Impfungen haben positive und potenziell auch negative Auswirkungen auf das Wohl von Menschen. Sie sind damit auch unter ethischen Gesichtspunkten zu diskutieren. Foto: © imago/Ralph Peters

Liegen Impfungen in der gesamtgesellschaftlichen Verantwortung? Wann sollte eine Impfung als nationales Impfprogramm empfohlen werden? An den Entscheidungsprozess sind ethische Anforderungen zu stellen. Wie ist das praktische Vorgehen, wenn Impfempfehlungen erarbeitet werden?

Trotz vielfältiger Bemühungen bleiben die Impfraten in Deutschland bei vielen Erkrankungen deutlich hinter den angestrebten Zielen zurück. Deshalb wird auch eine gesetzliche Impfpflicht wieder in die Diskussion gebracht und damit die Frage: Welche Argumente sind schwerwiegend genug, um einen solchen Eingriff des Staates in die Entscheidungsfreiheit des Einzelnen und seine körperliche Integrität zu rechtfertigen?

Jacobson gegen Massachusetts

Das zugrunde liegende Problem ist alt. Vor über 100 Jahren bestätigte der oberste Gerichtshof der USA im Prozess Jacobson gegen Massachusetts das Recht des Staates, Impfungen per Gesetz vorzuschreiben (Parmet et al. 2005). Eine Gemeinschaft habe das Recht, sich vor einer drohenden Krankheitsepidemie zu schützen. Nach Auffassung des Gerichts dürfe der Staat die Freiheit des Einzelnen einschränken, um gut etablierte Public-Health-Maßnahmen durchzuführen.

In dieser Entscheidung wird der ethische Grundkonflikt deutlich: Welche „Eingriffe” in die Entscheidungsfreiheit des Einzelnen sind gerechtfertigt, um die Gemeinschaft vor Infektionskrankheiten zu schützen (Marckmann 2008)? Diese Frage ist heute aktueller denn je. Viele Infektionskrankheiten stellen durch bessere Hygiene und Schutzimpfungen keine akute Bedrohung der Bevölkerung mehr dar, so dass die Notwendigkeit von Impfungen nicht so leicht zu vermitteln ist. Tendenziell werden die Risiken von Infektionen eher unterschätzt, die Risiken der Impfungen aber überschätzt. Dies führt zu unzureichenden Impfraten.

Impfungen als öffentliches Gut

Aufgrund der ab einer bestimmten Durchimpfungsrate der Bevölkerung erreichten Herdenimmunität hat eine Impfung den Charakter eines öffentlichen Gutes (Dawson 2007). Es ist gekennzeichnet durch folgende Eigenschaften:

  • Nichtausschließbarkeit: Personen können von dem Gut profitieren, auch wenn sie nicht selbst durch eine Impfung zur Erstellung beigetragen haben
  • Nichtrivalität: verschiedene Personen können das Gut konsumieren, ohne dass der Konsum des Einzelnen dadurch eingeschränkt würde
  • Unteilbarkeit: öffentliche Güter lassen sich nicht aufteilen und in private Güter überführen
  • Abhängigkeit von Kooperation: das öffentliche Gut kann nur durch die gemeinschaftlichen Bemühungen verschiedener Individuen hergestellt werden.

Individuelle Entscheidungen führen bei öffentlichen Gütern in der Regel nicht zu einem sozialen Optimum, wodurch die für eine Herdenimmunität erforderlichen Impfraten häufig nicht erreicht werden. Aus ökonomischer Sicht handelt es sich hierbei um ein Marktversagen, das staatliche Interventionen zur Erreichung der sozial erwünschten Durchimpfungsraten rechtfertigten kann.

Eine Frage der Ethik?

Impfungen haben positive und potenziell auch negative Auswirkungen auf das Wohlergehen von Menschen und sind damit ethisch relevant. Angesichts der positiven Effekte für das geimpfte Individuum und die Gemeinschaft stellt sich die Frage, ob es nicht sogar eine Verpflichtung zum Impfen geben müsste. Begründet werden könnte diese durch die Prinzipien des Nichtschadens und des Wohltuns. Gemäß ersterem ist es geboten, anderen Menschen keinen gesundheitlichen Schaden zuzufügen. Dies ist bei Impfungen der Fall, wenn diese die Übertragung einer schwerwiegenden Infektionskrankheit und damit möglichen gesundheitlichen Schaden für Dritte verhindert. Das Prinzip des Nichtschadens rechtfertigt beispielsweise Quarantänemaßnahmen oder die Influenzaimpfung von Gesundheitspersonal (Marckmann et al. 2013). Bei hohen Durchimpfungsraten verliert es jedoch an Bedeutung.

Der Schutz Dritter durch die Herden­immunität ist durch das Prinzip des Wohltuns ethisch geboten, da auf diese Weise die Gesundheit von vulnerablen Gruppen geschützt werden kann. Allerdings sind die Wohltunsverpflichtungen schwächer als die Nichtschadensverpflichtungen, weshalb eine Quarantäne eher zu rechtfertigen ist als eine generelle Impfpflicht.

Auch wenn gute Argumente für Impfungen sprechen, so sind nationale Impfprogramm nicht in jedem Fall ethisch geboten. Voraussetzung ist, dass die Impfung effektiv und sicher ist und dabei eine hinreichend häufige Erkrankung mit hinreichend schweren Verlauf verhindern kann. Diese Voraussetzungen sind bei den meisten Infektionen des Kindesalters wie zum Beispiel Masern erfüllt. In jedem Einzelfall ist deshalb zu prüfen, ob diese Voraussetzungen auch tatsächlich vorliegen. Was eine hinreichend häufige Erkrankung mit hinreichend schwerem Verlauf ist, kann vor allem im Grenzbereich kontrovers diskutiert werden. Aus der ethischen Theorie lassen sich hier keine klar definierten Grenzen ableiten. Dabei scheint eine zentrale (nationale) Entscheidung sinnvoll, da

  1. koordinierte, bevölkerungsbezogene Impfprogramme erforderlich sind
  2. dies eine effiziente Evaluierung der Impfungen ermöglicht
  3. die Impfprogramme mit einer einheitlichen Regelung zu Kostenübernahme und Schadensersatz verbunden werden können
  4. die (potenziellen) Auswirkungen auf die Gesundheit und die Entscheidungsfreiheit des einzelnen eine besondere Legitimation erfordern.

Autonomie und Fürsorge

Wann eine Impfung für die gesamte Bevölkerung oder für bestimmte Gruppen empfohlen werden soll, bedarf klarer Vorgaben. Im Infektionsschutzgesetz (IfSG) regelt § 20 über „Schutzimpfungen und andere Maßnahmen der spezifischen Prophylaxe”, dass die Ständige Impfkommission beim Robert Koch-Institut (STIKO) „Empfehlungen zur Durchführung von Schutzimpfungen” gibt. Im Kommentar zum (IfSG) sind die Kriterien für Impfempfehlungen näher ausgeführt: „Entsprechend der Zielsetzung des IfSG sind dabei besonders solche Schutzimpfungen relevant, die von allgemeiner Bedeutung für die Gesundheit der Bevölkerung sind. Dies ist zum Beispiel der Fall,

  • wenn es sich um Schutzimpfungen mit breiter Anwendung und erheblichem Wert für die Gesundheit der Bevölkerung handelt und bundesweit hohe Immunisierungsraten angestrebt werden
  • wenn so gut verträgliche und finanzierbare Schutzimpfungen gegen bestimmte Krankheiten zur Verfügung stehen, dass diese Krankheiten aus sozialen und volkswirtschaftlichen Gründen so weit wie möglich zurückgedrängt werden sollen oder auch
  • wenn es um den gezielten Schutz besonders gefährdeter Bevölkerungsanteile geht …”

Das zentrale, übergreifende Kriterium der STIKO für Impfempfehlungen ist, ob ein „öffentliches Interesse” für die Impfung besteht. Die ethische Beurteilung dieses Kriteriums hängt wesentlich von gesellschaftlichen Grundwerten ab, philosophisch gesprochen von grundlegenden Vorstellungen des guten Lebens: Was für eine Gesellschaft wollen wir haben? Welche Rolle soll der Staat bei der Sorge um die Gesundheit der Bevölkerung spielen? Wie ist das Verhältnis von Autonomie und Fürsorge in unserem Gemeinwesen zu gestalten?

Erschwerend kommt hinzu, dass das öffentliche Interesse an einer Impfung sich graduell unterscheidet, am Ende aber doch eine klare Entscheidung dafür oder dagegen getroffen werden muss: Soll die Impfung empfohlen werden oder nicht? Wo könnte der Grenzwert liegen für eine Impfung, die gerade noch hinreichend im öffentlichen Interesse ist? Die Anwendung des Kriteriums „öffentliches” Interesse erfordert Urteilskraft. Ein gewisses Konfliktpotenzial bleibt aufgrund des Interpretationsspielraums unvermeidbar. Die Zielsetzung sollte deshalb auch nicht darin liegen, eine konfliktfreie Lösung zu finden, sondern ein Verfahren zu entwickeln, das einen transparenten und sachlich sowie ethisch begründeten Umgang mit gegensätzlichen Auffassungen ermöglicht.

Anforderungen an Impfempfehlungen

Aus ethischer Sicht sollten Impfempfehlungen zwei Hauptanforderungen genügen:

  • Die Empfehlungen sollten in einem klar definierten, fairen Entscheidungsverfahren erarbeitet werden. Dies ermöglicht nicht nur eine Legitimation durch Verfahren, sondern vor allem auch eine Kritik und gegebenenfalls Revision von Entscheidungsverfahren und -kriterien sowie von Einzelentscheidungen.
  • Die Empfehlungen sollten auf klar definierten, inhaltlichen Entscheidungskriterien basieren, da dies eine inhaltliche Begründung der Entscheidungen ermöglicht.

Nationale Impfempfehlungen sollten im Rahmen eines klar definierten Entscheidungsverfahrens von einer ausdrücklich legitimierten Institution erarbeitet werden. Tabelle 1 bieten eine Übersicht über ethische Kriterien, die Voraussetzung für einen fairen Entscheidungsprozess sind.

Bewertungskriterien

Ein transparenter, fairer Entscheidungsprozess allein reicht aus ethischer Sicht jedoch nicht aus. Darüber hinaus sollte es klar definierte inhaltliche Kriterien geben, an denen sich Entscheidungen über eine Impfempfehlung zu orientieren haben (siehe Abbildung 1, Verweij & Dawson 2004).

Priorität hat bei den Bewertungskriterien die „technische” Qualität der Impfung. Im Rahmen der klassischen Evaluation sind die Wirksamkeit und Sicherheit der Impfung zu prüfen, wobei beides mit ausreichender Evidenz nachgewiesen sein sollte. Auf der nächsten Prioritätsstufe ist der gesundheitliche Nutzen der Impfung zu beurteilen, der vom Schweregrad und von der Häufigkeit der Infektionskrankheit abhängt: Je schwerer der Verlauf und je höher die Prävalenz einer Infektionskrankheit ist, desto größer ist der populationsbezogene Nutzen und je eher ist es gerechtfertigt, eine nationale Impfempfehlung zu geben. Als weiteres Kriterium ist der Schutz vulnerabler Gruppen auf dieser Stufe anzuwenden: Subpopulationen mit einer besonders hohen Exposition oder mit einem höheren gesundheitlichen Risiko können für eine spezifische Impfempfehlung in Frage kommen. Beide Kriterien auf dieser Stufe sind ethisch durch den Schutz von Leben und körperlicher Integrität begründet und haben daher eine höhere Priorität als die Kriterien auf der dritten Stufe. Für diese Kriterien ist eine gesellschaftspolitische Begründung erforderlich, das heißt, es sollte eine explizite (politische) Entscheidung geben, dass diese Kriterien bei den nationalen Impfempfehlungen Anwendung finden sollen.

Das Kriterium „Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung” würde es rechtfertigen, eine Impfempfehlung für solche Personengruppen zu formulieren, die eine besondere Bedeutung für die Aufrechterhaltung des öffentlichen Lebens haben – so im Falle einer Epidemie. Ebenfalls auf dieser Stufe einzuordnen wären ökonomische Auswirkungen, zum einen auf die Gesundheitsausgaben und zum anderen auf die Gesamtwirtschaft, beispielsweise durch den Ausfall von Arbeitskräften.

Empfehlungen für die Praxis

Die Anwendung der Bewertungskriterien sollte wiederum einem klar definierten methodischen Vorgehen folgen (siehe Tabelle 2).

Im ersten Schritt sind die Infektionskrankheit und zum anderen die Impfung auf der Grundlage der verfügbaren wissenschaftlichen Evidenz möglichst genau zu beschreiben. Im zweiten Schritt sind die Kriterien für „öffentliches Interesse” (siehe Abbildung 1) noch einmal im Hinblick auf die untersuchende Impfung zu überprüfen.

Im dritten Schritt erfolgt die Bewertung der Impfung nach den im zweiten Schritt spezifizierten Kriterien. Die Ergebnisse dieser Einzelbewertungen sind dann im vierten Schritt, der Synthese, zu einer übergreifenden Beurteilung der Impfmaßnahme zusammenzuführen. Dabei kann es zu schwierigen Abwägungen kommen, wenn sich aus den einzelnen Kriterien divergierende Schlussfolgerungen ableiten. Diese Abwägungen sollten möglichst transparent erfolgen, die zugrundliegenden Gründe und Argumente sind mit dem Ergebnis zu dokumentieren. Im letzten Schritt ist eine Empfehlung über die Impfmaßnahme zu erstellen.

Ob eine Impfempfehlung ausgesprochen werden soll, wird in Deutschland in der Regel mit Ja oder Nein entschieden, obgleich es ein Spektrum an Argumentationen gibt, das ein unterschiedlich ausgeprägtes „öffentliches Interesse” begründet. Es ist deshalb zu überlegen, ob man nicht verschiedene Empfehlungsstufen unterscheiden sollte, die von „Abraten” bis hin zu einer gesetzlich vorgeschriebene Impfpflicht reichen könnten (siehe Tabelle 3). Zu überlegen ist, ob nicht auch die STIKO ihre Empfehlungen graduieren sollte.

Verantwortung und Transparenz

Nicht jede Impfmaßnahme ist ethisch geboten. Erforderlich ist vielmehr eine sorgfältige Prüfung im Einzelfall, ob eine nationale Impfempfehlung auch wirklich im öffentlichen Interesse ist. Da Impfprogramme das Wohlergehen und die Selbstbestimmung von Menschen beeinflussen, handelt es dabei um ethische Entscheidungen. Sie sollten deshalb nach klar definierten ethischen Verfahren und Kriterien erfolgen. Da die Kriterien bei der fallbezogenen Interpretation immer einen Beurteilungsspielraum bieten, hat die Transparenz des Entscheidungsverfahrens eine besondere Bedeutung. Nur wenn diese formalen und inhaltlichen ethischen Anforderungen an eine Impfempfehlung erfüllt sind, wird sie die Akzeptanz in der Bevölkerung und im Gesundheitswesen finden.

Zitiervorlage
Marckmann G: Impfen und ethische Abwägungen: Im öffentlichen Interesse? DEUTSCHE HEBAMMEN ZEITSCHRIFT 2014. 66 (7): 42–44
Literatur

Dawson, A.: Herd protection as a public good: Vaccination and our obligations to others. In: Dawson, A.; Verweij, M. (Hrsg.): Ethics, Prevention and Public Health. Clarendon Press.Oxford . 160–178 (2007)

Marckmann, G.: Impfprogramme im Spannungsfeld zwischen individueller Autonomie und allgemeinem Wohl. Bundesgesundheitsblatt Gesundheitsforschung Gesundheitsschutz.51(2): 175–83 (2008)

Marckmann, G.; Strech, D.: Konzeptionelle Grundlagen einer Public Health Ethik. In: Strech, D.; Marckmann, G. (Hrsg.) Public Health Ethik. LIT Verlag.Berlin 43–65 (2010)

Marckmann, G.; van Delden, J. J. M.; Sanktjohanser, A. M.; Wicker, S.: Influenza vaccination for health care personnel in long-term care homes: What restrictions of individual freedom of choice are morally justifiable? In: Strech, D.; Hirschberg, I.; Marckmann, G. (Hrsg.): Ethics in Public Health and Health Policy. Concepts, methods, case studies. Springer. Dordrecht. S. 235–250 (2013)

Parmet, W. E.; Goodman, R. A.; Farber, A.: Individual rights versus the public’s health – 100 years after Jacobson v. Massachusetts. N Engl J Med. 352 (7): 652–4 (2005)

Verweij, M.; Dawson, A.: Ethical principles for collective immunisation programmes. Vaccine. 22 (23-24): 3122–6 (2004)

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