Die Lunge muss atmen lernen
Die unreifen Organe der Frühgeborenen können zu verschiedenen Problemen führen. Besonders wichtig und überlebensentscheidend ist das Ausmaß ihrer Lungenreife. Nach der Geburt werden die Lungenbläschen beim reifen Neugeborenen normalerweise durch den Surfactant-Stoff unter Spannung gehalten, damit ein Gasaustausch erfolgen kann. Das sogenannte Surfactant, eine oberflächenaktive Substanz, besteht aus verschiedenen Phospholipiden und wird in den Pneumozyten vom Typ II gebildet. Es reduziert die alveoläre Oberflächenspannung und trägt damit zur Stabilität des Alveolarsystems bei. Auf diese Weise wird ein intermittierender Alveolarkollaps während der Exspiration verhindert (Wirbelauer & Speer 2009; Gleason & Juul 2008).
Obwohl sich die Surfactant-Bildung bis zur 34. Schwangerschaftswoche deutlich verstärkt, reicht der absolute Surfactant-Gehalt bei Frühgeborenen meistens noch nicht aus. Folglich kann sich die Lunge nicht ausreichend entfalten. Die Lungen extrem unreif geborener Kinder bilden selbst zu wenig Surfactant, zusätzlich wird dieser durch Infektionen oder Schock leicht zerstört. Eine daraus entstehende Komplikation bei Frühgeborenen ist das Atemnotsyndrom (englisch: Respiratory Distress Syndrome = RDS).
Diese Erkrankung tritt vor allem bei Frühgeborenen unter der 33. Schwangerschaftswoche auf, da deren Lunge nicht ausgereift ist und Surfactant meist erst ab der 34. Schwangerschaftswoche in ausreichenden Mengen produziert wird. Frühgeborene unter der 28. Schwangerschaftswoche entwickeln in 60 bis 80 % ein Atemnotsyndrom (Gleason & Juul 2008). Diese Erkrankung stellt die häufigste Todesursache der Neonatalzeit dar.
Therapeutisch begegnen Ärzte und Ärztinnen dem Atemnotsyndrom bei Frühgeborenen auf zwei Wegen: Erstens erfolgt bei einer drohenden Frühgeburt eine fetale Lungenreifungsinduktion, indem sie der Schwangeren Glukokortikoide verabreichen, um die strukturelle und biochemische Reifung der fetalen Lunge zu fördern. Bei extrem unreifen Frühgeborenen unter der 25. SSW können sie das Auftreten eines Atemnotsyndroms durch die Gabe von Glucocorticoiden vor der Frühgeburt meist nicht ganz verhindern, aber zumindest die Schwere vermindern (Roberts et al. 2017). Zweitens können sie das Atemnotsyndrom durch die postnatale Behandlung des Frühgeborenen selbst mittels intratrachealer Gabe von Surfactant therapieren. Die klinische Diagnose des Atemnotsyndroms kann durch eine Röntgenaufnahme des Thorax erfolgen. Dank der Verfügbarkeit von Surfactant und schonender Beatmungsformen wie der sogenannten CPAP-Therapie (continuous positive airway pressure) mit speziell für Frühgeborene konstruierten Geräten werden die meisten der dieser Kinder heutzutage kaum oder nur wenige Tage beatmet. Diese neuen Behandlungskonzepte des Atemnotsyndroms zielen darauf ab, sekundäre pulmonale Gewebsschäden wie zum Beispiel die Bronchopulmonale Dysplasie zu vermeiden (Aldana-Aguirre et al. 2017).
Anpassungsprozesse des Herzens
Auch Herzanomalien können bei Frühgeborenen vorkommen, beispielsweise Vorhof- und Ventrikelseptumdefekte oder offener Ductus. Komplikationen nach der Geburt sind vor allem auf eine physiologische Kurzschlussverbindung zurückzuführen: den persistierenden Ductus arteriosus Botalli (PDA). Beim Ductus arteriosus Botalli handelt es sich um eine Verbindung zwischen der Aorta und der Arteria pulmonalis. Normalerweise verschließt er sich kurz nach der Geburt. Das Offenbleiben des Ductus arteriosus nach der Geburt führt zu Störungen des kindlichen Blutkreislaufes. Wie bei der Lunge ergibt sich auch hier ein inverser Zusammenhang: Je unreifer das frühgeborene Kind bei der Geburt ist, umso größer ist das Risiko, dass der Ductus sich nicht spontan verschließt, sondern persistiert (PDA). Denn die Muskulatur des Ductus arteriosus ist noch sehr unreif und reagiert deutlich schwächer auf die postnatalen Kontraktionsreize (Letshwiti et al. 2017; Schneider & Moore 2006; Elsayed & Fraser 2017).
Kommt es zusätzlich bei einem Frühgeborenen zu einem erhöhten Kohlendioxidgehalt im Blut, zur Hypoxie und respiratorischer Azidose, so ist der Kontraktionsreiz zum Ductusverschluss nicht gegeben.
Mit der gestiegenen Überlebensrate kleiner Frühgeborener hat der PDA immer größere klinische Bedeutung gewonnen. 20 bis 30 % der Frühgeborenen mit einem Geburtsgewicht unter 1.500 Gramm entwickeln einen symptomatischen PDA (Schneider & Moore 2006; Elsayed & Fraser 2017). Über den offenen Ductus arteriosus fließt Blut aus der Aorta in die Pulmonalarterien zurück und wird einer pulmonalen Re-Zirkulation zugeführt (Links-Rechts-Shunt). Dadurch wird die Lunge nach der Geburt mit Blut überflutet, wohingegen die Durchblutung anderer Organe vermindert ist, so etwa des Gehirns, der Nieren und des Gastrointestinaltraktes. Die Folgewirkungen sind abhängig vom Kaliber des Ductus. Bleibt der Links-Rechts-Shunt, kommt es weiter zur pulmonalen Hypertonie, die das Krankheitsbild zusätzlich verschlechtert.
Weitere Komplikationen eines PDA sind die Gefahr einer Retinopathie durch die massiven Sauerstoffschwankungen sowie eine Unterversorgung des Magen-Darm-Traktes mit Blut. Dies kann die klinische Situation des Kindes zusätzlich verschlechtern.
Dieser Teufelskreis muss therapeutisch durchbrochen werden. Zu den Behandlungsmethoden gehören die medikamentöse Induktion des Ductusverschlusses und der kardiochirurgische Eingriff. Für geübte Hände ist das kein großer Eingriff, aber doch eine Operation für diese vulnerablen Kinder! Die Diagnose wird mit Hilfe der Echokardiografie gestellt.
Das Gehirn reagiert empfindlich auf Blutungen
Je unreifer Frühgeborene sind, desto größer ist ihre Sterblichkeit und desto häufiger treten bedrohliche Krankheiten und Komplikationen auf. Zu befürchten sind besonders Schädigungen des Gehirns, die zu bleibenden Behinderungen und Dauerschäden führen können. Das Gehirn des Feten vervierfacht seine Größe zwischen der 24. und 40. Woche (Hack et al. 1989; Sancak et al. 2016). Somit ist das Gehirn eines Frühgeborenen deutlich kleiner, weniger entwickelt und wesentlich empfindlicher als das eines voll ausgetragenen Kindes. Aufgrund der Entwicklung ist es vor allem zwischen der 23. und 28. Schwangerschaftswoche sehr vulnerabel für Blutungen bei peri- und/oder intraventrikuläre Hämorrhagien und Durchblutungsstörungen wie periventrikuläre Leukomalazien. Mit zunehmender Unreife steigt das Risiko für Hirnschäden (Hack et al. 1989; Sancak et al. 2016; Szpecht et al. 2017).
Ein Grund für dieses hohe Risiko ist, dass die Blutgefäße eines frühgeborenen Kindes teilweise noch sehr fragil sind und leicht reißen können. Die genaue Pathogenese von intrakraniellen Hirnblutungen bei Frügeborenen ist äußerst komplex und bis heute noch nicht vollständig aufgeklärt. Als auslösende Hauptrisikofaktoren für Hirnblutungen gelten gegenwärtig die perinatale Asphyxie und die Unreife des Frühgeborenen.
Das Risiko der Organunreife besteht in einer strukturellen Gegebenheit, der subependymalen germinalen Matrix (Keimschicht), die sich zum Zeitpunkt der Geburt in der Regel fast vollständig zurückgebildet hat. Diese germinale Matrix ist eine Ansammlung von kleinen Gefäßen, die sich unterhalb der beiden Seitenventrikel befindet. Sie ist bei Frühgeborenen besonders kritisch. Von hier gehen die für das Frühgeborene typischen intrazerebrale Blutungen aus. Die Blutung kann auf das Keimlager beschränkt bleiben, ins Hirnkammersystem einbrechen und/oder weitere Bereiche des Hirnparenchyms betreffen (Szpecht 2017).
Weitere riskante Faktoren für das Entstehen einer Hirnblutung sind eine Hypothermie, Hyperkapnie, Hypoxie, eine Azidose sowie Veränderungen der zerebralen Durchblutung und Schwankungen des zerebralen Blutflusses. Bis zu 90 % aller Hirnblutungen treten in den ersten drei bis fünf Lebenstagen auf.
Die Einteilung der Hirnblutungen wird in den Stadien 1 bis 3, plus Parenchymblutung, vorgenommen und erfolgt durch Ultraschalluntersuchungsbefunde. Je nach Schweregrad können Hirnblutungen asymptomatisch verlaufen, jedoch bestimmt der Schwergrad der Blutung die Prognose. Leichte Blutungen vom Stadium 1 bis 2 können ohne Folgen ausheilen und haben eine günstigere Prognose. Ab einem Stadium 3 können die Kinder behindert bleiben, die Hirnblutungen verursachen vorwiegend motorische Defizite. Es sind untypische Symptome (ungesundes Aussehen zum Beispiel) oder manchmal gar keine Anzeichen, die auf eine Hirnblutung hindeuten. Frühgeborene bekommen in der ersten Lebenswoche alle zwei Tage eine Schädelsonografie, um Hirnblutungen auszuschließen – das ist als Screening international so etabliert. Eine Therapie ist nicht möglich. Prävention ist das Wichtigste!
Die Augen sind durch Sauerstoff gefährdet
Die Retina und deren Versorgung mit Gefäßen entwickeln sich beim Feten während der Schwangerschaft unter den Bedingungen einer physiologischen Hypoxie (Sauerstoffmangel). Diese Hypoxie stimuliert das Wachstum der Retinagefäße, das normalerweise erst bei der Geburt abgeschlossen ist. Zum normalen Geburtstermin ist das Gefäßnetz am Augenhintergrund in der Regel fertig ausgereift und die plötzlich steigende Sauerstoffkonzentration beeinflusst die Gefäßbildung nicht mehr. Reife Neugeborene entwickeln eine Retinopathie in der Regel nicht, auch wenn sie mit Sauerstoff behandelt werden müssen, da die Gefäßversorgung der Retina zum Zeitpunkt der Geburt vollständig abgeschlossen ist (Quimson 2015; Behrman & Butler 2007).
Extrem unreife Frühgeborene sind besonders durch eine Schädigung der Retina gefährdet, denn in diesem frühen Stadium ist die Entwicklung der Retina noch nicht abgeschlossen und für schwere Beeinträchtigung gefährdet. Die vorzeitige Geburt unterbricht die physiologische Entwicklung der Netzhaut. Eine erhöhte Konzentration von Sauerstoff in der Atemluft, zum Beispiel bei einem Atemnotsyndrom in den ersten Lebenstagen, kann während dieser kritischen Phase das Wachstum der Blutgefäße im Auge pathologisch anregen. Einerseits kann es zu einer Unterbrechung der Gefäßbildung in der Retina, andererseits zu einer vermehrten Entstehung von krankhaften Gefäßen kommen. Bis zu etwa acht Wochen nach der Geburt kann es zu einer überschießenden und unkontrollierten Gefäßneubildung kommen.
Diese Netzhauterkrankung wird als Retinopathia praematurorum (ROP) bezeichnet. Sie ist die Konsequenz einer längerfristigen Sauerstoffgabe (Dauer und Intensität sind wichtig), vermehrter Infektionen, Blutdruckschwankungen und schwerer Apnoe-Bradykardien in der Perinatalperiode. Sauerstoffradikale schädigen die retinalen Blutgefäße. Eine Neovaskularisierung der Netzhautperipherie und des Glaskörpers führt zu Blutungen, die die Sehfähigkeit beeinträchtigen. Dies hat im schlimmsten Fall eine Netzhautablösung zur Folge, das heißt Blindheit (Quimson 2015). Je unreifer ein Frühgeborenes ist, umso höher ist auch das Risiko für eine Retinopathie preamatorum, auch wenn keine künstliche Beatmung notwendig ist.
Sinnvoll ist ein ophthalmologisches Screening in der Regel bei Frühgeborenen ab der sechsten postnatalen Woche beziehungsweise ab einem postmenstruellen Alter von 31 Wochen. Die Screeninguntersuchungen sind essenziell, um bei den Kindern schwere Verluste der Sehschärfe und Erblindungen zu verhindern. Die Prophylaxe der Frühgeborenen-Retinopathie besteht darin, Risikofaktoren wie Langzeitbeatmung und unkontrollierter Sauerstoffzufuhr zu vermindern oder Infektionen sowie Blutdruckschwankungen zu vermeiden. Die Therapie hängt von Krankheitsstadium und Lokalisation der Schädigung ab.
Schwere Infektionen vermeiden
Durch die Organunreife haben Frühgeborene ein unvollständig entwickeltes Immunsystem. So sind sie ständig durch schwere Infektionen bedroht. Zusätzlich können durch die intensivmedizinischen Maßnahmen wie Beatmung, periphere- und zentrale Zugänge leicht Keime in den Körper der Kinder eindringen. Eine Hyperbilirubinämie tritt bei Frühgeborenen ebenfalls deutlich häufiger auf, da ihre Leber noch sehr unausgereift ist und die normalen Bilirubinmengen nicht bewältigen kann. Hier kann eine Phototherapie durchgeführt werden. Weiter durch die Organunreife betroffen sind:
- die Körpertemperaturregulation
- die Haut als größtes unreife Organ des Frühgeborenen: Sie macht circa 13 % des Körpergewichtes aus und bietet unzureichenden Schutz vor Toxinen und Infektionen.
- der Verdauungstrakt, der weder die normale Nahrungskapazität noch Resorptionsfähigkeit und Motilität besitzt.
Ein weiterer Faktor, der das Leben außerhalb des Mutterleibs für Frühgeborene erschwert, ist der Energiehaushalt aufgrund unzureichender Glykogenvorräte. (Behrman & Stith 2007).
Da sich das Immunsystem Frühgeborener noch im Aufbau befindet, gelten aus diesem Grund besondere hygienische Anforderungen für die neonatologische Versorgung; so sind Frühgeborenen-Intensivstationen mit zahlreichen Schutzvorrichtungen gegen Infektionen versehen. Eine frühzeitige Ernährung mit Muttermilch spielt eine wichtige Rolle für die Stärkung des Immunsystems, für die Abwehr von Krankheitserregern und für die Prävention gefährlicher Darmerkrankungen. Sie enthält viele wichtige Abwehrstoffe für das noch schwache Immunsystem und kann die Krankheitsabwehr zusätzlich begünstigen.