Ein Schneeballeffekt
Als kanadische Hebamme mit deutschem Hintergrund konnte ich einen wesentlichen Anteil der Integrierung unseres Berufes in British Columbia miterleben und unterstützen. Mit meiner Familie, unseren zwei Söhnen und meinem Mann bin ich 2007 nach 25-jähriger Hebammentätigkeit in Deutschland nach Kanada ausgewandert. Ich lebe und arbeite in British Columbia auf Vancouver Island. Damals, knapp zehn Jahre nach der Legalisierung des Hebammenberufes, war es schockierend zu erleben, wie wenig die Bevölkerung über Hebammen wusste.
Während Frauen sich vereinzelt im Internet oder durch Mundpropaganda informierten und sich für die individuelle Betreuung durch eine Hebamme entschieden, war das Misstrauen bei ihren Männern und Familienmitgliedern niederschmetternd – vor allem aber seitens der Krankenhausangestellten wie ÄrztInnen und Krankenschwestern. Für mich als deutschstämmige Hebamme war es extrem schwierig, den für das deutsche Gesundheitssystem normalen Standard erklären zu müssen, wonach Hebammen qualifizierte Mitglieder des Gesundheitswesens sind.
Während der letzten zehn Jahre habe ich jedoch einen echten Schneeballeffekt erfahren. War es vor sieben bis zehn Jahren noch ein kleines Kügelchen – 2007 wurden 10 Prozent der Geburten auf Vancouver Island von Hebammen betreut – so ist es jetzt eine riesige Kugel, die mit 35 Prozent Hebammenbetreuung dort schwer am Rollen ist.
Geburt mit Krankenschwestern
Vor 1998 sah die Gebärkultur hier in BC etwa so aus: Jede Frau wurde von einem Hausarzt mit geburtshilflicher Zusatzausbildung während der Schwangerschaft, bei der Geburt und im Wochenbett betreut. Die ÄrztInnen mit ihren Belegverträgen haben die Frauen im Krankenhaus begleitet. Im Kreißsaal wurden die Frauen von Krankenschwestern mit geburtshilflicher Zusatzausbildung betreut, der Arzt kam zur Geburt. Dies hat sich bis heute nicht geändert. Die Hebammenklientinnen werden heute von den freiberuflichen Hebammen im Kreißsaal betreut. Zur Geburt kommt eine Schwester hinzu – kein Arzt, wie in Deutschland. Die Hebammen nähen selbst, wenn es erforderlich ist.
Vor 1998 wurden vereinzelt Frauen, die eine Hausgeburt anstrebten, von Hebammen betreut. Das war nicht illegal, solange keine Medikamente verabreicht wurden und alles gut ging. Diese Hebammen hatten keine Haftpflichtversicherung. Die Geburten zählten dann als „unattended home birth”. Da es in Kanada keine Hebammenausbildung gab, hatten diese Hebammen ihre Ausbildung in anderen Ländern absolviert, vornehmlich in Europa. Sie sind es, die in jahrelangen Verhandlungen mit den Ministerien für die Verankerung des Hebammenberufes gekämpft haben.
Ab der sechsten Woche
Hebammen in Kanada arbeiten heute in einem festgelegten Modell, dessen Richtlinien vom College of Midwives of BC (CMBC) festgelegt wurden. Das College könnte man in seiner Funktion mit einer Ärztekammer in Deutschland vergleichen. Eine Zulassung durch das CMBC ist die Voraussetzung für das Praktizieren. Das gilt für Hebammen ebenso wie für die ÄrztInnen mit deren College of Physicians. Beide Berufsgruppen sind gleichgestellte „Primary Care Provider”. In dieser Rolle übernehmen Hebammen die komplette Schwangerenvorsorge, inklusive der Verordnung von Ultraschall und Laboruntersuchungen. Sie können auch Medikamente verschreiben, die sich ausschließlich auf die Schwangerschaft beziehen, wie zum Beispiel Antibiotika bei Blasenentzündungen, Immunglobulin für Rhesus-negative Frauen, Medikamente gegen Schwangerschaftsübelkeit und vieles mehr. Auch Krankschreibungen werden von Hebammen verordnet. Sie betreuen die Frauen durch die Schwangerschaft – meistens von der sechsten Woche an, bei der Geburt und bis zu sechs Wochen danach.
Treten während der Schwangerschaft Probleme auf, die die Hinzuziehung eines Arztes erfordern, überweisen die Hebammen die Frau zu einer GynäkologIn oder EndokrinologIn oder wohin es auch immer erforderlich ist. Das CMBC hat dafür einen langen Katalog von Indikationen zur Überweisung oder gegebenenfalls zum Transfer der Betreuung entwickelt. Diese Indikationen entsprechen den Prinzipien von verantwortlicher Hebammenbetreuung. Der Unterschied ist jedoch, dass diese in Kanada als Richtlinie verankert und damit gesetzlich bindend sind.
Für eine Zulassung durch das CMBC zum Praktizieren müssen mehrere Voraussetzungen erfüllt werden:
- Ein Belegvertrag mit einem Krankenhaus: Ohne diesen darf die Hebamme nicht praktizieren, da sie sonst die Frau unter Umständen nicht kontinuierlich betreuen kann, wenn diese ins Krankenhaus will oder muss.
- Regelmäßige Fortbildung in Neugeborenenreanimation: Dieser Kurs muss einmal im Jahr absolviert und beim CMBC nachgewiesen werden.
- Regelmäßige Fortbildungen in Erster Hilfe und Notfällen in der Geburtshilfe: Beide Kurse müssen alle zwei Jahre absolviert und beim CMBC nachgewiesen werden.
- Der Nachweis von mindestens 60 Geburten in fünf Jahren.
- Eine Gebühr von 1.650 Euro jährlich, die an das CMBC gezahlt werden muss.
- Eine Berufshaftpflichtversicherung für 1.400 Euro pro Jahr: Diese Summe wurde gleich zu Anfang als Gruppentarif ausgehandelt und beibehalten.
Die Gebühr für die Mitgliedschaft im Hebammenverband MABC liegt bei zwei Prozent aller Einnahmen und wird direkt über die Zahlungsstelle des Gesundheitsministeriums einbehalten. In British Columbia rechnen die Hebammen direkt mit dem Gesundheitsministerium ab, über das alle EinwohnerInnen krankenpflichtversichert sind. In anderen Provinzen gibt es verschiedene, allerdings immer zentral organisierte Abrechnungsmodalitäten. Eine Privatversicherung wie in Deutschland gibt es nicht. Die Berechnung und Bezahlung erfolgt trimesterweise sowohl für die Geburt mit dem gleichen Betrag für Haus- oder Klinikgeburten, als auch für die sechswöchige Nachbetreuung, unabhängig davon, wie viele Besuche diese beinhaltet. Ein Wegegeld kann nicht abgerechnet werden.
Arbeitsmittel für die Hausgeburten inklusive Dopton, Sauerstoffgerät, Beatmungsmaske, Instrumente, Medikamente werden seit 2016 von den jeweiligen Gesundheitsbehörden bereitgestellt und finanziert. Von 1998 bis 2016 gingen diese Kosten zu Lasten der Hebammen. Diese Veränderung war der Erfolg von langen Verhandlungen des Verbandes mit dem Ministerium aufgrund der nachgewiesenen Ersparnisse durch Hausgeburten.
Die Statistik spricht für sich
Zur Dokumentation: Alle Primary Care Provider in British Columbia müssen einheitliche Formulare für Schwangerschaft und Geburt, einschließlich Hausgeburten, ausfüllen, die im Perinatal Service BC (PSBC) zentral erfasst werden. Dieses präsentiert jährlich eine sehr aufschlussreiche Statistik, die die niedrige Interventionsrate sowie kurzen Klinikaufenthalte und Stillerfolge der von Hebammen betreuten Frauen belegt.
Diese Zahlen waren extrem hilfreich bei den Verhandlungsrunden. Sie haben den Ausschlag gegeben bei der Anerkennung der Hebammenarbeit und auch der Qualität von Hausgeburten. So hat die Gesundheitsministerin 2013 ein öffentliches Statement abgegeben, in dem sie die Hausgeburt für Low-risk-Frauen unterstützt hat. Ebenso wurde von der Regierung British Columbias der 5. Mai, der Internationale Hebammentag, als Hebammentag British Columbias öffentlich deklariert.
Der MABC hat vor einigen Jahren eine intelligente Investition in eine PR-Firma getätigt, die die Öffentlichkeitsarbeit der Hebammen deutlich vorantreibt. Mittlerweile sind Hebammen in allen Medien sichtbar und hörbar vertreten.