Katja Baumgarten spricht mit Michael Abou-Dakn und Rainhild Schäfers über Entstehungsprozess, Hürden und Chancen der S3-Leitlinie »Vaginale Geburt am Termin«, die bereits Ende 2025 in eine neue Überarbeitungsrunde geht.

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Der Entstehungsprozess der S3-Leitlinie »Vaginale Geburt am Termin« erwies sich aus verschiedenen Gründen als langwierig und kompliziert. Die von den beiden Interviewten übernommene Verantwortung für die Koordination geschah unter immensem zeitlichem Aufwand im Ehrenamt. Die beiden sprechen über die Chancen der durch die Leitlinie angestoßenen Forschung, die der Überarbeitung der Leitlinie ab 2026 dienen oder die Empfehlungen untermauern könnte. Ein Blick auf Potenziale und Grenzen.

Katja Baumgarten: Sie beide haben die Erarbeitung der S3-Leitlinie »Vaginale Geburt am Termin« koordiniert und geleitet. Wie hat sich alles entwickelt?

Michael Abou-Dakn: Ursprünglich sollte es nur um die Sectio-Leitlinie gehen. Daraus hat sich die Leitline »Vaginale Geburt am Termin« entwickelt. Wir wurden da ein wenig reingeschubst, auch zu unserem späteren Frust, weil wir nicht geahnt hatten, wie viel zusätzliche Kraft diese Erarbeitung kosten würde. Dann kam die Pandemie, so dass diese Leitlinie von Anfang an ein richtiger Kraftakt war. Sie ist also letztlich unter sehr erschwerten Bedingungen entstanden, unabhängig von inhaltlichen Schwierigkeiten, die es auch gab. Zunächst waren die schwierigen Aufgaben innerhalb der Gruppe zu stemmen. Man durchläuft den Prozess der Erstellung der Leitlinie, der von der AWMF von Anfang an gesteuert und unterstützt worden ist. Wir sind dabei nie allein gelassen worden – viele Vorgaben, Reglementierungen, Einschränkungen und Regeln sind einzuhalten, um so eine S3-Leitlinie zu entwickeln.

Bei Leitlinien mit wenigen Studien von wissenschaftlich hoher Evidenz haben wir das Problem der Auseinandersetzung der Expert:innen. Denn dann kommt – so sollte es auch sein – als zweite interne Evidenz die Expert:innenmeinung dazu. So haben wir einzelne Punkte aus unseren beruflichen Perspektiven auch unterschiedlich bewertet. Am Ende muss man Bewertungen eventuell nachjustieren. Dieses Ungleichgewicht wird bleiben. Und auch die Berufspolitik war nicht immer wegzudenken. Wir beide mussten immer wieder beschwichtigen, um die Expert:innen überhaupt zusammen zu bringen. Aber das ist ja auch ein wichtiges Thema.

Rainhild Schäfers: Ja, es gab berufspolitische und auch ideelle Interessenskonflikte. Ein Beispiel war das Thema Betreuung. Wir hatten die Frage nach der Eins-zu-eins-Betreuung und zur Bedeutsamkeit der kontinuierlichen Betreuung extra noch mal als Evidenzbericht beim IQWIG, dem Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen, in Auftrag gegeben. Die vorhandenen Studien waren nicht nur auf Hebammen fokussiert, auch Doulas oder Familienangehörige waren darin eingeschlossen. Wir wollten aber die Bedeutung der Hebammen belegen.

Zum Glück gab es drei Studien, in denen es wirklich nur um Hebammen ging, so dass man die Empfehlungen zur Eins-zu-eins-Betreuung aussprechen konnte. Direkt kam der Einwand, dann bräuchten wir auch einen »Beweis«, dass es sinnvoll ist, wenn ein/e Ärzt:in bei der Geburt dabei ist oder ein:e Anästhesist:in in der Klinik vor Ort ist oder ein:e Pädiater:in. Folglich haben wir auch für diese Fragestellungen das IQWIG mit der Recherche beauftragt. Dazu gab es keine Studien, also konnten wir keine Empfehlung aussprechen. Aber es gibt in der Leitlinie einen Text, der besagt, es ist unzweifelhaft positiv, wenn man diese Berufsgruppen dicht dabei hat, wenn es irgendwie möglich ist. Aber wir konnten dazu nun mal keine Empfehlung aussprechen. An dem Punkt hat man gemerkt, da mischt sich schnell Berufspolitik ein.

Michael Abou-Dakn: Auch diese Aussage ist später angegriffen worden. Daraus wurde dann der Teilsatz zitiert, »… es gibt keine Evidenz dazu.«, und es wurde unterstellt, wir schreiben das in die Leitlinie, weil wir wollen, dass es für die Anwesenheit von Ärzt:innen keinen Grund gibt. Wir haben aber, im Gegenteil, trotz der IQWiG-Recherche auf die Bedeutung der ärztlichen Anwesenheit verweisen wollen, trotz fehlender Studien.

Die Anwesenheit von Ärzt:innen ist so selbstverständlich, dass ihr Sinn nie belegt werden musste.

Michael Abou-Dakn: Es gibt Angststudien über Frauen, die besagen, ältere Ärzt:innen, die bei der Geburt dabei sind, machen gebärenden Frauen weniger Angst als junge. Und eine erfahrene Hebamme macht weniger Angst als eine junge Hebamme. Wenn jemand graue Haare hat, erkennt die Frau daran Kompetenz. Solche Dinge wissen wir. Es hat aber noch keine Studie untersucht, ob es Nachteile hat, wenn keine Kinderärzt:innen vor Ort sind – bei einer normalen Geburt, obwohl es auch hier logisch erscheint, dass bei unerwarteten Ereignissen Fachkompetenz und Erfahrung gefragt ist.

Die Leitlinie sagt mehrfach, dass zu bestimmten Punkten noch Studien fehlen.

Rainhild Schäfers: Ein weiteres Beispiel war das Qualitätskapitel. Es enthält vier Empfehlungen, unter anderem die, wenn Hebammen einen edukativen Auftrag haben, beispielsweise als Praxisanleiterin, muss das im Stellenplan berücksichtigt werden, und auch, wenn sie eine leitende Funktion haben. Die Grundlage der einen Empfehlung war das Hebammen­gesetz und bei der anderen war es die Richtlinie Level 1/Level 2, wo klar festgelegt ist, dort muss eine leitende Hebamme eingesetzt sein. Diese Kollegin kann nicht ein Team von 30 Hebammen managen, ohne dass sie für diese Stunden freigestellt wird. Auch da kam direkt die Frage: Und was ist mit Ärzt:innen, die in der Ausbildung sind, und mit Oberärztin:nen? Daraufhin habe ich alle Berufsordnungen gesichtet, wie die Ausbildung oder die Assistenzzeit geregelt sind. Da gibt es keine Vorgaben. Michael Abou-Dakn hat damals gesagt, das ist ein Auftrag an Ärztinnen und Ärzte. So wie es beispielsweise zur Hebammenausbildung im Gesetz steht – 25 % der Ausbildung müssen in strukturierter Anleitung absolviert werden – so etwas muss auch für die Arztausbildung kommen. Bei solchen Beispielen taucht man in die Berufspolitik ein, weil das für Hebammen geregelt ist, für Ärzt:innen eben nicht.

Wie wird die notwendige Forschung koordiniert, für die in der Leitlinie Bedarf identifiziert worden ist?

Michael Abou-Dakn: Für alle Leitlinien gilt, dieser formulierte Forschungsbedarf soll eine Aufforderung sein. Zu Beginn der Arbeit an der Leitlinie war mein Gedanke beispielsweise, eine Gruppe zu bilden, die sich mit der Frage der außerklinischen Geburten beschäftigt. Mich interessiert das Thema. Als Chefarzt einer großen Level-1-Klinik bin ich gegen die außerklinische Geburtshilfe. Als Arzt sehe ich die Effekte in beide Richtungen. Ich kenne viele Frauen, die mit ihren Hausgeburten oder Geburten in hebammengeleiteten Einrichtungen sehr zufrieden sind. Aber ich kenne auch katastrophale Verläufe, mit denen Frauen zu uns verlegt wurden.

Rainhild Schäfers: Die Forschung wird koordiniert über das, was in der Leitlinie steht. So wie sie diskutiert wird, stolpert man immer über den Forschungsbedarf, beispielweise zur Frage: »Wie können wir Hausgeburten und Geburten in hebammengeleiteten Einrichtungen und Klinikgeburten miteinander vergleichen? Wie lässt sich das Outcome vergleichen, um eine Idee davon zu bekommen, was eine physiologische Geburt ist? Dazu entstehen aktuell zwei Doktorarbeiten: Einmal werden Daten aus der Klinik, aus der Hausgeburtshilfe und aus hebammengeleiteten Einrichtungen mit einem Propensity-Score miteinander verglichen, einem bestimmten statistischen Verfahren. In einer zweiten Doktorarbeit sollen Frauen befragt werden, anhand von »Patient Reported Outcome Measures«, PROMs, und »Patient Experience Outcome Measures«, PREMs. Wir haben in der Leitlinie sehr viel Forschungsbedarf identifiziert und definiert und viele wollen ihre Doktorarbeiten schreiben. Ärztliche Geburtshelfer:innen, die die Leitlinie so massiv kritisieren, sollten stattdessen lieber Arbeiten zu bestimmte Forschungsthemen in Auftrag geben.

Michael Abou-Dakn: Die Hebammen­wissenschaftler:innen interessieren sich und forschen zu den Themen. Mittlerweile haben wir bei den Hebammen die vollständige Akademisierung und im Hebammenstudium wird gerade diese Leitlinie besonders intensiv behandelt. Ich habe viele Bachelorarbeiten zu diesem Thema bekommen. Es ist aus hebammenwissenschaftlicher Sicht nicht mehr wegzudenken. Die Ärzt:innen, die die Leitlinie kritisiert haben, tun nichts in dieser Richtung. Dieser annoncierte Forschungsauftrag soll eigentlich Wissenschaftler:innen Input geben. Da wir mit der Leitlinie auch politisch einen starken Hintergrund haben, ist anzunehmen, dass Forschungsgelder dafür freigesetzt werden. Ärzt:innen denken aber oftmals an Forschung im Bereich der Pathologie oder dort, wo es auch industrielle Unterstützung gibt.

Rainhild Schäfers: … die zum Teil Auftragsforschung ist und wo ein Forschungsantrag oft nicht so herausfordernd ist wie in einem kompetitiven Verfahren.

Michael Abou-Dakn: Wir hoffen, dass die Forschungsfragen aus der Leitlinie jetzt aufgegriffen werden. Man könnte schauen, welche offenen Fragen entstehen, die neue Leitlinien notwendig machen. Auch da werden die Forschungsfragen häufig von berufspolitischen Fragestellungen geblockt, wo gesagt wird: »Nein, da gibt es keinen Forschungsbedarf mehr, dazu ist alles klar.«

Rainhild Schäfers: Das haben wir aktuell wieder bei der Leitlinie zur Schwangerenvorsorge erlebt.

Michael Abou-Dakn: Das ist ein ähnlich heißes Eisen wie der Geburtsort. Die Geburtsortdiskussion könnte man auch dahingehend beenden – aber das muss man auch belegen – indem man sagt: Wenn das Ziel einer solchen Leitlinie ist, dass man eine patientenorientierte Leitlinie herausbringt und wir für die Anwender:innen die Empfehlungen so übersetzen, dass sie diese verstehen, und wenn dabei beispielsweise objektiv über die verschiedenen Geburtsorte aufgeklärt wird, ohne die Frau primär zu beeinflussen, dann müsste jeder Berufsstand das gleiche Wording benutzen. Man kann natürlich in den meisten Fällen einer Frau in einer geringen Risikokonstellation sagen, sie kann ihr Kind irgendwo zur Welt bringen – nehmen wir als Beispiel die versehentliche Autogeburt, wo meist nicht einmal Geburtsverletzungen auftreten und Mutter und Kind fit sind. Es gibt solche Konstellationen, wo alles in Ordnung war. Wir wissen auch aus großen Studien, dass eine Zweitpara mit einer unauffälligen ersten Geburt ein sehr geringes Risiko hat. Aber – und damit argumentieren wir Ärzt:innen – jede:r kennt auch den unwahrscheinlichen Fall eines schweren Notfalls, wo man froh ist, dass alles da ist. Wenn man als Arzt oder als Hebamme Verantwortung übernehmen soll, eine Frau zu beraten und die Frau fragt, gehe ich dabei ein Risiko ein oder nicht. Dann hast du juristisch eine Schwierigkeit, weil man diesen nicht stratifizierbaren Notfall nicht ausschließen kann.

» Viele Vorgaben, Reglementierungen, Einschränkungen und Regeln sind einzuhalten, um so eine Leitlinie zu entwickeln. «

 

Als Hebamme wie auch als Mutter habe ich mich immer gefragt, wie kommen Komplikationen zustande? Meine vier Kinder habe ich aus einem tiefen Sicherheitsbedürfnis zu Hause zur Welt gebracht – nicht, weil ich tollkühn veranlagt bin.

Michael Abou-Dakn: Da sind wir wieder an den empfindlichen Bereichen. Man kann natürlich sagen, es gibt den schweren Notfall, der passieren kann, dann hat man zu Hause Nachteile. Aber wenn man zu Hause unter solchen Bedingungen gebärt, hat man ein geringes Interventionsrisiko und dies kann zu weniger Komplikationen führen. Als Beispiel sei der frühe Einsatz von Oxytocin genannt, der dann nicht selten zu einer PPH führt.

Es gibt zu Hause andere Sicherheitsfaktoren. Diese Diskussion wird meist verkürzt geführt, als würde der Hausgeburt etwas fehlen, was im Krankenhaus vorhanden ist. Was im Krankenhaus fehlt, wird in der Diskussion immer weggelassen.

Michael Abou-Dakn: Das sind interessante Argumente. Wenn man Ärzt:innen verpflichten will, dass sie in der Beratungssituation neutral aufklären müssen, werden sie mit dem unvorher­gesehenen schweren Notfall als Argument kommen. Natürlich fällt es schwer Interventionen, die tradiert sind, zu hinterfragen. Wie wir an der Diskussion um das Aufnahme-CTG sehen.

Wie könnte die Forschung zur S3-Leitlinie noch besser gefördert werden?

Michael Abou-Dakn: Einerseits Interesse wecken, andererseits auch Geldgeber, also auch den Staat. Eine Steilvorlage für uns alle war das Nationale Gesundheitsziel »Gesundheit rund um die Geburt«, in dem sogar bestimmte Forschungsziele definiert werden. Sie sind in erster Linie an die Politik gerichtet, die dafür Geld bereitstellen sollte. Es wird Zeit, dass das wirkt und man im Gesundheitsministerium solche Themen erarbeitet haben möchte. Dort hat man verstanden, welche Qualität hinter der Leitlinie steht.

Wie viele geburtshilfliche Abteilungen setzen die Leitlinie schätzungsweise um?

Rainhild Schäfers: Wir werden das bald sehen: Auf Initiative von Hilke Schauland, der Vorsitzenden des Niedersächsischen Hebammenverbandes, gab es vom 2. Mai bis 15. Juli eine konzertierte Aktion der 16 Landeshebammen­verbände mit einer bundesweiten Befragung von Hebammen. Im August darf ich die Daten auswerten. Bald erhalten wir ein Bild, wie die Leitlinie umgesetzt wird (siehe auch DHZ 10/2024, Seite 44f.).

Michael Abou-Dakn: Man braucht jetzt die Zahlen, welche Kliniken sich mit ihr auseinandergesetzt haben. Selbst Gegner:innen tun das in ihrem Team. Bei der Fragestellung, ob Teilaspekte umgesetzt sind und wenn ja, welche, bin ich gespannt. Ich höre von vielen, dass bestimmte Aspekte übernommen wurden. Nur in Österreich wurde die Auseinandersetzung mehr oder weniger untersagt. Darüber beklagen sich die Hebammen in Österreich. Das ist eigentlich ein Unding: Die Österreichische Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe, die OEGGG, hat ja nicht die ganze Leitlinie abgelehnt, sondern nur bestimmte Teilkapitel.

Die geburtshilflichen Teams des Asklepios-Verbundes haben sich im vergangenen Jahr auf Initiative von Holger Maul, Chefarzt von drei Hamburger Asklepios-Geburtskliniken, und der leitenden Hebamme Katrin Magner systematisch mit der Leitlinie auseinandergesetzt und gemeinsam veröffentlicht, welche Anteile daraus sie im Klinikalltag übernehmen und welche nicht (siehe auch DHZ 10/2024, Seite 45ff.).

Michael Abou-Dakn: Eine solche Auseinandersetzung mit der Leitlinie ist das, was man erreichen will.

Rainhild Schäfers: So sollte mit Leitlinien überhaupt gearbeitet werden: Sie bilden einen Handlungskorridor, der in begründeten Fällen verlassen werden kann oder muss. Wenn man sich nicht damit auseinandersetzt, findet man nicht heraus, welche die begründeten Fälle sind.

Michael Abou-Dakn: Ich bin froh, dass wir seitens der Fachgesellschaften davon ausgehen dürfen, dass die Leitlinie im Dezember kommenden Jahres nicht ausläuft, sondern aktuell revidiert wird. Wir werden den Prozess beide nicht mehr verantwortlich koordinieren. Ich werde aber für die DGGG weiter im Team dabei sein.

Bei der Überarbeitung treten Sie in die zweite Reihe?

Rainhild Schäfers: Ich kann mir vorstellen, als Mandatsträgerin weiter mitzuwirken. Wenn ich parallel die Leitlinie Schwangerenvorsorge koordiniere, wird das ähnlich Nerven kosten wie die Erarbeitung dieser Leitlinie zur vaginalen Geburt. Die Entscheidung liegt letztlich bei der DGHWi.

Michael Abou-Dakn: Die Besetzung der Leitlinienkommission schlagen die Fachgesellschaften vor, man wird zum Mitglied der Kommission berufen. Es freue mich, weiter dabei zu sein, weil es ein bisschen das eigene »Baby« ist. Man denkt jetzt im Nachhinein darüber nach, was hätte man anders machen können? Viele Stimmen haben gefragt, warum macht ihr das für die gesamte, nicht nur für die klinische Geburtshilfe? Das wäre eine vertane Chance. Es ist gut, dass man die Leitlinie für die vaginale Geburt adressiert. Weil wir sehr viel an die NICE-Guidelines adaptiert haben und NICE weiterhin das Standardwerk bleibt, sollte man überlegen, ob man nicht künftig den Zusatz »für gesunde Mütter und gesunde Kinder« in den Titel mit hineinbringt, wie es bei NICE heißt.

Wie ist die Rückmeldung in der Geburtshaus- und Hausgeburtshilfe – wird die Leitlinie dort ebenso angenommen wie im Krankenhaus?

Rainhild Schäfers: Die Leitlinie ist dort ausgesprochen leidenschaftslos aufgenommen worden, es sind eher die Klinikhebammen, die sich freuen. Die freiberuflichen Hebammen hätten auch dagegen wettern können. Aber es gibt eine erstaunliche Akzeptanz. Sie sagen einfach, die Leitlinie ist da und wir nehmen sie jetzt als Maßstab mit dazu.

Was die außerklinische Geburtshilfe angeht, bin ich Mitglied in der QUAG-Fallkonferenz. Dort analysieren wir systematisch die Fälle von verstorbenen Kindern und von Kindern mit einem Apgar unter 6. Für so eine Arbeit ist die Leitlinie hilfreich und hat in der außerklinischen Geburtshilfe bei der Aufarbeitung der Fälle eine große Bedeutung. Es wäre interessant, ob es Qualitätszirkel in Kliniken gibt, die auch darauf achten: Wurde in einem bestimmten Fall die S3-Leitlinie befolgt oder verletzt?

Michael Abou-Dakn: Ich bin gespannt, wie die Zahlen zur Umsetzung sind. Teilaspekte werden beachtet. Ich bin sicher, dass gerade die Definition der Geburtszeiten mittlerweile in der Breite verstanden wird. Auch dass Ärzt:innen verstehen, dass es in der Austrittsphase ebenfalls eine Latenz gibt – oder dass es nun den Begriff »Austrittphase« gibt. Der Begriff ist neu, vorher war immer von Austreibung die Rede. Beim nächsten Mal muss man ein paar Punkte nachschärfen. Zum Abschluss herrschte viel Zeitdruck.

Welches sind die wichtigsten Themen?

Michael Abou-Dakn: Es fehlt aus meiner Sicht auch ein ähnlicher Algorithmus, den wir in der EP formuliert haben, was bei der protrahierten Austrittphase wann wie gemacht werden soll. Die CTG-Schreibung in der Austrittphase fehlt vollkommen. Wir müssten insgesamt nochmal genauer die CTG-Interpretation überprüfen, auch unter Berücksichtigung der physiologischen CTG-Schreibung – welche Zeiten nimmt man? Ein paar kleine Fehler sind drin, die man anpassen muss.

Rainhild Schäfers: Auch die Kongruenz muss überprüft werden, so dass nicht vorne bei den Empfehlungen zur Eröffnungsphase steht, 24 Stunden nach einem vorzeitigen Blasensprung sollte man erstmals über eine Wehen­einleitung nachdenken, und hinten bei den Empfehlungen zum Kind steht, dass ein Behandlungsbedarf entsteht, wenn der Blasensprung länger als 18 Stunden her ist.

Michael Abou-Dakn: Diese Leitlinie war der erste Aufschlag. Doch es muss auch abgeglichen werden: Gibt es aktuelle Leitlinien in Deutschland, die eventuell zu dieser im Widerspruch stehen?

Rainhild Schäfers: Was schwierig ist und das wird auch bei der Leitlinie zur Schwangerenvorsorge wieder auf uns zukommen: Wir entwickeln eine S3-Leitlinie, haben aber auf dem Markt auch S2k-, S2e- oder S1-Leitlinien. Mir fällt es schwer, in einer S3-Leitlinie auf eine S1-Leitlinie zu verweisen. Da hatten wir bei dieser S3-Leitlinie beim Thema Blasensprung zum Beispiel eine S2k-Leitlinie. Wie wir damit umgehen, darüber haben wir uns im Vorfeld nicht ausreichend Gedanken gemacht: Zitiert man sie oder zitiert man sie nicht? Das ist eher im Prozess entstanden, weil man ja auch nicht die Kolleg:innen brüskieren möchte, die mit viel Arbeit im Ehrenamt diese anderen Leitlinien entwickelt haben.

» Wir hoffen, dass die Forschungsfragen aus der Leitlinie jetzt aufgegriffen werden. «

 

Wann geht die Überarbeitung los?

Michael Abou-Dakn: Ende des Jahres.

Rainhild Schäfers: Die jetzige Version ist bis Dezember 2025 gültig. Die Revision wird von der DGHWi und der DGGG gerade vorbereitet. Beratend stehe ich natürlich zur Verfügung. Wir beide wissen aus der Erstellung der Leitlinie, wie einzelne Punkte entstanden sind. Viele Diskussionen müssten nicht wiederholt werden. Mandatsträgerschaft ja, aber ich sehe sehr viel Arbeit mit der neuen S3-Leitlinie »Schwangerenvorsorge« auf mich zukommen, die in 30 Monaten fertig sein soll – ein hehres Ziel, wenn man bedenkt, dass wir fünf Jahre für diese Leitlinie gebraucht haben.

Fünf Jahre Entwicklungszeit?

Rainhild Schäfers: Eineinhalb Jahre Entwicklungszeit, dann eine Unterbrechung von anderthalb Jahren. Wir hatten zusammen mit der Kaiserschnitt-Leitlinie angefangen. Bei beiden Leitlinien waren dieselben Expert:innen beteiligt. Am Anfang war das günstig, weil wir zweitägige Termine hatten – jeweils einen Tag zu jeder Leitlinie. Als die Kapitel geschrieben werden mussten, war das so nicht mehr möglich. Weil die Kaiserschnitt-Leitlinie vom Bundesministerium für Gesundheit finanziert wurde, hatte sie Vorrang und war anderthalb Jahre eher fertig. Dadurch wurden wir bei der Leitlinie zur vaginalen Geburt ausgebremst.

Sie haben im großen Team beide Leitlinien zusammen erarbeitet?

Michael Abou-Dakn: Ja, so war es ursprünglich. Wir hatten dann einerseits eine Verzögerung durch Covid. Dann kam dazu, dass unsere Leitlinie vom Ministerium nicht direkt wie die Sectio-Leitlinie finanziert wurde, sondern indirekt über IQWiG-Mittel.

Rainhild Schäfers: Ein Beispiel für die Verzögerung dadurch war der Evidenzbericht zur Austrittsphase. Er war zuerst fertig, aber dann musste es noch einen Nachtrag geben, weil inzwischen neuere Studien auf dem Markt waren. Weil so viel Zeit dazwischen lag, gibt es zur Austrittsphase zwei Berichte. Auf diese Evidenzberichte des IQWiG mussten wir warten, um die Leitlinien-Kapitel schreiben zu können.

Sie haben als Leitlinien-Koordinatorin und -Koordinator den ganzen Prozess begleitet. Wie läuft die Erstellung der Kapitel ab?

Michael Abou-Dakn: Die Kapitel werden von den Verantwortlichen vorbereitet und aus den Studien die entsprechenden Aussagen formuliert. Hierzu wird dann ein Level der Evidenz mit angegeben. Der Prozess wird im ausführlichen Hintergrundtext beschrieben und begründet. Damit soll es den Lesenden möglich gemacht werden, die Zusammenfassung nachzuvollziehen. Die zusammengefasste Evidenz, die Empfehlung, wird in der Sitzung vorgetragen, den Hintergrundtext sollten alle vorher gelesen haben. Dann wird abgestimmt, ob die Gruppe den Empfehlungen folgt.

Nach diesen Abstimmungen gab es weitere Diskussionen, manchmal Korrekturen. Dann wurde das Abstimmungsergebnis notiert dargestellt und letztlich das Kapitel fertiggestellt. Die große Kunst war, zum Schluss alle Texte der 17 verschiedene Autor:innen zu glätten, so dass sie in der Leitlinie einheitlich wirkten. Nina Peterwerth, eine Mitarbeiterin von Rainhild Schäfers, hat diese Riesenarbeit großartig für uns gemacht. Wir sind alle im Ehrenamt tätig und hätten das nicht leisten können.

Rainhild Schäfers: Neben den beschriebenen Präsenzsitzungen war es auch unsere Aufgabe, die Onlineabstimmungen zu organisieren und das Ergebnis zusammenzustellen. Um Ressourcen zu sparen, haben wir so viele Empfehlungen wie möglich online abgestimmt. Die Regel war: Haben bei einer Online-Abstimmung über 90 % der Mitglieder dafür gestimmt, wurde dieses Ergebnis fürs Protokoll einfach dokumentiert und die Empfehlung galt als angenommen. Wenn es darunter lag, wurde das Thema in der nächsten Präsenzsitzung noch einmal aufgenommen. Deshalb wurde das Kapitel »Monitoring« in sechs Sitzungen diskutiert.

Michael Abou-Dakn: Ja, das waren unsere Aufgaben und vor allem danach noch die weiteren Diskussionen zu führen. Ich hab viel Energie gebraucht, um den Rückhalt innerhalb der DGGG zu bekommen.

Rainhild Schäfers: Stimmt, als die AWMF formal grünes Licht gegeben hatte, ging als letzter Schritt der Leitlinien-Entwurf noch einmal an die Vorstände der Fachgesellschaften. Bei diesem Rücklauf ging es darum, was berücksichtigen wir und was nicht? Gibt es für die Änderungsempfehlungen eine valide Begründung, können wir sie überhaupt berücksichtigen? Zum Schluss hatten wir Sitzungen zu dritt mit Nina Peterwerth, die den Leitlinienentwurf redaktionell überarbeitet hat, in denen wir uns abgesprochen haben, wie wir mit allen Rückmeldungen umgehen.

Michael Abou-Dakn: Alle Rückmel­dungen müssen dokumentiert werden.

Das klingt arbeitsintensiv.

Michael Abou-Dakn: Genau, das war viel Arbeit, die vielen »Wenns« und »Abers« mit hineinzunehmen. Die Kolleg:innen vom DGGG-Vorstand waren da sehr hilfreich. Manche haben gesagt, es wäre fatal, wenn das Ganze zerbricht und die Deutsche Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe entscheidet, wir tragen die Leitlinie nicht mit. Manche Punkte etwas zähneknirschend, aber sie haben die Leitlinie mitgetragen – dann kam die Veröffentlichung.

» Leitlinien bilden einen Handlungskorridor, der in begründeten Fällen verlassen werden kann oder muss. «

 

Fließen die »Wenns und Abers« jetzt in die Überarbeitung der Leitlinie ein?

Rainhild Schäfers: Die fundierte Kritik fließt natürlich ein. Wir haben alle Veröffentlichungen zur Leitlinie und auch die Kritikpunkte gesammelt. Und wenn man die Mitglieder der neuen Leitlinienkommission zur konstituierenden Sitzung einlädt, würde man gleich darum bitten, die Punkte einzubringen, die aus ihrer Sicht überarbeitet werden sollten.

Herzlichen Dank für das offene und aufschlussreiche Gespräch!

Zitiervorlage
Baumgarten, K. (2024). Interview mit Rainhild Schäfers und Michael Abou-Dakn – Teil 2: »Ein Kraftakt«. Deutsche Hebammen Zeitschrift, 76 (11), 48–53.
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