Prof. Soo Downe spricht über Idee, Werdegang und Erfolge der COST-Action. Foto: © Hugh Wiseman

In Brüssel fand Anfang April eine inspirierende Tagung mit Weitblick statt. Sie präsentierte die Ergebnisse der über vier Jahre laufenden COST-Action IS0907. Dieses internationale Forschungsnetzwerk betrachtet und vergleicht in ganz Europa die Versorgung der Frauen rund um Schwangerschaft und Geburt.

In der Freien Universität Brüssel fand am 9. und 10. April mit circa 180 TeilnehmerInnen die Tagung „Optimising Childbirth, across europe. An interdisciplinary maternity conference“ statt. Das Programm der beiden Kongress­tage bot fast 100 spannende Vorträge: Jeweils zu Beginn des Tages bekamen die Teilnehmenden eine Einführung in die Arbeitsweisen und Ziele der fünf COST-Arbeitsgruppen (siehe Kasten), denen die große Vielfalt von Vorträgen über Forschungen, Ergebnisse und gute Praxis zugeordnet waren. Deren Spektrum war breit: Quantitative Studien gehörten dazu, wie die Frage nach dem Einfluss des Stillens bei vaginaler Geburt oder Sectio auf die Entwicklung, Ernährung und Gesundheit von Kindern bis zum Alter von zwei Jahren. Es umfasste auch vergleichende Überblicke, wie dem Vergleich der Routine-Schwangerenvorsorge in Europa sowie eine Vielzahl von qualitativen und quantitativen Forschungen zur Hebammenarbeit, zur Sicht der Frauen, Einstellungen der Hebammen, zu Aspekten der außerklinischen Geburt und vielen weiteren Themen. Für die Besucherin bestand die Aufgabe immer wieder darin, sich zwischen mindestens fünf Alternativen zu entscheiden. Den Einführungsvortrag hielt Prof. Soo Downe von der University of Central Lancashire, UK, die Initiatorin und Leiterin des Projektkomitees der COST-Action. Sie sprach über Idee, Verlauf und Erfolge des Projekts. Das interdisziplinäre Netzwerk der COST-Action IS0907 heißt „Childbirth Cultures, Concerns, and Consequences: Creating a dynamic EU framework for optimal maternity care“. Darin haben sich etwa 100 ForscherInnen aus 26 europäischen und außereuropäischen Ländern zusammengeschlossen, unter ihnen China, Südafrika und Australien. Sie forschten von 2010 bis 2014 in unterschiedlichen Arbeitsgruppen zur Versorgung von Müttern, Babys und ihren Familien. Das übergeordnete Ziel des Projekts war es, das wissenschaftliche Wissen über die Versorgung rund um die Geburt für Mütter, Babys und ihre Familien in Europa zu verbessern. Leitend war dabei die Frage, was für wen und unter welchen Umständen funktioniert – mit anderen Worten: Es ging darum, das beste Wissen und die beste Praxis zu identifizieren und davon zu lernen. Diese Art der Forschung sollte die Kluft zwischen Theorie und Praxis überwinden. Vor allem sollten die Frauen, die in der Forschung selten ganzheitlich berücksichtig werden, eine entscheidende Rolle spielen.

Schwangerschaft und Geburt, so Soo Downe, seien komplexe, adaptive Prozesse. Um sie zu erfassen, brauche es theoretische Modelle, die diesen Prozessen gerecht würden. Aus Downes Sicht sind das Salutogenese, Komplexität und Ungewissheit. Salutogenese bedeute im Kontext der Geburt, dass die Frauen in ihren Ressourcen und Kompetenzen gestärkt werden. Kohärenz als zentrales Element der Salutogenese bedeute, dass Frauen das Geburtsgeschehen und alles, was damit verbunden ist, für sich und ihr Leben als sinnvoll begreifen. Um dies zu erreichen, müssten wir von den Frauen hören, was für sie sinnvoll ist. Dies, so Downe, sei genauso wichtig, wie das Verhindern von Morbidität und Mortalität.

Durch das in der Geburtshilfe dominierende Risikodenken werde die Ungewissheit, die ein wesentlicher Bestandteil des Geburtsgeschehens sei, verteufelt. Dagegen verstärkten Interventionen und Überwachung das Gefühl der Unsicherheit bei den Frauen. Stattdessen sollte die Ungewissheit als Teil des Prozesses akzeptiert werden, denn qualifizierte Fachleute könnten durchaus damit umgehen. Und schließlich müsse die Komplexität des Geburtsprozesses berücksichtigt werden. Denn Gebären sei kein linearer Prozess, sondern ein Prozess des Werdens, dessen Evidenz aus einer ganzheitlichen Perspektive ermittelt werden müsse.

Foto: © Hugh Wiseman

Foto: © Hugh Wiseman

Fünf Arbeitsgruppen

Die WissenschaftlerInnen der COST-Action hatten ihre Zusammenarbeit in interdisziplinären Teams in fünf Arbeitsgruppen organisiert. Diese umfassten ein breites Spektrum der derzeitigen großen Themen um die geburtshilfliche Versorgung. Die Arbeitsgruppe „Organisational Design“ (Organisationsgestaltung) befasste sich mit den unterschiedlichen Kulturen der intrapartalen Versorgung, den Strukturen der Systeme, ihren Ergebnissen sowie den Wahlmöglichkeiten der Frauen. Die Gruppe „Outcome Messurement“ (Messen der Ergebnisse) setzte sich mit den Bemessungen der klinischen, psychologischen und soziokulturellen Ergebnisse in den unterschiedlichen Versorgungssystemen auseinander. Insbesondere ging es dabei um die Frage, wie sich Ergebnisse abbilden und messen lassen, die sich auf Salutogenese, Resilienz und das Wohlbefinden der Frauen beziehen – Ergebnisse, die sowohl für die Frauen als Verbraucherinnen als auch für die Berufsgruppen und für die Gesundheitspolitik wichtig sind. .

Die Arbeitsgruppe „Impact on Migrant Women“ (Auswirkungen auf Migrantinnen) fragte, welche spezifische Versorgung Migrantinnen rund um Schwangerschaft und Geburt benötigen. Der Schwerpunkt lag hier auf den Sichtweisen und Erfahrungen der Frauen bei Frühgeburt und niedrigem Geburtsgewicht des Kindes.

„Complex Systems“ (Komplexe Systeme) waren das Thema einer weiteren Arbeitsgruppe. Sie sollte Instrumente und Techniken identifizieren, mit denen sich komplexe Systeme erforschen lassen. Außerdem sollten Ansätze identifiziert werden, die positive Ergebnisse für Frauen, Kinder, Familien und die Berufsgruppen in der Mutter-Kind-Versorgung bringen. Dazu gehören auch kostengünstige Evaluationen, wie sich die beste Praxis implementieren lässt.

In der Gruppe „Knowledge Transfer“ (Wissenstransfer) ging es um Instrumente und Techniken des Wissenstransfers, also um Strategien, wie Forschungsergebnisse in Wissen transferiert werden können, das sowohl die Berufsgruppen als auch die Verbraucherinnen nutzen können.

Entstanden ist in diesem inspirierenden Wissensnetzwerk unter anderem eine akademische und politische Debatte über neue Wege und die optimale Versorgung rund um die Geburt aus der Perspektive von Salutogenese und Komplexität. In den vier Jahren haben die WissenschaftlerInnen in ihren jeweiligen Netzwerken zusammengearbeitet. Sie haben sich auf Konferenzen getroffen oder einander zu Forschungsaufenthalten besucht. Workshops fanden statt und es wurden über 100 verschiedene Arbeiten erstellt, darunter auch peer-reviewte Artikel (weitere Informationen unter www.iresearch 4birth.eu).

Als großen Erfolg der COST-Action betonte Downe die derzeit laufende und von der EU geförderte OptiBirth-Studie. Dies ist ein europaweites von Wissenschaftlerinnen der COST-Action begründetes Forschungsprojekt zur Unterstützung der vaginalen Geburt nach einem Kaiserschnitt, das in Deutschland, Irland und Italien durchgeführt wird.

Eine weitere Aktion ist die noch laufende „Babies Born Better“-Umfrage zu den Sichtweisen und Erfahrungen von Frauen zur Schwangerenvorsorge. Sie brachte bereits eine überwältigende Beteiligung

Aufruf
Frauen, die in den vergangenen fünf Jahren ein Kind geboren haben, sind eingeladen, an der Babies Born Better Umfrage teilzunehmen. Die Umfrage der internationalen Forschungsgruppe der COST Action ISO907 beinhaltet 20 Fragen, die in weniger als zehn Minuten zu beantworten sein sollten. Die Antworten bleiben anonym und sollen zur Identifizierung der Bereiche bester Praxis in der Geburtshilfe in Europa beitragen. Die Umfrage ist aktuell in 16 Sprachen verfügbar.
Der Arbeitsgruppe gehören über 100 Hebammen, ÄrztInnen, politische EntscheidungsträgerInnen und ExpertInnen aus dem Gesundheitswesen an. Mit der Umfrage möchte die Arbeitsgruppe mehr Informationen über die Sichtweise von Frauen und ihre Erfahrungen mit der Schwangerenversorgung in verschiedenen europäischen Ländern erlangen. Um ein möglichst breites Spektrum an Ergebnissen zu erzielen, appelliert die Arbeitsgruppe an alle Hebammen, die von ihnen betreuten Frauen über die Aktion zu informieren und den Link zum Onlinefragebogen an Frauen weiterzuleiten: www.surveymonkey.com/s/bb3-German. Die Ergebnisse sind online – auch für die Frauen – einsehbar und werden regelmäßig aktualisiert. Bis Ende März 2014 hatten bereits mehr als 10.000 Frauen aus 20 Ländern an der Befragung teilgenommen.
Weitere Informationen über die Arbeitsgruppe und erste Ergebnisse der Befragung unter: www.iresearch4birth.eu

Rollenidentität von Hebammen

Hoch interessant waren auch die Vorträge zur Identität von Hebammen, wie die Forschung von Gail Johnson (The Royal College of Midwives). Sie ist Expertin in der Aus-und Weiterbildung von Hebammen, insbesondere für die Übernahme von Führungspositionen. Johnson erforschte die Rollenidentität von Hebammen sowie deren Reflexion darüber mit Hilfe von narrativen Interviews. Was bewegt Hebammen, Führungspositionen einzunehmen? Wie verändert sich ihre professionelle Identität? Welche Elemente brauchen Hebammen, um ihre eigene Form der Führung zu entwickeln – eine, die zu ihrer professionellen und persönlichen Identität passt und die sie befähigt, mehr Einfluss auszuüben und Entscheidungen auf einer höheren Ebenen mitzubestimmen?

Sehr beeindruckend war auch die Präsentation von Mary Zwart, einer seit 1969 praktizierenden niederländischen Hebamme, die vor mehreren Jahren nach Portugal auswanderte. Sie präsentierte die Ergebnisse ihrer fünfjährigen Arbeit als Hausgeburtshebamme in Portugal. Spürbar wurden dabei auch ihre persönliche Geschichte und ihre wertvolle Arbeit in der Humanisierung der Geburtshilfe. Als eine der wenigen Hebammen, die in Portugal Hausgeburten begleitet, hat sie von 2007 bis 2012 106 Frauen betreut. Zum Teil fährt sie bis zu drei Autostunden, damit die in diesem Land seltenen „Einzelkämpferinnen“ zu Hause gebären können. Verlegt hat sie in diesen Jahren 3,5 Prozent der Frauen während der Schwangerschaft und 18 Prozent bei der Geburt. Postpartal musste sie keine Frau verlegen. Nur 2,5 Prozent der von ihr betreuten Frauen benötigten eine Sectio.

Dies alles ist nicht selbstverständlich. Die Frauen dürfen, wenn sie verlegt werden, nicht erzählen, dass sie die Geburt zu Hause begonnen haben. Das könnte für Mary Zwart zum Verhängnis werden, weil die Hausgeburt in Portugal von der Regierung nicht unterstützt wird. Eine Haftpflichtversicherung für Hebammen gibt es nicht. Zwart darf in Portugal auch keine für die Geburtshilfe notwendigen Medikamente kaufen, wie etwa Oxytocin. Sie besucht ihre Heimat regelmäßig, um ihren Notfallkoffer aufzustocken. Am Wichtigsten für sie ist, dass sie sich selbst absichert und eine sehr strenge Risikoselektion ausübt.

Mary Zwart strahlt einen Mut aus, der ansteckend ist. Dass die außerklinischen Hebammen in Deutschland in ihrer Existenz bedroht und in der Gefahr sind, in die Illegalität getrieben zu werden, dürfe nicht auf die leichte Schulter genommen werden. Jede Frau müsse die Möglichkeit haben, zu Hause zu gebären. Der Status der Hebammen müsse angehoben werden, um deren wertvolle und sinnvolle Arbeit anzuerkennen.

„Befreundungsmodell“

Ein auf ganz andere Weise besonderer Vortrag über gute Praxis war der Bericht von Rose McCarthy. Sie stellte ein Modell der kommunalen Flüchtlingsarbeit vor, in dem durch Engagement auf Gemeindeebene die Gesundheit von Mütter und Kindern verbessert werden soll, die als Flüchtlinge und Asylsuchende in einer besonders schwierigen Situation sind. Rose McCarthy war selbst als Flüchtling nach England gekommen. Ziel des Projektes ist es, Flüchtlinge und Asylsuchende darin zu befähigen, ihren Anspruch auf Gesundheit und soziale Versorgung wahrzunehmen und rechtzeitig einen Zugang zum Gesundheitssystem zu finden.

Gleichzeitig soll durch den Kontakt mit Menschen aus der Gemeinde vor Ort das Gefühl der Isolation reduziert und damit Gesundheit und Wohlbefinden verbessert werden. In erster Linie durch eine Eins-zu-eins-Beziehung und manchmal auch durch Gruppenarbeit sollen die Klientinnen praktische und emotionale Unterstützung für ihre körperliche und psychische Gesundheit bekommen. In diesem „Befreundungsmodell“ werden Frauen ausgebildet zu einer Art Doula oder Begleiterinnen der Frauen, die oft Gewalt erfahren haben und traumatisiert sind. In einer Weiterbildung erhalten die Begleiterinnen vielfältiges Wissen über die spezifischen körperlichen, psychischen und sozialen Hintergründe und die möglichen gesundheitlichen Bedürfnisse von Frauen in diesen besonderen Situationen, so dass sie gut vorbereitet sind für ihre unterstützende Begleitung.

Wie erfolgreich dieses Projekt ist, wird berührend erfahrbar, wenn Rose McCarthy über ihre eigenen Erfahrungen spricht, als sie aus Kamerun nach England kam. „Ich war so deprimiert. Diese Freundin half mir, mich selbst wieder zu fühlen.“ Sie erzählt, wie viel Kraft ihr dieses Netzwerk von Freundschaften gegeben habe. Niemals habe sie sich vorstellen können, dass sie einmal auf einer Konferenz über diese Erfahrungen sprechen würde.

Heute ist sie Koordinatorin des Health Befriending Networks, bildet selbst Frauen aus und verbreitet die Idee des Projekts. Ein wunderbares Beispiel für ein Modell, das im Sinne des COST-Action- Grundgedankens funktioniert: Bestes Wissen und beste Praxis weitergeben.

Vorgestellt
COST (European Cooperation in Science and Resarch) wurde 1971 gegründet und ist eine internationale Initiative zur europäischen Zusammenarbeit in Wissenschaft und Forschung. Aufgabe von COST ist es, europäische Forschungseinrichtungen, Hochschulen und Unternehmen zusammenzuführen, um ein gemeinsames Forschungsunternehmen aufzubauen. Durch die Bündelung national finanzierter Forschungsprojekte in konzertieren Aktionen in einem zwischenstaatlichen europäischen Forschungsrahmen sollen die europaweiten Kapazitäten von Wissen, technischer Ausstattung und finanziellen Ressourcen effektiv genutzt werden und es sollen dauerhafte Forschungsnetzwerke entstehen. Die Aktionen werden inhaltlich von den WissenschaftlerInnen selbst bestimmt. Insofern ist COST ein Forum für neue interdisziplinäre Themenstellungen. Zurzeit beteiligen sich 35 Mitgliedsstaaten und ein kooperierendes Land (Israel) an COST, über 30.000 WissenschafterInnen sind in Forschungszusammenarbeit vernetzt. COST-Aktionen sind auch für Institutionen aus Nichtmitgliedsstaaten offen, wenn dies im beiderseitigen Nutzen ist.
Weitere Informationen finden sich unter www.cost.eu/.

Hinweis: Abstracts zur Konferenz unter: http://www.iresearch4birth.eu/iResearch4Birth/resources/cms/documents/congress_book.pdf


Zitiervorlage
Ensel A: COST-Konferenz in Belgien: Bestes Wissen weitergeben. DEUTSCHE HEBAMMEN ZEITSCHRIFT 2014. 66 (6): 82–84
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