Dass Forschung durch Hebammen sich lohnt, hoben unter anderem Beate Schücking (hier im Bild), Ute Lange, Judith Scholler-Sachs und Nancy Stone in ihren Vorträgen hervor. Fotos: © Dorit Müller

Ende Februar fand in Kassel die 2. Internationale Fachtagung der Deutschen Gesellschaft für Hebammenwissenschaft e.V. (DGHWi) statt. Austausch und Vernetzung von Hebammen und anderen Professionen waren das Ziel dieser inspirierenden Tagung. Perspektiven der Hebammenwissenschaft sowie relevanter angrenzender Wissenschaften wurden nachgezeichnet und weiter entwickelt.

Insgesamt 109 Hebammen, unter ihnen auch Hebammen in Ausbildung, WissenschaftlerInnen aus anderen Fachgebieten und ÄrztInnen, kamen am 21. Februar zur 2. Internationalen Fachtagung der DGHWi ins Haus der Kirche in Kassel.

Nicht nur die unterschiedlichen Dimensionen der in den Vorträgen, Workshops und Postersessions präsentierten Forschungsfelder, sondern auch die Vielfalt der Kompetenzen von Hebammen, die auf ihren jeweiligen Gebieten praxisnah forschen, zeigten auf beeindruckende Weise, dass das Tagungsmotto bereits gelebte Praxis ist: Hebammenkunst und forschende Praxis sind eng miteinander verbunden. Sie durchdringen sich wechselseitig und inspirieren einander.

Hebammenforschung etabliert

Mit ihrer Gründung im Jahr 2008 hat die DGHWi in Deutschland einen Meilenstein für die Etablierung der Hebammenforschung gesetzt, dem viele weitere wichtige Schritte folgten. In ihrem Grußwort erinnerte Prof. Dr. Beate Schücking, Direktorin der Universität Leipzig, an die Anfänge der Hebammenforschung in Deutschland, beginnend mit den Hebammenforschungsworkshops – begründet von der Hebamme PD Dr. Mechthild Groß und gefördert durch die Hebammengemeinschaftshilfe in den 1990er Jahren. Ab Mitte der 90er Jahre etablierte sich unter der Initiative Schückings der Forschungsschwerpunkt Maternal Health an der Universität Osnabrück, wo eine Reihe von Dissertationen von Hebammen entstanden. Im Laufe dieses gesamten Prozesses habe sich Beeindruckendes entwickelt. Heute sei die DGHWi als Institution für Hebammenforschung etabliert, sie spiele eine Rolle im Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) und werde für Stellungnahmen angefragt. „Evidenzbasierte Forschung und die wissenschaftliche Ausrichtung der Hebammen haben sich gelohnt”, resümierte Schücking. Sie sehe Vielversprechendes für die weitere Entwicklung der Hebammenforschung und ihre Stimme in Deutschland. Weitere Grußworte sprach Ursula Jahn-Zöhrens, erste Vorsitzende der Hebammengemeinschaftshilfe (HGH), die als eine der „Mütter” der Hebammenforschung in Deutschland Starthilfe leistete und sie bis heute unterstützt.

Forschung macht einen Unterschied

Den anschließenden Festvortrag: „A Safe Pair of Hands: Using midwifery research to give the best care to women and their families” – „Sichere Hände: Hebammenforschung nutzen, um Frauen und ihren Familien die bestmögliche Betreuung zu geben”, hielt Dr. Mary Stewart, Hebamme und Wissenschaftlerin am University College London. Mary Stewart leitete die 2011 veröffentlichte Birth Place Study, die maßgebliche Ergebnisse zu Sicherheit und Interventionsraten an unterschiedlichen Geburtsorten erbrachte. Derzeit ist sie als Lead research midwife beteiligt an der 2014 gestarteten Life Study, der bisher größten nationalen Geburtskohortenstudie zum Einfluss der frühen Lebensumwelt auf die Entwicklung und Gesundheit von Kindern.

In ihrem Vortrag ging Stewart zunächst auf die Geschichte und die verschiedene Ebenen und Perspektiven der Hebammenforschung ein. Quantitative und qualitative Forschung gehören aus ihrer Sicht unbedingt zusammen und ergänzen sich. Wenn Forschung die Praxis verändern soll, gelinge dies nur, wenn bei der Implementierung der Ergebnisse die verschiedenen Ebenen, wie klinische Erfahrung, die Perspektive der Betroffenen und der lokale Kontext, sorgfältig beachtet werden. Stewart würdigte sowohl die PionierInnen der Hebammenforschung – beginnend mit dem ungarischen Arzt Ignaz Semmelweis – ebenso wie viele maßgebliche neuere Forschungen, die das Wissen von Hebammen entscheidend vorangebracht haben. Unter anderem wies sie auf die Studie der kanadischen Hebamme Jenny Sleep und ihrer KollegInnen aus dem Jahr 1984 zur „Routineepisiotomie versus selektiver Episiotomie” hin oder auf die Forschung der britischen Hebamme Sally Inch aus dem Jahr 1989 zu Interventionskaskaden. In diesem Zusammenhang erwähnte sie auch die Arbeit der amerikanischen Hebamme und Trägerin des Alternativen Nobelpreises Ina May Gaskin, die damit für ihren Einsatz für die Rettung der „normalen Geburt” geehrt wurde.

Hebammenforschung gebe es schon lange und sie sei immer auch mit der Praxis verbunden, so Stewarts Fazit. Die Frage sei allerdings: „Whose research counts?” – Welchen Stellenwert haben die Ergebnisse für die Praxis? Welche Forschungen verändern sie? Einige Forschungsergebnisse werden sehr schnell in der Praxis umgesetzt, wie unter anderem die Ergebnisse der sogenannten Hannah-Studie zum Geburtsmodus bei Beckenendlage (Hannah et al. 2000), die die Praxis über Nacht veränderte. Auch wenn man im Nachhinein viele Schwächen dieser Studie festgestellt hätte, habe diese Studie die Praxis maßgeblich und nachhaltig verändert – allerdings zum Nachteil von Frauen und Kindern. Andere Evidenzen schafften es wiederum nicht, sich in der Praxis zu etablieren, wie etwa das Wissen um die Förderung der Geburt durch eine aufrechte Haltung. Auch heute noch, so Stewart, gebären weltweit 80 Prozent der Frauen in der Vertikale.

„Wir müssen das Gebären in den Kliniken verbessern”, und: „Forschung macht einen Unterschied” („Research really matters”), waren die Appelle der Wissenschaftlerin und Praktikerin an die Kolleginnen. Und noch etwas ist Mary Stewart wichtig: Jede forschende Hebamme sollte wenigstens einmal im Monat in der Praxis arbeiten, um so mit dem Herzstück der Hebammenarbeit in Kontakt zu bleiben.

Situation freiberuflicher Hebammen

Eine Reihe von spannenden Fachvorträgen forschender Hebammen präsentierte im Verlauf des Tages ein breites Themen- und Methodenspektrum. Ganz aktuell in Bezug auf die Situation des Berufsstandes präsentierte Nina Reitis, Hebamme aus Hamburg, einige Ergebnisse aus ihrem Dissertationsprojekt zur Situation der freiberuflichen Hebammen in Deutschland. In einer Kombination aus quantitativen und qualitativen Forschungsmethoden, befragte Reitis Hebammen unter anderem zu Arbeitsweise, Arbeitsaufkommen und zu ihrem individuellen Wohlbefinden. Die Studie, die derzeit noch nicht abgeschlossen ist, enthält eine Fülle von brisantem Material nicht nur zur Berufstätigkeit, sondern auch zu den Befindlichkeiten der Hebammen. Eine hohe Zufriedenheit mit der Arbeit auf der einen Seite, kontrastiert mit großer Frustration in Bezug auf die finanzielle Situation: Die Hälfte der Hebammen aus ihrer Studie würde den Hebammenberuf gegen einen anderen tauschen, so Nina Reitis.

„Befähigt eine Hebammenausbildung in der Klinik zur Begleitung einer physiologischen Geburt?”, war die Forschungsfrage der in einem Berliner Geburtshaus tätigen und zurzeit an ihrer Dissertation arbeitenden Hebamme Nancy Stone, die im Rahmen ihrer Masterarbeit eine qualitative Studie auf der Basis von Befragungen von Hebammen und der Beobachtungen von Geburten in „ihrem” Geburtshaus durchführte. Wie lernen Hebammen die Physiologie? Wie definieren außerklinisch tätige Hebammen die normale Geburt? Und: Wie wird Normalität im Gespräch mit den Eltern definiert oder auch ausgehandelt? Dies sind nur einige der spannenden Fragen, die Stone in diesem Kontext untersuchte.

Erste Ergebnisse einer weiteren qualitativen Forschung ebenfalls im Bereich der außerklinischen Geburtshilfe präsentierten Prof. Dr. Jessica Pehlke-Milde und Yvonne Meyer von der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften. Aus der Sicht von Frauen und Hebammen untersuchten die beiden Forscherinnen Entscheidungsprozesse bei Komplikationen während Haus- und Geburtshausgeburten. Als ein zentrales Ergebnis der Studie bezeichnen die Forscherinnen das Phänomen eines „Entscheidungsraums”, den die Hebamme im außerklinischen Kontext eröffne und in den sie die Frau mit einbeziehe. In diesem Raum werden die Entscheidungen flexibel im Hinblick auf die Situation und unter Einbezug der Sichtweisen der Frau getroffen. Je nachdem, wie weit die Frau einbezogen werden will, wird die Entscheidungskompetenz in bestimmten Situationen an die Hebamme delegiert.

Vorträge zu den Auswirkungen von Gestationsdiabetes auf das Erleben der Schwangerschaft und die Zeit danach (Judith-Scholler-Sachs, Universität Witten/Herdecke), zum Datenschutz in der qualitativen Forschung (Ute Lange, Verbund Hebammenforschung in Osnabrück) sowie ein Workshop zur Qualität in der qualitativen Forschung (Dr. Gertrud Ayerle, Halle) rundeten das Tagungsprogramm ab.

In zwei parallel laufenden Postersessions wurden weitere spannende Forschungsprojekte vorgestellt, die derzeit im Rahmen von Bachelor- oder Masterarbeiten beziehungsweise Dissertationsprojekten in Deutschland oder im internationalen Kontext bearbeitet werden.

Zukunftsweisendes Engagement

Zuwenig Zeit, um alles zu hören, noch weniger, um all die Fragen zu stellen, die bei jedem einzelnen Projekt aufkommen, zuwenig auch, um sich mit all den Kolleginnen auszutauschen – und doch so viele schöne Begegnungen. Genug, um absolut inspiriert zu sein von dem, was Hebammen in ihren Wissenschafts- und Praxisfeldern leisten. Das macht auch in schweren Zeiten für die Hebammen Hoffnung auf eine Entwicklung, die – mit vereinten Kräften – unseren Berufsstand in Deutschland entscheidend nach vorne bringt.

Ein großes Dankeschön an die Frauen aus dem Vorstand der DGHWi und alle, die sie unterstützt haben für ihren Einsatz und ihr Engagement bei der Organisation der Tagung. Mit ihrer Arbeit gestalten sie für uns alle die Zukunft mit.

Die 3. Internationale Fachtagung der DGHWI wird in zwei Jahren stattfinden. Alle Abstracts der Vorträge und die Poster sind nachzulesen im Abstractband zur Tagung in der zweiten Ausgabe der Zeitschrift für Hebammenwissenschaft (siehe Kasten).

Fotos: © Dorit Müller

Fotos: © Dorit Müller

Fotos: © Dorit Müller

Vorgestellt

Die Deutsche Gesellschaft für Hebammenwissenschaft (DGHWi), gegründet 2008, versteht sich als wissenschaftliche Gesellschaft, die es sich zum Ziel gesetzt hat, die Hebammenwissenschaft in Forschung und Lehre zu fördern, insbesondere den wissenschaftlichen Diskurs in der Disziplin zu unterstützen und die Ergebnisse der Allgemeinheit zur Verfügung zu stellen. Seit Juni 2012 gehört die DGHWi zum Kreis der Fachgesellschaften, die vor abschließenden Entscheidungen des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) stellungnahmeberechtigt sind. Derzeit hat die DGHWi 206 ordentliche Mitglieder, 20 Institutionen sind fördernde Mitglieder. Die inhaltliche Arbeit zu einzelnen Themen findet in den verschiedenen Sektionen statt. Alle Mitglieder sind eingeladen, sich hier einzubringen oder die Gründung neuer Sektionen zu beantragen. Zweimal pro Jahr gibt die DGHWi die Zeitschrift für Hebammenwissenschaft/Journal of Midwifery Science heraus, in der Artikel zum breiten Spektrum der Hebammenforschung erscheinen (siehe auch Kasten Peer-Review-Verfahren). Neue Mitglieder sind willkommen.

Weitere Informationen unter: www.dghwi.de

Fotos: © Dorit Müller

Zitiervorlage
Ensel A: 2. Internationale Fachtagung der DGHWi: “Forschende Praxis als Hebammenkunst”. DEUTSCHE HEBAMMEN ZEITSCHRIFT 2014. 66 (5): 66–68 
Literatur

Birthplace in England Collaborative Group: Perinatal and maternal outcomes by planned place of birth for healthy women with low risik pregnancies: the Birthplace in England national prospective cohort study. BMJ; 343:d7400. www.bmj.com/content/343/bmj.d7400 (letzter Zugriff: 26.3.2014) (2011)

Hannah, M. E; Hewson, W.J.; Hannah, S.: Planned cesarean section versus planned vaginal birth for breech presentation at tem: A randomized multicenter trial. Term Breech Trial Collaborative Group. In: Lancet. 356: 1375–1383 (2000)

Informationen über die Life Study: www.lifestudy.ac.uk/homepage (letzter Zugriff) 26.3.2014

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