusammenhang zwischen Kariesrisiko und Stillen?
Die jüngste systematische Übersichtsarbeit zum Einfluss des Stillens auf die frühkindliche Kariesentstehung wurde 2000 veröffentlicht (Valaitis et al. 2000). Diese Arbeit berücksichtigte 28 einschlägige Primärstudien. Die Autorinnen stellten fest, dass die Ergebnisse der Primärstudien widersprüchlich und von schwacher Qualität seien. Sie kamen zu dem Schluss, dass es für einen starken Zusammenhang zwischen Stillen und frühkindlicher Karies keine zuverlässigen Belege gebe. In der systematischen Übersichtsarbeit von Kramer und Kakuma zur optimalen Dauer des ausschließlichen Stillens wurden andererseits auch keine widerspruchsfreien Belege dafür gefunden, dass Stillen einen protektiven Effekt vor Karies hätte (Kramer & Kakuma 2012). Seit dem Erscheinen dieser Übersichtsarbeiten wurden zur Fragestellung Dutzende weiterer Studien durchgeführt. Ende 2015 wurden praktisch zeitgleich zwei systematische Übersichtsarbeiten mit Metaanalysen veröffentlicht, die die Ergebnisse aller bis dahin erschienenen Primärstudien zusammenfassen sollten (Avila et al. 2015; Tham et al. 2015).
Der Artikel von Tham und KollegInnen erschien in der Beilage des Journals Acta Paediatrica zum Einfluss des Stillens auf die Gesundheit von Mutter und Kind, koordiniert von der WHO. Die AutorInnen dieser Studie sind EpidemiologInnen an verschiedenen australischen Forschungsinstituten. Die andere systematische Übersichtsarbeit von Avila und KollegInnen wurde von einer brasilianischen Forschergruppe für pädiatrische Zahnheilkunde im Journal PLOS ONE veröffentlicht. Beide Artikel sind „Open Access” und somit im Internet frei zugänglich (siehe Literatur).
Avila und KollegInnen stellten eine eng fokussierte Forschungsfrage: Stillen versus Flaschenfütterung. Dagegen formulierten Tham und KollegInnen ihre Frage ganz allgemein: Assoziation zwischen Stillen und Karies. Diese Fragestellung beinhaltet also die Unterfrage Stillen versus Flaschenfütterung, kann aber auch weitere Forschungsarbeiten berücksichtigen, die nicht die Flaschenfütterung als Vergleich haben. Tham und KollegInnen untersuchten auch den Effekt des Stillens in speziellen Zeitfenstern und bei bestimmten Stillpraktiken.
Avila und KollegInnen suchten nach geeigneten Primärstudien in sieben Literaturdatenbanken und auch in sogenannter grauer Literatur – in Veröffentlichungen außerhalb von wissenschaftlichen (Peer-Reviewed) Fachjournals, beispielsweise in Master- und Doktorarbeiten, Kongressabstracts und -postern. Tham und KollegInnen suchten lediglich in den drei größten Literaturdatenbanken und ließen die graue Literatur unberücksichtigt. Beide Übersichtsarbeiten berücksichtigten nur englischsprachige Literatur, was ihre Aussagekraft ein Stück weit einschränkt. Avila und Kollegen schlossen in die Analyse lediglich sieben Primärstudien ein, während Tham und Kollegen insgesamt 63 Artikel berücksichtigten. Interessanterweise berücksichtigten Tham und Kollegen auch bei der Unterfrage Stillen versus Flaschenfütterung mehr Artikel als Avila et al., nämlich 12. Die beiden Autorengruppen bezogen allerdings unterschiedliche Studien in ihre Analysen ein, nur ein Artikel wurde bei beiden genannt.
Laut Tham und Kollegen fanden sechs Studien keinen Unterschied in Bezug auf die Kariesprävalenz bei flaschenernährten gegenüber gestillten Kindern, vier Studien zeigten eine niedrigere Kariesprävalenz bei gestillten Kindern. Es gab aber auch zwei Studien, die bei gestillten Kindern ein höheres Risiko für Karies feststellten als bei flaschenernährten. Tham et al. zählten in ihrer Übersichtsarbeit die Ergebnisse dieser Studien lediglich auf und verzichteten auf eine Schlussfolgerung.
Avila et al. beklagten, dass die Studien zu heterogen und zu schlecht kontrolliert seien, um eine zuverlässige zusammenfassende Schlussfolgerung ableiten zu können. Vor allem bemängelten sie, dass essenzielle Kontrollen fehlten. Entscheidende Faktoren, die die Kariesentstehung beeinflussen und in den Primärstudien nicht kontrolliert wurden, umfassten die Gesellschaftsschicht, die Mundhygiene, den Zuckergehalt der Flaschennahrung, die ethnische Zugehörigkeit, präventive Zahnarztbesuche, die Fluoridierung des Trinkwassers sowie das nächtliche Stillen. Wenn diese Störfaktoren nicht kontrolliert würden, verzerrten sie die Ergebnisse in die eine oder andere Richtung – je nachdem, in welcher Vergleichsgruppe sie häufiger vorkommen. Auch die fehlende Verblindung der Ernährungsweise bei der Diagnose von Karies schwächt laut Avila et al. die Aussagekraft der Primärstudien. Unter diesen Einschränkungen fassten Avila et al. jedoch zusammen, dass die eingeschlossenen Studien für einen protektiven Effekt des Stillens im Vergleich zur Flaschenfütterung sprächen.
Sehr viel eindeutiger waren die Ergebnisse, wenn die Assoziation zwischen Stillen und Karies in der Übersichtsarbeit von Tham et al. in definierten Zeitfenstern und bei speziellen Stillverhalten untersucht wurde. Aufgrund der reduzierten Heterogenität konnte auch eine quantitative Analyse durchgeführt werden. Fünf Studien untersuchten den Zusammenhang zwischen Stillen und Karies in den ersten zwölf Monaten. Kinder, die im ersten Lebensjahr mehr gestillt wurden, hatten deutlich weniger Karies als die Vergleichsgruppe. Diese ausgeprägte schützende Wirkung des Stillens trat allerdings nur in den zwei Studien auf, bei denen die Vergleichsgruppe niemals gestillt wurde. In den drei Studien, die längeres mit kürzerem Stillen verglichen, war keine ausgeprägte protektive Wirkung mehr messbar (siehe Tabelle 1).
Besonders ungünstig waren die Ergebnisse, wenn die Assoziation zwischen Stillen und Karies nach dem ersten Geburtstag untersucht wurde. Sieben Studien verglichen Stillen ab dem zwölften Monat mit weniger oder gar keinem Stillen. Karies trat bei Kindern, die nach dem zwölften Monat weiter gestillt wurden, deutlich häufiger auf als bei Kindern, die nicht (mehr) gestillt wurden. Fünf Studien untersuchten den Zusammenhang bei mehr versus weniger nächtlichem Stillen. Das gepoolte Odds Ratio betrug 7,14, das heißt das relative Risiko für Karies vervielfachte sich für die Kinder, die nachts (mehr) gestillt wurden. Sechs weitere Primärstudien, die in der quantitativen Analyse aufgrund ihres Studiendesigns nicht berücksichtigt werden konnten, untersuchten im Kleinkindalter das nächtliche Stillen, das Stillen nach Bedarf sowie das Einschlafen mit der Brustwarze im Mund. All diese Stillpraktiken waren mit einer erhöhten Kariesprävalenz assoziiert.
Die Wissenschaft liefert immer noch keine sicheren Antworten zum Zusammenhang zwischen Stillen und Karies. Die Forschung dazu wird mit besser kontrollierten Studien laufend fortgesetzt. Anhand der aktuellen Evidenzlage hat Stillen im Vergleich zur Flaschenfütterung möglicherweise einen protektiven Effekt. Hierzu passt die Tatsache, dass Formulamilch anhand von Tierexperimenten kariogener eingestuft wird als Muttermilch. Außerdem wird angenommen, dass Muttermilch sowie der Hautkontakt beim Stillen die Entwicklung einer gesunden Mundflora fördert. Auch die Biomechanik ist beim Stillen günstiger als bei Flaschenernährung, da gestillte Säuglinge die Muttermilch größtenteils schlucken, ohne dass die Zähne dabei umspült werden (Paglia et al. 2015).
Nach dem Durchbruch der Milchzähne scheint das weitere Stillen das Kariesrisiko zu erhöhen. Und zwar je mehr Zähne bereits da sind, umso höher ist das Kariesrisiko (Tham et al., 2015). Langzeitstillen, häufiges Stillen und insbesondere das nächtliche Stillen im Kleinkindalter scheint das Kariesrisiko weiter zu steigern (Tham et al. 2015). Indessen ist es noch nicht absolut sicher, ob dieses erhöhte Kariesrisiko tatsächlich auf das Stillen zurückzuführen ist. Denn wichtige Einflussfaktoren wie Zuckerkonsum und Mundhygiene wurden in den Studien nicht ausreichend kontrolliert.
Wenn man diese Ergebnisse isoliert betrachtet, müsste man den Familien raten, spätestens ab dem ersten Geburtstag das Stillen einzuschränken und auf häufiges und insbesondere nächtliches Stillen nach dem Zähneputzen zu verzichten. Das Stillen einzuschränken, mag sinnvoll sein in Familien mit Risikofaktoren für Karies, beispielsweise ungünstige Essgewohnheiten oder schlechte Zahnhygiene.
Doch das Saugbedürfnis der Kinder bleibt bis ins Kleinkind- beziehungsweise Kindergartenalter erhalten. Bei den meisten Kindern ist dieses Bedürfnis beim Einschlafen besonders ausgeprägt. Ist es besser, (teilweise) abzustillen und dieses Saugbedürfnis am Daumen, am Schnuller oder einer Saugflasche zu befriedigen? Die Saugflasche scheidet aufgrund des höchstwahrscheinlich höheren Kariesrisikos aus; Daumen und Schnuller sind ungünstig für die Kieferentwicklung. Längeres Stillen wirkt nachweislich vorbeugend gegen Zahnfehlstellungen (Peres et al. 2015). Stillen über den ersten Geburtstag hinaus hat außerdem gesundheitliche Vorteile. Studien aus Entwicklungsländern zeigen eine Verdopplung des Mortalitätsrisikos im zweiten Lebensjahr, wenn Kinder nicht mehr gestillt werden (Sankar et al. 2015). Ganz wichtig sind natürlich die besonders innigen Momente zwischen Mutter und Kind, die das Stillen auch im Kleinkindalter ermöglicht.
Es gibt eine Reihe weiterer Faktoren, die mit der Entstehung von Karies zusammenhängen und auf die man Einfluss nehmen kann, ohne das Stillen einschränken zu müssen: Wenn die Angehörigen und insbesondere die Mutter eine einwandfreie Mundhygiene betreiben und Speichelkontakt vermeiden, wird eine Besiedlung der kindlichen Mundhöhle mit kariogenen Bakterien verhindert (Behrend et al. 2002). Eine gesunde, zuckerarme Ernährung der Familie und insbesondere des Säuglings sowie eine gründliche Zahnpflege ab dem ersten Zahn helfen, das Langzeitstillen nach Bedarf (auch nachts) mit gesunden Milchzähnen in Einklang zu bringen. Selbst, wenn bei einem Kind bereits Karies aufgetreten ist, muss es nicht zwingend abgestillt werden. Die Eltern sollten andere Risikofaktoren ausschalten, (indem sie die betroffenen Zähne des Kindes möglichst zügig sanieren lassen, die Zahnhygiene und die Essgewohnheiten verbessern. Dann ist kariesfreies Weiterstillen oft möglich.
Hinweis: Der Artikel wurde zuerst in der Zeitschrift Laktation & Stillen in Ausgabe 2/2016 unter dem Titel „Stillen und Kariesrisiko. Ein Update anhand zwei aktueller systematischer Übersichtsarbeiten” veröffentlicht. Für die DHZ wurde er in Zusammenarbeit mit der Autorin redaktionell überarbeitet. Wir danken ihr und der Zeitschrift für die freundliche Abdruckgenehmigung.
Avila WM, Pordeus IA, Paiva SM, Martins CC: Breast and Bottle Feeding as Risk Factors for Dental Caries: A Systematic Review and Meta-Analysis. PLoS One 2015. Nov 18; 10(11):e0142922. Doi: 10.1371/journal.pone.0142922. eCollection 2015. Offener Online-Zugang: http://journals.plos.org/plosone/article?id=10.1371/journal.pone.0142922
Behrendt A, Sziegoleit F, Wetzel W-E: Karies bei Kleinkindern durch Primärinfektion mit Streptococcus mutans. Monatsschr Kinderheilkd 2002. 150; 603–607
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Peres KG, Cascaes AM, Nascimento GG, Victora CG: Effect of breastfeeding on malocclusions: a systematic review and meta-analysis. Acta Paediatr Suppl 2015. 104(467): 54–6
Sankar MJ, Sinha B, Chowdhury R, Bhandari N, Taneja S, Martines J, Bahl R: Optimal breastfeeding practices and infant and child mortality: a systematic review and meta-analysis. Acta Paediatr Suppl 2015. Dec; 104(467): 3–13
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