Trotz vielfältiger Bemühungen bleiben die Impfraten in Deutschland bei vielen Erkrankungen deutlich hinter den angestrebten Zielen zurück. Deshalb wird auch eine gesetzliche Impfpflicht wieder in die Diskussion gebracht und damit die Frage: Welche Argumente sind schwerwiegend genug, um einen solchen Eingriff des Staates in die Entscheidungsfreiheit des Einzelnen und seine körperliche Integrität zu rechtfertigen?
Jacobson gegen Massachusetts
Das zugrunde liegende Problem ist alt. Vor über 100 Jahren bestätigte der oberste Gerichtshof der USA im Prozess Jacobson gegen Massachusetts das Recht des Staates, Impfungen per Gesetz vorzuschreiben (Parmet et al. 2005). Eine Gemeinschaft habe das Recht, sich vor einer drohenden Krankheitsepidemie zu schützen. Nach Auffassung des Gerichts dürfe der Staat die Freiheit des Einzelnen einschränken, um gut etablierte Public-Health-Maßnahmen durchzuführen.
In dieser Entscheidung wird der ethische Grundkonflikt deutlich: Welche „Eingriffe” in die Entscheidungsfreiheit des Einzelnen sind gerechtfertigt, um die Gemeinschaft vor Infektionskrankheiten zu schützen (Marckmann 2008)? Diese Frage ist heute aktueller denn je. Viele Infektionskrankheiten stellen durch bessere Hygiene und Schutzimpfungen keine akute Bedrohung der Bevölkerung mehr dar, so dass die Notwendigkeit von Impfungen nicht so leicht zu vermitteln ist. Tendenziell werden die Risiken von Infektionen eher unterschätzt, die Risiken der Impfungen aber überschätzt. Dies führt zu unzureichenden Impfraten.
Impfungen als öffentliches Gut
Aufgrund der ab einer bestimmten Durchimpfungsrate der Bevölkerung erreichten Herdenimmunität hat eine Impfung den Charakter eines öffentlichen Gutes (Dawson 2007). Es ist gekennzeichnet durch folgende Eigenschaften:
- Nichtausschließbarkeit: Personen können von dem Gut profitieren, auch wenn sie nicht selbst durch eine Impfung zur Erstellung beigetragen haben
- Nichtrivalität: verschiedene Personen können das Gut konsumieren, ohne dass der Konsum des Einzelnen dadurch eingeschränkt würde
- Unteilbarkeit: öffentliche Güter lassen sich nicht aufteilen und in private Güter überführen
- Abhängigkeit von Kooperation: das öffentliche Gut kann nur durch die gemeinschaftlichen Bemühungen verschiedener Individuen hergestellt werden.
Individuelle Entscheidungen führen bei öffentlichen Gütern in der Regel nicht zu einem sozialen Optimum, wodurch die für eine Herdenimmunität erforderlichen Impfraten häufig nicht erreicht werden. Aus ökonomischer Sicht handelt es sich hierbei um ein Marktversagen, das staatliche Interventionen zur Erreichung der sozial erwünschten Durchimpfungsraten rechtfertigten kann.
Eine Frage der Ethik?
Impfungen haben positive und potenziell auch negative Auswirkungen auf das Wohlergehen von Menschen und sind damit ethisch relevant. Angesichts der positiven Effekte für das geimpfte Individuum und die Gemeinschaft stellt sich die Frage, ob es nicht sogar eine Verpflichtung zum Impfen geben müsste. Begründet werden könnte diese durch die Prinzipien des Nichtschadens und des Wohltuns. Gemäß ersterem ist es geboten, anderen Menschen keinen gesundheitlichen Schaden zuzufügen. Dies ist bei Impfungen der Fall, wenn diese die Übertragung einer schwerwiegenden Infektionskrankheit und damit möglichen gesundheitlichen Schaden für Dritte verhindert. Das Prinzip des Nichtschadens rechtfertigt beispielsweise Quarantänemaßnahmen oder die Influenzaimpfung von Gesundheitspersonal (Marckmann et al. 2013). Bei hohen Durchimpfungsraten verliert es jedoch an Bedeutung.
Der Schutz Dritter durch die Herdenimmunität ist durch das Prinzip des Wohltuns ethisch geboten, da auf diese Weise die Gesundheit von vulnerablen Gruppen geschützt werden kann. Allerdings sind die Wohltunsverpflichtungen schwächer als die Nichtschadensverpflichtungen, weshalb eine Quarantäne eher zu rechtfertigen ist als eine generelle Impfpflicht.
Auch wenn gute Argumente für Impfungen sprechen, so sind nationale Impfprogramm nicht in jedem Fall ethisch geboten. Voraussetzung ist, dass die Impfung effektiv und sicher ist und dabei eine hinreichend häufige Erkrankung mit hinreichend schweren Verlauf verhindern kann. Diese Voraussetzungen sind bei den meisten Infektionen des Kindesalters wie zum Beispiel Masern erfüllt. In jedem Einzelfall ist deshalb zu prüfen, ob diese Voraussetzungen auch tatsächlich vorliegen. Was eine hinreichend häufige Erkrankung mit hinreichend schwerem Verlauf ist, kann vor allem im Grenzbereich kontrovers diskutiert werden. Aus der ethischen Theorie lassen sich hier keine klar definierten Grenzen ableiten. Dabei scheint eine zentrale (nationale) Entscheidung sinnvoll, da
- koordinierte, bevölkerungsbezogene Impfprogramme erforderlich sind
- dies eine effiziente Evaluierung der Impfungen ermöglicht
- die Impfprogramme mit einer einheitlichen Regelung zu Kostenübernahme und Schadensersatz verbunden werden können
- die (potenziellen) Auswirkungen auf die Gesundheit und die Entscheidungsfreiheit des einzelnen eine besondere Legitimation erfordern.
Autonomie und Fürsorge
Wann eine Impfung für die gesamte Bevölkerung oder für bestimmte Gruppen empfohlen werden soll, bedarf klarer Vorgaben. Im Infektionsschutzgesetz (IfSG) regelt § 20 über „Schutzimpfungen und andere Maßnahmen der spezifischen Prophylaxe”, dass die Ständige Impfkommission beim Robert Koch-Institut (STIKO) „Empfehlungen zur Durchführung von Schutzimpfungen” gibt. Im Kommentar zum (IfSG) sind die Kriterien für Impfempfehlungen näher ausgeführt: „Entsprechend der Zielsetzung des IfSG sind dabei besonders solche Schutzimpfungen relevant, die von allgemeiner Bedeutung für die Gesundheit der Bevölkerung sind. Dies ist zum Beispiel der Fall,
- wenn es sich um Schutzimpfungen mit breiter Anwendung und erheblichem Wert für die Gesundheit der Bevölkerung handelt und bundesweit hohe Immunisierungsraten angestrebt werden
- wenn so gut verträgliche und finanzierbare Schutzimpfungen gegen bestimmte Krankheiten zur Verfügung stehen, dass diese Krankheiten aus sozialen und volkswirtschaftlichen Gründen so weit wie möglich zurückgedrängt werden sollen oder auch
- wenn es um den gezielten Schutz besonders gefährdeter Bevölkerungsanteile geht …”
Das zentrale, übergreifende Kriterium der STIKO für Impfempfehlungen ist, ob ein „öffentliches Interesse” für die Impfung besteht. Die ethische Beurteilung dieses Kriteriums hängt wesentlich von gesellschaftlichen Grundwerten ab, philosophisch gesprochen von grundlegenden Vorstellungen des guten Lebens: Was für eine Gesellschaft wollen wir haben? Welche Rolle soll der Staat bei der Sorge um die Gesundheit der Bevölkerung spielen? Wie ist das Verhältnis von Autonomie und Fürsorge in unserem Gemeinwesen zu gestalten?
Erschwerend kommt hinzu, dass das öffentliche Interesse an einer Impfung sich graduell unterscheidet, am Ende aber doch eine klare Entscheidung dafür oder dagegen getroffen werden muss: Soll die Impfung empfohlen werden oder nicht? Wo könnte der Grenzwert liegen für eine Impfung, die gerade noch hinreichend im öffentlichen Interesse ist? Die Anwendung des Kriteriums „öffentliches” Interesse erfordert Urteilskraft. Ein gewisses Konfliktpotenzial bleibt aufgrund des Interpretationsspielraums unvermeidbar. Die Zielsetzung sollte deshalb auch nicht darin liegen, eine konfliktfreie Lösung zu finden, sondern ein Verfahren zu entwickeln, das einen transparenten und sachlich sowie ethisch begründeten Umgang mit gegensätzlichen Auffassungen ermöglicht.
Anforderungen an Impfempfehlungen
Aus ethischer Sicht sollten Impfempfehlungen zwei Hauptanforderungen genügen:
- Die Empfehlungen sollten in einem klar definierten, fairen Entscheidungsverfahren erarbeitet werden. Dies ermöglicht nicht nur eine Legitimation durch Verfahren, sondern vor allem auch eine Kritik und gegebenenfalls Revision von Entscheidungsverfahren und -kriterien sowie von Einzelentscheidungen.
- Die Empfehlungen sollten auf klar definierten, inhaltlichen Entscheidungskriterien basieren, da dies eine inhaltliche Begründung der Entscheidungen ermöglicht.
Nationale Impfempfehlungen sollten im Rahmen eines klar definierten Entscheidungsverfahrens von einer ausdrücklich legitimierten Institution erarbeitet werden. Tabelle 1 bieten eine Übersicht über ethische Kriterien, die Voraussetzung für einen fairen Entscheidungsprozess sind.