Eine Geburtshilfe nach Maß kann und darf es nicht geben. Der Blick auf Veränderungspotenziale ist auch in der Forschung gefragt. Foto: © Kerstin Pukall

Mit einem dicht gefüllten Programm präsentierte der Verbund Hebammenforschung auf seiner Internationalen Fachtagung am 27. November 2015 in Osnabrück eine beeindruckende Fülle aktueller Forschungsergebnisse zur geburtshilflichen Versorgung. Die jeweils 15-minütigen Kurzvorträge umfassten ein breites Spektrum zu vier Schwerpunkten: mütterliche Gesundheit, Versorgung besonderer Nutzerinnengruppen, Betreuungsqualität während der Geburt und Rahmenbedingungen der Versorgung.

Vor fast zehn Jahren erschien der wegweisende Bericht „Geburtshilfe neu denken“ zum Hebammenwesen, der mit ExpertInnen aus Berufspraxis und Wissenschaft erarbeitet wurde. Wie viele beeindruckende Entwicklungen die Hebammenforschung in Deutschland seitdem gemacht hat und in welche Richtungen sie sich weiter entwickelt, stellte die Gastgeberin und wissenschaftliche Leiterin des Verbundes Hebammenforschung Prof. Dr. Friederike zu Sayn-Wittgenstein vor. In ihrer Einführung zur internationalen Fachtagung „Geburtshilfe weiter denken“ am 27. November in Osnabrück präsentierte sie den Forschungsstandort mit seinen unterschiedlichen Projekten.

Im Forschungsschwerpunkt ISQUA (Instrumente zur Sektorenübergreifenden Qualitätsentwicklung) werden in fünf Teilprojekten Instrumente zur Förderung der physiologischen Geburt und der Versorgung von Frauen entwickelt. Neu ist hier das Einbeziehen der Nutzerinnen, wie Frauen mit spezifischen Erkrankungen und sehr jungen Müttern. Die Forschungsprofessur von Friederike zu Sayn-Wittgenstein mit dem Schwerpunkt „Familienorientierte Geburtshilfliche Versorgung“ (FaGeV) ermöglicht es, die bisherige Forschung des Verbundes zu erweitern und die Themen im Kontext der Frühen Hilfen zu integrieren. Seit 2011 gibt es außerdem die Möglichkeit, in Kooperation mit der Universität Witten-Herdecke zu promovieren. Das ebenfalls mit dieser Universität begründete kooperative Forschungskolleg „Familiengesundheit im Lebensverlauf“ bietet weitere Möglichkeiten zur Dissertation. Derzeit promovieren dort vier Hebammen zu Themen der Familiengesundheit.

Schmerz von Neugeborenen – lange kein Thema

Mit ihrem brillanten und berührenden Eröffnungsvortrag zum Schmerzerleben von Neugeborenen verwies Prof. Dr. Eva Cignacco Müller, Professorin an der Berner Fachhochschule, mit großer Expertise auf ein zentrales, über Jahrzehnte vernachlässigtes Thema der Geburtshilfe. Eingebettet in sozialhistorische und wissenssoziologische Perspektiven auf den Schmerz und Annahmen über das Schmerzerleben von Neugeborenen zeigte Cignacco, dass der Schmerz des Säuglings über lange Zeit nicht thematisiert wurde und als irrelevant galt. So ging man beispielsweise im 19. Jahrhundert davon aus, dass Neugeborene keine Schmerzen empfinden und operierte sie postpartal ohne Narkose. Weil man bei Frühgeborenen keine Schmerzempfindung feststellte, schloss man daraus, dass diese nicht existiere.

Immer wieder gab es aber auch einen anderen Blick auf das Neugeborene. Etwa im Mittelalter ging man sehr wohl davon aus, dass Neu- und Frühgeborene Schmerzen erleben. In der islamischen Medizin sollte laut einer Empfehlung des Propheten Mohammed den Kindern eine Dattel zur Schmerzlinderung gegeben werden. Besonders erschreckend ist die Tatsache, dass das Thema bis heute nicht in den Hebammenlehrbüchern präsent ist, wie eine Recherche Cignaccos ergab. Wie gefährlich es ist, hier ignorant zu sein, zeigen insbesondere die Auswirkungen von Schmerzerfahrungen für das unreife Gehirn von Frühgeborenen. Bei bis zu 17 schmerzhaften Prozeduren, die ein Frühgeborenes täglich erlebt, besteht die Gefahr von Hyper- und Hyposensibilität. „Wir prägen diese Kinder, wenn wir ihren Schmerz ignorieren“, sagte Cignacco. Die Evidenz von Zuckerlösung zur Schmerzlinderung, die durch ein Cochrane-Review bestätigt ist, sei noch lange nicht überall verbreitet. Eva Cignacco entwickelte den Berner Schmerzscore für Neugeborene und forscht weiter an diesem Thema.

Daten zur Müttergesundheit

Drei Vorträge zur mütterlichen Gesundheit bildeten im Anschluss den ersten Block der Präsentationen aus dem Forschungsverbund. Petra Köhler, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Forschungsschwerpunkt IsQua, berichtete über die Entwicklung einer Dokumentation, die Daten zur körperlichen, psychischen und sozialen Gesundheit im Früh- und Spätwochenbett erfassen soll. So ein Instrument fehle, so Köhler, da die bisherigen Dokumentationen von Hebammen lediglich die körperliche Befindlichkeit der Frauen erfassen. Die Forschung ist noch nicht abgeschlossen, zeigt aber bereits beeindruckende Ergebnisse. So leiden 70 Prozent der befragten Frauen unter psychischen Beeinträchtigungen. Gerade dies zeige die Notwendigkeit einer routinemäßigen Abfrage. Bereits jetzt sei deutlich, dass ein entsprechendes Instrument das Spektrum der Gesundheit im Wochenbett erfassen und Entwicklungen darstellen kann.

Susanne Simon, ebenfalls wissenschaftliche Mitarbeiterin bei Isqua, präsentierte die Ergebnisse einer qualitativen Forschung zu den Sichtweisen von Hebammen auf die Gesundheit im Wochenbett. Bisher fehlten Indikatoren, die Hinweise auf langfristige Gesundheit geben können. Die Mehrheit der Hebammen schätze die überwiegende Zahl der Frauen nach der Geburt als gesund ein. Die Ursachen für mangelndes Wohlbefinden würden in mangelnder Schonung nach der Geburt und einer Überforderung durch die neue Lebenssituation gesehen. Gleichzeitig fehlten Kenntnisse im Umgang mit psychischen Problemen, was auf einen Weiterbildungsbedarf verweise. Deutlich wurde hier auch, dass die Sichtweisen der Hebammen und ihre Einschätzungen zur Gesundheit der Frauen in einem Zusammenhang stehen.
Über eine qualitative Studie zu „Mutterwerden mit einer chronischen Erkrankung“ berichtete Dr. Ute Lange, Professorin für Hebammenkunde an der Hochschule für Gesundheit in Bochum. Da immer mehr Frauen mit einer chronischen Erkrankung heute auch Mutter werden, gewinnt dieses Thema zunehmend an Bedeutung. Hier werden Versorgungs- sowie interdisziplinäre Betreuungskonzepte gebraucht. Außerdem müsse dieses Arbeitsfeld noch mehr in der Aus- und Fortbildung von Hebammen integriert werden.

Der Versorgung besonderer Nutzerinnengruppen waren ebenfalls drei Vorträge gewidmet. Über „Frauen und Mädchen in schwierigen Lebenslagen“, eine retrospektive qualitative Querschnittsbefragung von Frauen in Niedersachen, Mecklenburg-Vorpommern und Brandenburg, die von Familienhebammen begleitet wurden, berichteten Prof. Dr. Friederike zu Sayn-Wittgenstein und Dr. Ute Lange. Sicherheit, Wissen, Kommunikation und Rollenfindung waren die zentralen Kategorien aus den Interviews mit Frauen. Vieles ist gleich und vieles ist anders in der Versorgung, so das kurzgefasste Fazit der Studie. Das heißt auch: Besondere Nutzerinnnen brauchen eigene Angebote, ebenso wie Vernetzung von Hebammen und Beratungsstellen.

Über ihre qualitative Forschung zum Thema „Interprofessionelle Kommunikation in den frühen Hilfen –(k)ein Thema für Hebammen?“ berichtete Martina Schlüter-Cruse, wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt FaGeV. Sie fragte nach dem Beitrag der freiberuflichen Hebammen in den Frühen Hilfen und der Art und Weise, wie sich die Kooperation mit anderen Gruppen von AkteurInnen gestaltet. Für dieses Projekt wurden unter anderem 30 freiberufliche Hebammen aus ganz Deutschland interviewt. Im Ergebnis zeigt sich, dass die Zusammenarbeit unsystematisch zu sein scheint und dass persönliche Kontakte dabei eine zentrale Rolle spielen. Da es aus der Literatur bekannt ist, dass die Vernetzung der AkteurInnen von den Frauen als sehr positiv bewertet wird, ist hier weiterer Handlungsbedarf gegeben, um die Voraussetzungen für alle Frauen zu verbessern.

Auch der Vortrag von Dr. Marion Schumann, ebenfalls wissenschaftliche Mitarbeiterin bei FaGeV, betraf die Kooperation im Kontext der Frühen Hilfen, hier der Familienhebammen und der Berufsgruppen aus der sozialen Arbeit. Dabei treffen unterschiedliche Kulturen und Rollen aufeinander. Die qualitative Forschung auf der Basis von Interviews mit den Netzwerkkoordinatorinnen untersuchte die interprofessionelle Kommunikation bei der fallbezogenen und fallübergreifenden Kooperation. In ihrem Fazit stellt sie unter anderem weiteren Bedarf an Qualifizierung für die Familienhebammen fest.

Ressourcen und Risiken einschätzen

Der Betreuungsqualität während der Geburt war der nächste Vortragsblock mit zwei Vorträgen gewidmet. Die psychosoziale Hebammenarbeit hat große Bedeutung für die Gesundheit der Frauen, insbesondere für diejenigen mit einer spezifischen Belastung wie zum Beispiel depressiven Symptomen, Angst, Stress, Gewalt, Armut oder Problemen in der Partnerschaft. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit, die psychosozialen Bedürfnisse für die peripartale Betreuung zu erheben. Über eine Forschung, mit dem Ziel, ein Instrument zur Einschätzung dieses Bedarfs zu entwickeln, berichtete Dr. Claudia Hellmers, Professorin für Hebammenkunde an der Hochschule Osnabrück. Mit Hilfe des Assessmentinstruments, das in der Hebammensprechstunde in einem dialogischen Gespräch eingesetzt wird, kann die Hebamme Ressourcen, Risiken und Bedürfnisse der Frau einschätzen. Auf dieser Basis kann sie Empfehlungen aussprechen und weitere Hilfe vermitteln. Das Instrument, das gleichzeitig gut für das Qualitätsmanagement geeignet ist, soll Pathologisierung vermeiden und nicht stigmatisieren. Es zeigte sich auch, dass die Frauen es sehr wichtig finden, hierzu befragt zu werden.

Astrid Krahl, wissenschaftliche Mitarbeiterin bei IsQua, berichtete über ihr Dissertationsprojekt zur Betreuung von Frauen in der Latenzphase, ein Thema, mit dem Hebammen in der Klinik täglich konfrontiert werden: Laut Daten des Instituts für angewandte Qualitätsförderung und Forschung im Gesundheitswesen (AQUA) kommt jede zweite Frau in der Latenzphase in die Klinik. Gleichzeitig belegen internationale Studien einen Zusammenhang zwischen einer frühen Aufnahme in den Kreißsaal und einem erhöhtem Risiko für Interventionen. Welche Definitionen von Geburtsbeginn und Latenzphase werden zugrunde gelegt und wie wollen wir die Latenzphase mitdenken und begleiten? Krahl verwies auf die großen Unterschiede der Definition des Geburtsbeginns – national und international – und auf die weitreichenden negativen Auswirkungen der Normierungen. Ein Fazit: „Wir müssen viele Dinge neu definieren, das hat auch rechtliche Konsequenzen.“ Die bewegte Diskussion im Anschluss zeigte, dass wir sehr gespannt sein können auf die Ergebnisse der Dissertation, die hier neue Wege weisen könnte.

Gute Rahmenbedingungen schaffen

Abgerundet wurde die Tagung durch drei Vorträge zu den Rahmenbedingungen der Versorgung. In ihrer Studie „Qualitätsorientierter Personalbedarf“ stellte sich Nina Rogava (IsQua) die Forschungsfrage: Welche geburtshilflichen Ereignisse geben Aufschlüsse über die Aufenthaltsdauer im Kreißsaal? Auf dem Hintergrund der Veränderung des geburtshilflichen Betreuungskonzepts durch die Fallpauschalen im DRG-System gehe es heute nicht mehr um eine bestimmte Zeit, die für eine Frau vorgesehen ist, sondern um „erlösorientierte Betreuung“, so Rogava, die für ihre Arbeit die Daten von 1.628 Geburten auswertete.

„Arbeitsdichte und Betreuungskontinuität“ war das Thema der Dissertation von Nina Knape, Professorin für Hebammenwissenschaft an der Hochschule Ludwigshafen. Vor dem Hintergrund der Ökonomisierung der Geburtshilfe, der zunehmenden Arbeitsverdichtung und der Tatsache, dass es keine aktuellen Personalanhaltsdaten gibt, untersuchte Knape den Zusammenhang zwischen Arbeitsbelastung, Betreuungsdichte und Ergebnisqualität. Die zunehmende Belastung der Hebammen durch ein immer komplexer werdendes Arbeitsfeld, Personalabbau und Hebammenmangel bestätigen, dass Forschung dazu nottut. Auch wenn ein direkter Zusammenhang zwischen der Rate an Interventionen und der Betreuungsdichte nicht nachgewiesen werden kann, zeigt die Studie, dass andere Aspekte einer unterstützenden Begleitung den Geburtsmodus beeinflussen und mit einer Reduzierung der Kaiserschnittrate und operativen Geburten korrelieren.

Wissen für die Praxis

Zum Abschluss sprach Petra Blumenberg, Diplom-Pflegewirtin und wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Deutschen Netzwerk für Qualitätsentwicklung in der Pflege (DNQP), über den „Wissenstransfer zur Förderung der physiologischen Geburt“. Dabei ging es um den vom DNQP mitentwickelten Expertinnenstandard und die Frage, wie aus wissenschaftlicher Forschung handlungsleitendes Wissen werden kann, das in Praxisdisziplinen etabliert werden kann. Dieser Prozess ist, so Blumenberg, nicht nur Transfer, sondern immer auch Transformation. Das heißt, das Wissen muss für die jeweilige Praxis kompatibel gemacht werden, damit es „nicht wie Öl von der Praxis abperlt“: Wichtige Faktoren für einen erfolgreichen Transfer seien dabei, dass die Evidenz Erfahrungswissen aufweise, aktuell sei und der Transfer im Kontext geschieht. Auch der Führungsstil der jeweiligen Einrichtung ist entscheidend, ebenso haben vorhandene Ressourcen wie zum Beispiel ein Qualitätsmanagement zentrale Bedeutung. Am Ende dieses dichten Forschungstages konnte man nur beeindruckt sein von der Entwicklung der Hebammenforschung in Deutschland, der Weiterentwicklung der Forschungsfelder an den Hochschulen und den zahlreichen forschenden Hebammen. Wenn unsere Hebammenforschung so breit und qualifiziert weitergeht, haben wir gute Aussichten.

Zitiervorlage
Ensel A: Internationale Fachtagung des Verbunds Hebammenforschung: Geburtshilfe weiter denken. DEUTSCHE HEBAMMEN ZEITSCHRIFT 2016. 68 (2): 85–87
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