Ein Kind wird in einem idyllischen Dorf in den Bergen geboren. Nach Begutachtung seines äußeren Genitals werden Untersuchungen angestellt, woraufhin Arzt und Hebamme den Eltern erklären, dass ihr Kind intersexuell und gesund sei. Sie machen deutlich, dass keine medizinischen Interventionen zur reinen Geschlechtszuweisung getroffen werden dürfen – diese Entscheidung liege bei ihrem Kind. Ohne seine Zustimmung würden diese Eingriffe eine Menschenrechtsverletzung darstellen. Damit hat der Vater allerdings zu kämpfen, da er sich dem Druck des (familiären) Umfelds ausgesetzt sieht, ein »normal« aussehendes Kind aufzuziehen.
Vielleicht haben auch einige Hebammen vor kurzem die Folge »Eindeutig uneindeutig« der ZDF-Serie »Lena Lorenz« gesehen? Diese Folge ist nicht nur bemerkenswert, weil die wichtige Information zu Selbstbestimmung über den eigenen Körper und das Recht auf körperliche Unversehrtheit von jungen Patient*innen vermittelt wird, sondern weil sie auch eines veranschaulicht: den Mangel an sensibilisierter Gesundheits-Versorgung und Betreuung, wenn es um unabhängige Peer-Beratung, psychosoziale Begleitung und spezifische Berufsgruppen geht.
Im Rahmen meines Engagements für VIMÖ (Verein Intergeschlechtlicher Menschen Österreich) gebe ich Workshops und halte Vorträge unter anderem für diese Berufsgruppen. Dort begegnen mir praktizierende und werdende Hebammen, die noch nie davon gehört haben, dass Geschlecht nicht nur weiblich oder männlich ist. Mit »weiblich« und »männlich« meine ich alles, was wir gelernt haben, damit voneinander komplett abgegrenzt zu assoziieren: innere und äußere Geschlechtsorgane, Geschlechtsdrüsen, die Lage der Harnröhrenmündung, Chromosomen und andere genetische Eigenschaften, Geschlechtshormone, sekundäre Geschlechtsmerkmale. All diese Faktoren sind Teil des körperlichen Geschlechts und können einzeln oder in Kombination anders als das bekannte Schema sein.
Eines von 500 Neugeborenen
Der Begriff »intergeschlechtlich« beschreibt auf entpathologisierende Weise vielfältige Variationen von körperlichen Geschlechtsmerkmalen. Diese sind in der Medizin als Intersexualität, VdG (Varianten der Geschlechtsentwicklung), DSD (Disorders/Differences of Sexual Development) beziehungsweise als zahlreiche verschiedene Diagnosen im internationalen Krankheitsindex der WHO bezeichnet.
Wenn man alle bekannten Variationen einschließt, kann man von mindestens 1,7 % der Menschen ausgehen, die sich in diesem Spektrum befinden. Bei den meisten wird es erst rund um die Pubertät bekannt. Bei circa einem von 500 Neugeborenen wird es rund um die Geburt bereits ersichtlich und schon während der Schwangerschaft kann dies bei Ultraschall-Untersuchungen thematisiert werden.
»Korrektur« als Unterstützung?
Eltern, die ein intergeschlechtliches Kind erwarten oder bekommen haben, trifft diese Diagnose in der Regel wie aus dem Nichts. Sie befinden sich rund um die Geburt in einer besonders vulnerablen Situation. Die ärztliche Mitteilung über ihr Kind ist eher problembehaftet als freudig-positiv: Man fixiert sich auf ein großes Maß an Untersuchungen, um rasch medizinische Lösungen, also »korrektive« Behandlungen anzubieten. Diese Abläufe können Stress erzeugen.
In erster Linie wollen Eltern die Sicherheit, dass ihr Kind wohlauf und gesund ist. Hauptsächlich über Diagnosen, Störungen, Fehlbildungen, Anomalien und Ähnliches zu sprechen, vermittelt das Gegenteil. Die Begriffe »normal«, »unterentwickelt«, »abweichend«, »nicht richtig« suggerieren Krankheit und dringenden Handlungsbedarf. So kann es auch dazu kommen, dass Eltern in ihrer Überforderung mit der völlig unerwarteten Situation darauf drängen, dass ihr Kind geschlechtszuordnende Behandlungen bekommt.
Bei bestimmten Diagnosen, die in der Schwangerschaft schon zu erkennen sind, wird sogar massiv zum Abbruch geraten.
Von der Aufklärung zur Selbstbestimmung
Doch die gute Nachricht ist: Die Schwangerschaft und Geburt eines Kindes mit einer Variante der Geschlechtsentwicklung ist kein medizinischer Notfall! Sofern nicht eine Salzverlustkrise wie bei einem Adrenogenitalen Syndrom (AGS) verhindert werden oder bei funktioneller Blockade der Harnabfluss ermöglicht werden muss, gibt es keine Eingriffe, die sofort nötig wären. Das heißt, die medizinische Indikation zu Behandlungen darf sich hier nur auf funktionell lebensnotwendige Maßnahmen beschränken. Operative und hormonelle Eingriffe, die ein binäres Geschlecht (männlich oder weiblich) zuweisen sollen, dürfen nicht ohne die freiwillige, persönliche und vollumfassend aufgeklärte Zustimmung der betroffenen Person stattfinden. Diese Entscheidungen kann sie aber erst begreifen und treffen, wenn sie älter ist. Es geht hierbei schließlich um einen ganz intimen Bereich und schwerwiegende Eingriffe, die nicht rückgängig zu machen sind. Laut der Schweizer Studie »Shaping Parents« würde die Mehrheit der Eltern einem nicht notwendigen, geschlechtsnormierenden Eingriff an ihren Kindern nach einer medizinischen Aufklärung im klinischen Setting zustimmen (Streuli et al. 2013). Dagegen würde sich die Mehrheit von Eltern anders entscheiden, wenn sie außerhalb der Klinik psychosozial eingebettete Beratung erfahren haben. Ausschlaggebend sind also durchgehend soziale Gründe, warum Eltern die Geschlechtsmerkmale ihres Kindes anpassen wollen: Sie sorgen sich, dass das Kind Hänseleien ausgesetzt wäre und ausgegrenzt würde. Aber auch das eigene Ansehen in der Gemeinschaft können sie als gefährdet sehen.