»Das Schönste ist für mich, dass ich meiner Tochter jetzt vorlesen kann«, sagt Carola auf die Frage, welche Vorteile ihr die Fähigkeit gebracht hat, lesen und schreiben zu können.
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Die Zahl der Mütter, die weder lesen noch schreiben können, ist größer als vielfach angenommen. Diese Informationsbarriere bedeutet oftmals eine schlechtere Betreuung, nicht nur weil informierte Entscheidungen schlecht möglich sind. Auch Stigmatisierung spielt eine Rolle. Es besteht Handlungsbedarf. Denn die Aufbruchsituation rund um Schwangerschaft und Geburt bietet auch eine Chance zum Neustart und zum Lernen.
Schwangerschaft und Geburt stellen im Leben von Eltern eine große Herausforderung dar. Ab dem Moment, wo der zweite rosa oder hellblaue Balken im Schwangerschaftstest erscheint, sind sie für ihr Kind verantwortlich. Um dieser neuen Verantwortung von Anfang an gerecht zu werden, müssen sich Eltern jede Menge Wissen aneignen und viele Entscheidungen treffen. Doch was ist, wenn eine Schwangere nur kurze Sätze lesen kann und nicht richtig versteht, was Infoflyer raten? Was ist, wenn sie weder die Anträge für das Mutterschaftsgeld selbst ausfüllen noch die Aufklärungsformulare verstehen kann? Dies sind keine Einzelfälle, im Gegenteil. In Deutschland kann jede achte erwachsene Person nicht ausreichend lesen und schreiben. Wie sehr sich dies auf die Arbeit von Hebammen und Familienhebammen auswirkt, wurde bislang unterschätzt.
Hebammen betreuen immer wieder Frauen, die weder den eigenen Mutterpass lesen noch im Internet recherchieren können, wenn ihnen typische Schwangerschaftsbeschwerden zusetzen. Betroffen sind nicht nur Frauen mit Migrationshintergrund, auch wer als Herkunftssprache Deutsch spricht und im Erwerbsleben steht, kann öfter als gedacht die Broschüren für Eltern im Wartezimmer oder auch die Einwilligung im Kreißsaal nicht verstehen. Die Angst, für dumm gehalten zu werden, ist meist so groß, dass sich die betroffenen Frauen – und natürlich auch die werdenden Väter – nicht »outen« und ihre Chancen auf Hilfe und Unterstützung für sich und ihr Baby verpassen. Scham und als ausgrenzend empfundene Reaktionen spielen häufig eine Rolle, wenn die Probleme bei Hebammen oder Gynäkolog:innen nicht offen angesprochen werden.
Schwierigkeiten lassen sich leicht vertuschen
Ob eine Frau lesen und schreiben kann, spielt rund um die Geburt eine scheinbar untergeordnete Rolle. Hebammen und Gynäkolog:innen vermitteln wichtige Informationen häufig mündlich, vor allem im Kreißsaal. Erst im nächsten Schritt wird die Information schriftlich zur Unterschrift ausgehändigt, zum Beispiel die Einwilligung zum Kaiserschnitt oder eine Eltern-Broschüre. Dabei können Schwangere oder junge Mütter leicht vertuschen, dass sie nicht lesen beziehungsweise den Text nicht verstehen können.
Wenn Deutschkenntnisse lückenhaft sind, sieht die Situation anders aus, aber auch hier fällt die fehlende Lesekompetenz kaum auf. Denn Frauen mit Migrationshintergrund, die kaum Deutsch sprechen, kommen häufig in Begleitung einer Person, die übersetzen soll, oder sie greifen zur Dolmetscherfunktion ihres Handys. Hinzukommt, dass sich Hebammen grundsätzlich um eine leicht verständliche Sprache – die sogenannte »Einfache Sprache« – bemühen. Laut Beratung des Deutschen Hebammenverbandes (DHV) sollen sie ohnehin immer wieder nachfragen, was von ihren Informationen tatsächlich bei den Frauen angekommen ist. Insofern tritt in der Geburtshilfe die »Buchstabenkompetenz« der betreuten Frauen meist hinter dem gesprochenen Wort oder erklärenden Gesten zurück. Aber dies löst nicht das Problem der behandelnden Hebammen und auch nicht der betroffenen Mütter oder Väter.
Lesen können wird vorausgesetzt
Erste Studien zeigen, wie sehr die Probleme beim Lesen und Schreiben das Erleben der Frauen von Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett belasten (Heyrock, noch unveröffentlich – siehe Interview). Anders als in früheren Zeiten wird die neue Lebenssituation nur selten durch die mündliche Weitergabe von Erfahrungen der Eltern und Großeltern begleitet. Es ist heute nicht mehr selbstverständlich, dass junge Mütter und Väter einen fürsorglichen Umgang mit sich selbst als Mutter und mit einem Säugling in ihrer näheren Umgebung erleben und damit erlernen dürfen, auch ohne lesen und schreiben zu können. Stattdessen sind das Internet mit einschlägigen Webseiten und Social-Media-Kanälen zu den Hauptquellen für Informationen über Schwangerschaft, Geburt und die Zeit danach geworden.
Obwohl leicht konsumierbare Videos, Tutorials und Reels zunehmend an Reichweite gewinnen, sind dennoch die meisten offiziellen und damit gut geprüften Informationsquellen in der Geburtshilfe textbasiert und damit für eine große Gruppe an Menschen nicht verfügbar. Zum Beispiel enthält das gelbe Untersuchungsheft zur Kindergesundheit ebenso wie der Mutterpass keine zusätzliche Seite für Eltern, die nicht lesen und schreiben können. Wie weitreichend die negativen Folgen dieser nicht-inklusiven Kommunikation möglicherweise sind, wurde als blinder Fleck der Geburtshilfe bislang nicht umfassend erforscht.
Über die erste Zeit als Familie hinaus macht sich die fehlende Lese- und Schreibfähigkeit langfristig durch eine eingeschränkte Gesundheitskompetenz und durch finanzielle Schwierigkeiten in den Familien bemerkbar. Offizielle Studien zeigen, dass nicht gut lesen und schreiben zu können das Leben in unterschiedlichsten Bereichen erschwert (Grotlüschen et al., 2012; Grotlüschen et al., 2018; PIAAC Studie, 2012; Schmidt-Hertha, 2014). Aber nicht nur für die Eltern, sondern auch für das Kind. Denn in Deutschland hängen die schulischen Erfolge stark mit dem sogenannten »Bildungsniveau« der Eltern zusammen.
Doch was ist, wenn den Eltern das Lesen oder Schreiben schwerfällt? Sie geben ihre Leseschwierigkeiten im Sinne der sozialen Vererbung sehr oft an die nächste Generation weiter. Aus diesen Gründen ist es so wichtig, diese fehlende Basiskompetenz aus der Tabuzone herauszuholen, um den betroffenen Frauen, ihren Partner:innen und Kindern frühzeitig Hilfe und Unterstützung für einen Neustart als Lesende anbieten zu können.
Die Abwärtsspirale außer Kraft setzen
Wie sich eine geringe Lese- und Schreibkompetenz individuell und in der Phase der Familiengründung auswirkt, hängt von zahlreichen Faktoren ab und sicherlich auch von dem Glück, das Problem offen ansprechen zu dürfen. In der Geburtshilfe haben Lese- und Schreibschwierigkeiten oft zur Folge, dass sich eine Abwärtsspirale entwickelt und sich die Nachteile potenzieren. Es fängt damit an, dass die Frauen zum Beispiel die angebotene Vorsorge bei Hebammen zu selten oder nicht wahrnehmen. Oft beherzigen sie wichtige Ratschläge nicht, weil sie sich nichts notieren können. Aus Scham zu fragen, was man eigentlich hätte nachlesen können, stellen viele Betroffene keine Fragen, auch wenn es brisant ist. Auf diese Weise wird das Prinzip der Vorbeugung in der Geburtshilfe ausgehebelt. Außerdem setzen sich die betroffenen Eltern dadurch nicht dialogisch mit dem Fachpersonal oder Themen auseinander. Gerade rund um die Geburt und für die Versorgung des Neugeborenen wäre es aber besonders wichtig, aktiv Fragen stellen zu können und durch kompetente Ratschläge von Hebammen betreut zu werden, statt von Tik-Tok-News und derartigen Kanälen.
Welches Signal geht von unverständlichen Materialien für betroffene Mütter und Väter aus? Höchstwahrscheinlich verstärkt diese Form der nicht oder schlecht verständlichen schriftlichen Ansprache noch das Gefühl der Peinlichkeit, nicht mithalten zu können. Als Folge steigt möglicherweise in einer Familie der Druck, zum Beispiel wenn die Schwangerschaft Probleme bereitet, das Kind viel schreit oder das Geld knapp wird. Spätestens in diesem Moment wäre es wichtig, das vermeintliche Defizit mutig und offen anzusprechen und die Abwärtsspirale in einen Aufwärtstrend umzuwandeln.
Fakten und Fachbegriffe
Was etwas stigmatisierend als »funktionaler Analphabetismus« bezeichnet wird, heißt heute korrekt, aber noch akademischer »geringe Literalität«. Beides bezeichnet die Tatsache, dass jemand trotz grundlegender Schulbildung nicht oder nicht ausreichend lesen oder schreiben kann. Ein Blick in die Statistik macht deutlich, dass mehr Menschen betroffen sind als meist vermutet. Rund 12 % der Erwachsenen in Deutschland können nur bis zur Ebene einfacher Sätze lesen und schreiben (Alpha-Level 1 bis 3).
Rechnet man noch diejenigen dazu, die eine sehr fehlerhafte Rechtschreibung haben (Alpha-Level 4), sind das zusammen mehr als ein Drittel der Bevölkerung. Diese relativ große Personengruppe hat Schwierigkeiten, wenn es um textbasierte Informationen geht. Auch wenn es bisher noch kaum zur Kenntnis genommen wird, die Geburtshilfe ist von diesem gesellschaftlich brisanten Problem in höherem Maße betroffen, als bisher gedacht.
Quelle: https://www.mein-schlüssel-zur-welt.de/de/helfen/zahlen-und-fakten/zahlen-und-fakten.html
Offene Kommunikation
Erst wenn die fehlende Lese- und Schreibkompetenz konkret angesprochen wird, öffnet sich die Chance auf eine Lösung. Die Geburt eines Kindes kann Eltern möglicherweise motivieren, einen Neustart zu wagen und einen der kostenlosen Alphabetisierungskurse zu besuchen. Vielleicht gelingt das nicht im Wochenbett und im ersten Jahr, aber möglicherweise mit dem Beginn der Kindergartenzeit oder der Grundschule.
Hebammen kommt hier möglicherweise eine Schlüsselrolle zu, denn sie bauen eine vertrauensvolle Bindung zu den Eltern auf und können gleichzeitig anhand weniger Anzeichen erkennen, wie es um die Lese- und Schreibkompetenz steht. Um dies kompetent und wertschätzend anzusprechen, ist allerdings Zeit notwendig und eine Sensibilität für das Thema, denn besonders Frauen mit Herkunftssprache Deutsch sprechen ihr Problem selten aktiv an.
Umgekehrt bedeutet das Verheimlichen ebenso wie die offene Bitte um Unterstützung im medizinischen Alltag von Hebammen eine tatsächliche oder auch emotionale Mehrarbeit. Eine Studie der Universität Hamburg von 2015 zeigte, dass es im professionellen Setting verschiedene Typen von Reaktionen gibt. Obwohl nicht für die Geburtshilfe überprüft, lässt sich vermuten, dass Hebammen ähnlich reagieren. Man kann im Kontakt mit »gering Literalisierten« verunsichert oder genervt sein, resignieren, wenn Schwangere es nicht zugeben möchten, sich kümmern oder das Problem tabuisieren. Jede dieser vier typischen Reaktionen stellt für Hebammen eine Mehrarbeit dar, die im Personalschlüssel berücksichtigt werden sollte, aber auch in der Gestaltung von Info-Materialien und Webseiten.
Miteinander reden als Informationsquelle
Es ist sinnvoll und inklusiv, in der geburtshilflichen Versorgung mehr Gesprächsformate einzusetzen, um Informationen zu vermitteln, zum Beispiel Erzählcafés zur Geburtsvorbereitung und Kreißsaal- Führungen. Die bundesweite, gemeinnützige Erzählcafé-Aktion bietet Hebammen und Familienhebammen, die das Format für ihre Arbeit nutzen möchten, seit zehn Jahren kostenlose Unterstützung durch Methodenmaterial, Coaching und Pressearbeit an.
Mehr Informationen: > www.erzaehlcafe.net
Verständlich informieren
Damit Broschüren für Schwangere oder Internetseiten von Hebammenpraxen und Geburtskliniken, die Einwilligungen beispielsweise zur PDA oder der Mutterpass auch für Menschen mit eingeschränkter Schriftsprachkompetenz verständlich sind, sollte es immer eine Version in Einfacher Sprache beziehungsweise eine Vorlesefunktion geben. Gerade in unserer »bildmächtigen« Zeit ist es besonders wichtig, die gewählte Bildsprache und -aussage kritisch zu prüfen.
Obwohl in Deutschland rund 6,2 Millionen Erwachsene nicht ausreichend gut lesen und schreiben können, bilden solche Angebote in Einfacher Sprache in der Geburtshilfe noch immer die Ausnahme. Zum Beispiel gibt es die Broschüre des Deutschen Hebammen Verbandes »Stillen ohne Worte«, die für die Arbeit mit geflüchteten Frauen entwickelt wurde (DHV, 2017). Anders sieht es im Bereich der Familienbildung aus. Hier stehen mittlerweile zahlreiche Angebote zur Verfügung, die Hebammen im Wochenbett empfehlen können, beispielsweise kurze Videos der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, die sich mit Themen wie Ernährung von Kleinkindern befassen.
Interview mit Merle Heyroc
»Über den Kopf hinweg …«
Merle Heyrock schreibt ihre Doktorarbeit am Institut der Pädagogik, Abteilung Sozialpädagogik, an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel über »Die Wahrnehmung der eigenen Handlungsfähigkeit von Frauen mit Alphabetisierungsbedarf im Bereich der reproduktiven Gesundheit.«
Stefanie Schmid-Altringer: Wie kamen Sie auf das Thema Ihrer Dissertation?
Merle Heyrock: Von Oktober 2020 bis Dezember 2023 habe ich im BMBF-geförderten Projekt »DiGeKo-Net« an der Fachhochschule Kiel als wissenschaftliche Mitarbeiterin gearbeitet. Dort ging es um die Gesundheitskompetenz von Menschen mit geringer Literalität. Während des Projekts ist mir aufgefallen, dass wir Mütter und Schwangere im Projekt kaum erreichen, da sie häufig durch die Care-Arbeit sehr stark eingebunden sind und somit nicht an den Interviews teilnehmen konnten. Also habe ich mir zum Ziel gemacht, sie in meinem Dissertationsprojekt in den Fokus zu stellen.
Was ist das Besondere an der Gruppe der (werdenden) Mütter, die nur eingeschränkt oder nicht lesen und schreiben können?
Gerade im Bereich Schwangerschaft und Geburt sehe ich besondere Schwierigkeiten, da hier unzählige Entscheidungen getroffen werden müssen, die teilweise auch kontrovers diskutiert werden. In anderen Forschungen zu Schwangerschaft sieht man, dass Frauen viel lesen und dabei »so viele Informationen wie möglich einholen« und das Strategien sind, um diese Entscheidungen zu bewältigen (Eckardt, 2020). Diese stehen den betroffenen Frauen nicht zur Verfügung, aber dennoch bewältigen sie die Herausforderung. Mit den Interviews will ich in Erfahrung bringen, wie diese Bewältigung aussieht.
Die betroffenen Frauen haben sicherlich nicht nur »Defizite«, sondern auch Ressourcen. Welche sind das?
Mir ist es wichtig, das Erleben der Frauen nicht sofort zu problematisieren. Viele der befragten Frauen haben unfassbar viel Wissen, Kompetenzen und Strategien zur Bewältigung von Schwangerschaft und Geburt. Meine Studie soll unter anderem erfragen, ob zu Gesundheitsbildung und Informationsbeschaffung mehr gehört als Lesen und Schreiben. Trotzdem machen die Interviews auf Missstände in der Geburtshilfe aufmerksam, wie zum Beispiel zu wenig Zeit bei Aufklärungsgesprächen, Entscheidungen, die »über den Kopf weg« getroffen werden und auch negative Reaktionen, wenn deutlich wird, dass Frauen nicht gut lesen und schreiben können.
Wie geht die Geburtshilfe damit um? Gibt es die Chance auf einen »Informed Consent« ohne Lesekompetenz?
Studien zeigen, dass »die meisten Informationen von Behörden, Institutionen und Fachleuten im Gesundheitssystem auf dem Sprachniveau C1 oder höher formuliert sind und nur von 7 % der Adressaten verstanden werden« (Jacobi, 2021). Den Punkt Informed Consent finde ich dabei besonders interessant, denn es stellt sich immer die Frage, inwiefern etwa die Unterschrift einer Erklärung wirklich bezeugt, ob eine Person den Inhalt verstanden hat.
Das Health Literacy Survey Germany (Schaeffer et al., 2021) macht beispielsweise darauf aufmerksam, dass 78,3 % der Menschen mit niedrigem Bildungsniveau eine geringe Gesundheitskompetenz haben. Juristisch gesehen ist das meines Wissens nach eine Grauzone und liegt im Grunde genommen an der Tatsache, wie das Aufklärungsgespräch zwischen Ärztin oder Arzt beziehungsweise Hebamme und Patientin abgelaufen ist und ob überprüft wird, dass die Frauen die Entscheidung wirklich verstanden haben. Das birgt natürlich ein enormes Potenzial für Unsicherheit.
Was hat Sie an den Interviews am meisten berührt?
In meinen Interviews wird deutlich, dass die Frauen vor allem durch und mit Vertrauenspersonen wie Angehörigen und Freundinnen Entscheidungen treffen und auch an Informationen gelangen. Trotz der benannten Missstände haben die befragten Frauen immer noch ein hohes Vertrauen in medizinisches Fachpersonal, wobei nur eine Frau von ihrer Hebamme und einer emotionalen Begleitung gesprochen hat. Den Interviews zufolge stehen »Beziehungsarbeit« und das stetige Herstellen einer vertrauensvollen und wohlwollenden Atmosphäre im Zentrum dessen, was Frauen mit geringer Literalität in der Geburtshilfe brauchen.
Das ist ein schöner Ausblick auf das, was vielleicht alle werdenden Mütter rund um die Geburt ihres Kindes von Hebammen und ärztlichem Personal an Unterstützung benötigen. Danke für das Interview!
Leicht oder Einfach?
Während die Leichte Sprache in erster Linie für Menschen mit kognitiven Problemen gedacht ist, zum Beispiel mit geistiger Beeinträchtigung, richtet sich die Einfache Sprache an Menschen mit begrenzter Lese- und Schreibfähigkeit sowie geringen Deutschkenntnissen. Sie zeichnet sich zum Beispiel durch kurze, einfach verständliche Sätze aus, die in keinem Fall Fremdwörter enthalten.
Erstes Gesprächsangebot: Im Infopaket des BMBF ist für Hebammen ein Plakat enthalten.
Illustration: © BMBF
Kostenloses Infopaket
Das Servicebüro der Infokampagne »Lesen & Schreiben – Mein Schlüssel zur Welt« des Bundesministeriums für Bildung und Forschung verschickt in diesem Jahr an Hebammen ein kostenloses Infopaket. Dazu gehört ein Infoblatt mit den wichtigsten Tipps für eine gelungene Kommunikation mit betroffenen Eltern. Das Infopaket beinhaltet außerdem ein Plakat mit einem Cartoon »Es ist ein A!«.
Dieses Plakat können Hebammen als erstes Gesprächsangebot in ihren Räumen aufhängen. Zusätzlich gibt es ein Haushaltsbuch in Einfacher Sprache sowie Postkarten mit Informationen zu kostenlosen Hilfs- und Lernangeboten.
Bestelladresse: info@mein-schlüssel- zur-welt.de
Aktuell wird in Deutschland an einer speziellen DIN-Norm gearbeitet, die sich an die Leitlinien der internationalen ISO-Norm 24495-1 für Einfache Sprache anlehnt. Dazu gehören grammatikalische, stilistische und typografische Regeln für einfach verständliche Texte, die vier Grundsätze berücksichtigen:
- Vermitteln, was wirklich wichtig ist
- Informationen leicht auffindbar präsentieren
- Verständlich erläuterte Sachverhalte
- Informationen einfach anwendbar.
Wenn Geburtskliniken, Geburtshäuser, Hebammenpraxen oder andere in der Geburtshilfe ihre Webseiten oder Info-Flyer gestalten , sollten sie sich an diesen vier Grundsätzen für eine Einfache Sprache orientieren oder im Zweifel ein Fachbüro damit beauftragen.
Interview mit Belinda
»Im Krankenhaus helfen sie dir fast gar nicht«
Belinda, 35 Jahre, ist Teilnehmerin einer Selbsthilfegruppe in Trier. Sie hat zwei Söhne, 15 Jahre und 2 Monate alt. Seit ihrem zweiten Lebensjahr lebt sie in Deutschland. Ihre Eltern stammen aus Albanien.
Stefanie Schmid-Altringer: Wie kam es, dass Sie nicht oder nicht gut lesen und schreiben können?
Belinda: Früher bin ich in die Schule gegangen und war besser als meine Geschwister. Dann hat mein Bruder Mist gebaut und ich musste mit ihm auf die Sonderschule gehen. Meine Eltern haben mir damit die Zukunft verbaut. Ich hatte auch nie Zeit für die Schule. Als mein großer Sohn auf die Welt kam, war ich 18 und konnte gar nicht lesen und auch meinen Namen nicht schreiben. Deshalb haben sie mir mein Kind weggenommen und in eine Pflegefamilie gebracht. Naja, es gab auch noch ein paar andere Gründe. Ich hatte keine Chance.
Warum können Sie heute lesen?
Ich hatte einen sehr guten Lehrer, der hat mir geholfen. Ich hab auch heute noch Kontakt zu ihm und er ist so etwas wie ein Ersatzvater. Er hat mich aus der Sonderschule geholt und zur Berufsschule gebracht. Ich habe eine Ausbildung angefangen in der Küche. Weil es aber Stress in meiner Familie gab, musste ich mit der Ausbildung aufhören. Mein Lehrer hat mir einen Platz in einer WG besorgt. Dort bin ich dann schwanger geworden. Nachdem sie mir mein Kind weggenommen hatten, ging es mir sehr schlecht. Dann habe ich zu mir gesagt: »Stopp, tu was für dich. Du hast ein Kind auf die Welt gebracht und willst doch, dass es ihm gut geht.« Dann bin ich zur Abendschule gegangen und habe lesen gelernt. Ich wollte beweisen, dass ich nicht zu doof dafür bin. Mit langen Wörtern ist es immer noch schwierig. Schreiben kann ich immer noch nicht.
Wie war es für Sie bei der Frauenärztin und im Krankenhaus während der Schwangerschaft und Geburt?
Es waren bei der Geburt immer Betreuer dabei, sie haben alles ausgefüllt. Das war schlimm für mich, so viele Leute beobachten dich, während ein Betreuer dir vorliest. Eigentlich wollte ich stillen, aber das hat nicht geklappt. Ich kam ins Krankenhaus mit Blutungen und die Betreuer haben mit den Ärzten besprochen, dass ich nicht stillen sollte. Meine Frauenärztin ist aber eine ganz liebe, sie hat mir viel geholfen. Sie hat mir immer alles gut erklärt.
Wie war es bei Ihrem zweiten Sohn, da konnten Sie lesen, aber nicht schreiben, oder?
Ja. In dieser Schwangerschaft habe ich alles allein gemacht, die Betreuer waren nur für Ausnahmen da. Zur Geburt sind mein Freund und eine Freundin mitgekommen.
Wie haben Sie sich informiert, haben Sie die Broschüren im Wartezimmer gelesen?
Die Broschüren habe ich nicht gelesen, hab mit dem Handy gespielt.
Was würden Sie einer Frau raten, die schwanger ist und keine Betreuer hat, aber nicht lesen und schreiben kann?
Es gibt so viele, die nicht lesen und schreiben können und nicht den Mut haben es zu sagen. Aber man muss es sagen und um Hilfe bitten. Bei den Ärzten gibt es so viele Sachen, die man nicht versteht. Wie soll ich das ohne Hilfe ausfüllen?
Was würden Sie als Fachfrau für das Nicht-lesen-und-schreiben-Können raten?
Ich habe nach der Geburt eine Hebamme gehabt. Sie hat immer zu mir gesagt: »Versuchen Sie selber zu lesen, wenn nicht, machen wir es zusammen«. Das fand ich richtig gut. Im Krankenhaus helfen sie dir fast gar nicht und stellen dich als doof hin. Ich habe gefragt: »Können Sie mir das erklären? Ich verstehe das nicht.« Dann hat die Hebamme geantwortet: »Ich habe keine Zeit zum Vorlesen.« Danach habe ich nie mehr gefragt. Aber sie hat dann im kleinen Zimmer Kaffee getrunken und hatte Zeit. Der Chefarzt hat mich gefragt, da habe ich ihm das alles erzählt. Er war ziemlich sauer auf die Hebamme. Er hat gesagt: »Bei uns gibt es so etwas nicht, da soll genug Zeit zum erklären sein.«
Was wäre, wenn Sie richtig gut schreiben könnten?
Wenn ich schreiben könnte, würde ich sofort alles alleine machen. Ich bräuchte dann weniger Hilfe. Mein Wunsch wäre, keine Betreuer mehr zu haben. Den ganzen Papierkram, Behörden und Ämter, Anträge stellen, das würde ich, ohne lesen und schreiben zu können, nicht schaffen. Schreiben funktioniert nur, wenn ich mir mit dem Handy helfen kann. Aber die Betreuer erledigen alles für mich, aber ich weiß nicht, was passiert, ich weiß eigentlich gar nicht, wie viel Geld da ist und so. Wenn ich frage, sagen sie nur, es ist kein Geld dafür dar.
Wollen Sie vielleicht noch schreiben lernen?
Ja, am liebsten würde ich jetzt damit anfangen. Aber mit Kind ist es schwierig mit einer Lernbegleitung. Es geht nur, wenn das Kind schläft und sonst weiß ich nicht, wohin mit dem Kind.
Was wünschen Sie sich für ihr Kind?
Ich versuche jetzt, mein Bestes zu geben, ich hatte auch schon eine Lernbegleitung. Ich will, dass der Kleine eine gute Ausbildung hat, nicht so wie ich. Ich verdiene mit meiner Arbeit so wenig.
Praktische Tipps für Hebammen
Hinschauen und das Problem erkennen
Anzeichen für Schwierigkeiten beim Lesen und Schreiben
Die Schwangere …
- benötigt Unterstützung beim Lesen und Ausfüllen von Dokumenten
- vergisst Termine, weil sie diese nicht notiert
- beherzigt schriftliche Tipps nicht, weil sie diese nicht lesen kann
- ist in der Nachsorge unsicher, da sie sich nicht selbstständig informieren kann
- bittet um Begleitung bei Behördengängen
- ist in einer finanziellen Notlage, da sie erforderliche Dokumente nicht einreicht oder Rechnungen nicht bezahlt.
Offen ansprechen und konkrete Hilfe anbieten
Zeigen Sie Gesprächsbereitschaft
Nicht gut lesen und schreiben zu können, ist den Betroffenen meist peinlich und unangenehm. Wählen Sie deshalb eine ruhige Gesprächssituation – am besten zu zweit – und nehmen Sie sich etwas Zeit.
Klären Sie auf
Jede/-r achte Erwachsene in Deutschland hat Lese- und Schreibschwierigkeiten. Klären Sie die von Ihnen betreute Frau auf, dass sie mit ihrem Problem nicht allein ist und sich nicht schämen muss!
Machen Sie Mut!
Es ist nie zu spät, lesen und schreiben zu lernen. Machen Sie den Eltern Mut und erklären Sie, wie sich ihr Leben durch besseres Lesen und Schreiben positiv verändern wird: Sie können ihren Kindern vorlesen, gesünder leben und ihre Finanzen besser in den Griff bekommen.
Bieten Sie nächste Schritte an.
Weisen Sie Ihre Klientin auf konkrete Lernangebote hin, zum Beispiel:
Volkshochschulen und andere Bildungsträger bieten bundesweit Alphabetisierungs- und Grundbildungskurse an. Alle Informationen gibt es auch beim ALFA-Telefon – kostenlos und anonym: 0 800 53 33 44 55
Die Informationskampagne »Lesen & Schreiben – Mein Schlüssel zur Welt« vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) soll Erwachsene mit Lese- und Schreibschwierigkeiten darin bestärken, Lernangebote wahrzunehmen. Einfache Sprache und eine Vorlesefunktion gehören dazu. Lern- und Hilfsangebote in Ihrer Region sowie persönliche Geschichten finden Sie unter: > mein-schlüssel-zur-welt.de.
Quelle: Infoblatt für Hebammen des Servicebüros »Lesen & Schreiben – Mein Schlüssel zur Welt« des Bundesministeriums für Bildung und Forschung